Jun 232009
 

Goethe schafft es immer wieder, mich zu überraschen. Erst kürzlich las ich wieder einen Goethe-Satz, der mehr enthält als ganze Regale voll von Büchern zum selben Thema:

Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten.

Wie macht der Mann das? Selbst die Überraschung gerät ja, wenn man sie zu erwarten beginnt, in die Gefahr, ihren Reiz zu verlieren. Jemand also, der immer wieder überrascht, muß über einiges mehr verfügen als bloß die Fähigkeit zu überraschen.

Ich lese Goethe, seit ich denken kann; manches von ihm immer wieder. Er ist der einzige Dichter, der mich durch alle meine bisherigen Lebensabschnitte begleitet hat, der einzige, den ich von Anfang an las und auch heute noch lesen kann. Gewöhnlich wechselt man ja Vorlieben, und manchen Dichter beginnt man unerträglich zu finden, wenn man älter wird. Andere wiederum kann man erst ertragen, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat. Goethe konnte ich immer ertragen, was vielleicht daran liegen mag, daß er sich mir immer wieder neu dargeboten hat.

Aber in dieser Wechselhaftigkeit der Darbietung liegt auch etwas Schwieriges. Wenn man Goethe zwar immer lesen kann, so fragt sich doch, ob man ihn auch immer verstanden hat. Oder ob man ihn nicht vielmehr, wenn man ihn nur von bestimmten Seiten aus anpackt, weniger gut versteht, als wenn man sich ihm von bestimmten anderen Seiten nähert. Vielleicht ist betreffs der Verständnisfrage auch nicht ganz unwichtig, wann man was liest. Wilhelm Meister z.B. oder das Märchen kann man überhaupt nicht würdigen, wenn man selbst noch, mangels Alter, nicht mit sich im Reinen ist. Für diese Lektüre braucht man ein bewußtes Verhältnis zu sich selbst, eine gediegene Vorstellung davon, welches der Platz ist, den man in der Welt einnimmt und einnehmen kann, und nicht zuletzt: Kenntnis der Welt, ohne die man weder die Mannigfaltigkeit des Meister ertragen noch den tiefen Sinn des Märchen, der diese geheimnisvolle Fabel auf sonderbare Weise zusammenhält, verstehen kann. Beim Prometheus-Fragment dagegen oder beim Werther ist es umgekehrt; das erträgt man im fortgeschrittenem Alter kaum noch; an Werther stört das Hypochondrisch-Weinerliche, an Prometheus, daß er sich dauernd in der Attacke zu befinden scheint. Doch wenn man jung ist, spricht einen gerade das an.

Faust geht immer. Sicherlich: Kein Schüler versteht den Faust wirklich, ob er ihn nun im Deutschunterricht oder in seiner Freizeit liest. Aber der Faust hat die seltene Eigenart, auch dem, der ihn nicht begreift, eine Idee von sich zu vermitteln, die – selbst wenn sie an seiner eigentlichen Idee etwas vorbeigeht oder ein wenig unter der bleibt – etwas Treffliches enthält. Es ist nicht möglich, aus dem Faust blanken Unsinn herauszulesen. Irgendetwas tut das Stück mit jedem seiner Leser, und das ist, wie ich meine, in jedem Fall eine Verbesserung.

Goethe auf Augenhöhe zu begegnen ist keine leichte Übung; inhaltlich im Grunde gar unmöglich. Wer weiß schon, was Goethe alles wußte? Doch in der Haltung kann man ihm nahekommen, obgleich auch hier klar ist, daß es nicht jedem gegeben ist, dem Leben mit der gleichen Souveränität und Würde zu begegnen wie Goethe. Die meisten Menschen besitzen nicht den Mut, die Fähigkeit oder einfach die Energie, die klassische Haltung zu der ihren zu machen. Und ein gewisser Teil von diesen Menschen wieder macht aus diesem Makel eine Tugend, das heißt: es gibt eigentlich nur einen Grund, Goethe nicht zu mögen, und das ist der, daß man sich, seiner ansichtig, hin und wieder der eigenen Unzulänglichkeit bewußt wird.

Es gilt überhaupt: Wenn du Goethe nicht magst, liegt die Schuld bei dir, nicht bei Goethe. Sicher, der Goethekult kann zuweilen unerträglich sein – ich selbst gebe hier ein hübsches Beispiel davon –, aber Sonnenwetter ist im August in der Regel auch unerträglich, und dennoch käme keiner auf die Idee, das der Sonne vorzuwerfen, da jeder weiß, wie sehr wir sie brauchen.

Ich habe ein altes Gedicht gefunden, das ich vor zehn Jahren geschrieben habe. In der Zeit war mir noch nicht klar, daß ich nicht zum Lyriker bestimmt bin; ich dichtete munter drauf los. Das Gedicht handelt von Goethe und spiegelt den Geisteszustand wider, den ich um 1999 mein Eigen nennen durfte. Ich nehme indes vorweg, daß ich es hier kaum zu veröffentlichten wagte, wenn es nicht auch einen gewissen beabsichtigten Unterhältungswert besäße:

Bescheidener Beitrag zur Goetheforschung

Hätt Goethe keinen Verstand gehabt,
Und wäre sein Herz nicht verdorben,
Er hätt seinen Herzog wohl umgebracht
Und wäre romantisch geworden.

Hätt Goethe den Kleingeist vom Herzog gehabt
Und kein Herz, was denselben gerühret,
So hätt er es wohl bis zum Zensor gebracht
Und Schiller und Herder zensieret.

Hätt Goethe ein Herz wie sein Faust eins gehabt,
Und dazu noch den Geist des Voltaire,
So hätt er sich um seine Posten gebracht,
Und ward wohl erst revo und dann lutionär.

Doch leider hat Goethe kein Herz gehabt,
Doch einen Verstand wie der Faust.
Ein Herz hätt ihn wohl um den Mammon gebracht,
Und der ging ihm so wie sein Genius nie aus.

So hat er mich öfter zum Zweifeln gebracht.
Heut nennt man ihn klug, und man schimpft ihn verdorben,
Doch hätt er Verstand und ein Herz gehabt,
Mich dünkt, er wär jung gestorben.

Ungeachtet aller Vorzüge, von denen es vielleicht eine Handvoll besitzt, dokumentiert dieses Gedicht doch vor allem einen Mangel. Es zeigt, was am Goetheverständnis das eigentlich Schwierige ist: Goethe nämlich als politische Figur ernstzunehmen. Was an Goethe stets fasziniert, das ist sein poetisches Vermögen, das ist auch sein blendender Intellekt. Das schätzt jeder, sofern nicht eine gewisse Neigung zum Schiefen und Unvortrefflichen seinem Gemüt innewohnt. Doch Goethe auch als agierendes Subjekt seiner Zeit zu begreifen, das gelingt häufig genug selbst Leuten von höchstem poetischen Gespür und ausgeprägtestem Denkvermögen nicht. Es ist nicht möglich, den politischen Goethe zu verstehen, ohne die politischen Eigenheiten seiner Zeit begriffen zu haben, und da seit dem 19. Jahrhundert alle Welt zu glauben scheint, daß der Absolutismus in der Entwicklung der Weltgeschichte ungefähr so unnötig war wie Uwe Johnson in der des Romans, ist es auch kein Wunder, daß Goethe als politischer Akteur seiner Zeit gemeinhin nicht verstanden wird.

Auch ich hatte damals, als ich die Verse schrieb, vom Absolutismus keinen Begriff. Natürlich hatte ich eine entschiedene Abneigung gegen den Feudaladel, aber ich hielt den absoluten Monarchen allen Ernstes für dessen willfähriges Werkzeug. Auch mit der klassischen Haltung hatte ich meine Probleme. Die Hinwendung zur Objektivität, weg von der unbedingten Willensfreiheit und hin zum Gesetz, worauf sich die Transformation vom Sturm und Drang zur Klassik gründet, hatte meinen Beifall. Ordnung statt Chaos – sowas verstand ich auf Anhieb. Aber ich begriff beim besten Willen nicht, warum die Hinwendung zur Klassik eine Wegwendung vom Oppositionsgeist unvermeidlich machte. Wieso konnte Goethe, fragte ich mich damals, nicht revolutionär und objektiv zugleich sein? Daß die revolutionäre Haltung wesentlich subjektiv ist und daß zur klassischen Haltung auch die bewußte Resignation (die Einsicht in die Notwendigkeit, die Erkenntnis dessen, was innerhalb der Zeitumstände möglich ist) gehört, war ein Gedanke, den ich damals noch nicht zur Verfügung hatte. Ich kannte beide Seiten, aber ich spürte den Widerspruch zwischen ihnen nicht.

  6 Responses to “Goethesdienst”

  1. Wenn wir in der Natur Pantheisten, in der Kultur Polytheisten und in der Moral Monotheisten sind – in welcher Kategorie sind wir dann Atheisten?
    Jetzt sagen Sie nicht: im Glauben. Sonst fall ich noch von Ihnen ab wie der Apfel vom Stamm.

  2. Und ich bin nun Sir Isaac, der im Schatten des Baumes weilt, bereit, seine Rübe hinzuhalten, so der Apfel, sich daran macht, den Erdboden anzusteuern, auf daß er (der Sir) begreife, was er ohnedies nicht begriffen hätte.

    Pantheismus, verehrte Dame, ist nur ein anderes Wort für Atheismus. Oder sagen wir besser: klug verstandener Atheismus kann nichts anderes sein als Pantheismus.

    Der Pantheismus stellt die Beheuptung auf, daß das Göttliche das schlechthin Wahre, das Absolute ist. Somit gehen Gott und das Sein in seiner allgemeinsten Bestimmung eine Identität sein. Wo aber Gott einfach als identisch mit der Welt gesetzt wird, wird er aus der Welt ausgeschlossen. Man erhält einen Gottesbegriff, an dem kein Platz für Irrationales mehr ist. Gott ist die Welt, und folglich ist er nicht in der Welt. Er kann dort so wenig sein, wie die Welt in sich selbst sein kann. Wenn Gott für das Universelle oder Absolute steht, ist das im Grunde die Aufhebung des Gottesbegriffs. Genau das scheint mir der tiefere Sinn der Theologie solcher Philosophen wie Spinoza, Leibniz und Hegel zu sein. An der Theologie dieser Philosophen ist kein Funken Irrationalität.

    Goethe hielt übrigens nicht wenig von Hegel, war aber vor allem von Spinozas Philosophie angetan. Und wenn ich die Stelle oben ins Auge fasse, bleibt vielleicht noch anzumerken, daß Goethe den Begriff der Natur oft auch über das bloß Physische oder Biologische hinaus benutzte, im ontologischen Sinn.

  3. Die Wahrheit ist nicht absolut. Das ist Atheismus.

    Alles andere – Leibniz, Spinoza, Goethe – sind die ehrenwerten, aber nutzlosen Versuche, GOtt in irgendeiner Form hinüberzuretten. Eine Anstrengung, die ihrerseits viel Gutes und Kluges zeitigte, aber ihren eigentlichen Zweck ganz und gar verfehlt hat.

    Spinoza ist übrigens sehr lesbar. Große Klarheit. Dagegen sind Leibniz und Hegel fürchterlich verworren. Goethe hat sich Mühe gegeben.

    Atheisten sind wir, wenn wir ehrlich sind.

  4. Was Sie sagen, ist nicht verkehrt, dennoch ziehe ich es vor, die Sache in einer etwas anderen Perspektive zu betrachten.

    Es handelt sich bei den drei Philosophen nicht um den Versuch, Gott „in irgendeiner Form hinüberzuretten“. Was diese Philosophen vielmehr begriffen haben, das ist, daß die Theologie und der Gottesbegriff von Beginn an einen rationalen Kern hatten. Diesen Kern (und nicht die Hülle) zu retten, das war ihr Versuch. Im Pantheismus wird das Irrationale abgestoßen, und der rationale Kern ist es, der aufbewahrt wird. Und aufbewahrt werden muß er, weil es nicht möglich ist, das Wahre oder das Sein anders als absolut zu denken. Wir brauchen einen höchsten Begriff von Wahrheit, der das bezeichnet, was schlechthin der Fall ist, was das Gesamt aller objektiven Gegebenheiten ausmacht. Da dieses Gesamt ein Miteinander unvereinbarer und überdies sehr zahlrreicher, wenn nicht gar unendlicher Bestimmungen ist, ist es nicht möglich, die Sache vollständig zu bestimmen. Aber der Begriff selbst wird gebraucht, weil er unser Denken zusammenhält und verhindert, daß wir uns in der Sinnlosigkeit des radikalen Relativismus und Skeptizismus verlieren.

    Die Funktion des Gottesbegriff war philosophisch genau die, dem menschlichen Verstand, der von endlicher Natur ist und der nur mit endlichen Bestimmungen arbeiten kann, Abhilfe zu schaffen; die Lücke zwischen dem endlichen Stand des Wissens und der Unendlichkeit des Seins zu füllen. Der Gottesbegriff war historisch noch vieles mehr, aber der Pantheismus hat ihn auf diese eine, sehr erhaltenswerte Funktion beschränkt. Man kann sich natürlich darüber streiten, ob es überhaupt nötig war, diesen Begriff auch dann noch Gott zu nennen. Aber das ist nur eine semantische Frage; der begriffliche Inhalt – das Absolute – ist, worauf es ankommt. Man soll den Charakter von Philosophien nach ihrem Inhalt und nicht nach ihrer Wortwahl bestimmen.

    Um noch eine Differenz zwischen Hegel, Spinoza und Leibniz zu machen. Die Theologie von Leibniz ist noch eine echte Theologie, obgleich auch er schon philosophisch ein Atheist ist (ein Atheist eben im Inhalt, nicht in der Sprache). Spinozas Philosophie ist sehr vernünftig, aber aufgrund ihrer Schwächen im epistemologischen Bereich auch sehr angreifbar. Fichte hat einmal treffend über Spinoza bemerkt: Wenn die Ontologie, die er behauptet, wirklich stimmte, dürfte er (Spinoza) sein Wissen über sie (die Ontologie) gar nicht besitzen können. Hegel wiederum hat die gesamte Erkenntniskritik der Kant-Epoche durchlaufen und ist in dieser Frage gut aufgestellt. Sein Gottesbegriff ist gewissermaßen auch pantheistisch, aber man muß auch berücksichtigen, daß er dem Gottesbegriff seinen Platz vor allem historisch zuweist. Die Theologie, betont Hegel, hat denselben Gegenstand wie die Philosophie, aber sie arbeitet mit einem anderen Verfahren. Hegel anerkennt, was es an der Religion anzuerkennen gibt, weil er zur Geschichte überhaupt stets ein affirmatives Verhältnis besitzt, worin es darum geht, das Aufhebenswerte aufzuheben, aber Hegel arbeitet mit einer anderen Methode als die Theologie, der er eindeutig einen prä-philosophischen Platz zuweist.

    Ein kurzes Wort noch zur Klarheit der erwähnten Philosophen: Spinoza ist natürlich leichter zu rezipieren als Leibniz und Hegel. Er hat ja auch die naivste Philosophie der drei (und das liegt nicht einmal an ihm, sondern daran, daß es komplexere Philosophien als Hegels und Leibniz‘ eigentlich kaum gibt). Weder Hegel noch Leibniz sind „verworren“; freilich manchmal verwirrend. Aber dieses Verwirrende liegt einfach in der Schwierigkeit des Gegenstandes und in ihrer Philosophie, die dieser Schwierigkeit gerecht zu werden sich müht. Es ist nicht die Aufgabe der Philosophen, ihre Philosophie danach auszurichten, wie gut sie verstanden wird. Der Philosoph ist der Wahrheit verpflichtet, nichts anderem.

  5. […] by nachdenklichekrankenschwester on Juni 30, 2009 Felix Bartels hat mir durch seinen Blog-Eintrag “Goethesdienst” ein altes Vorhaben wieder ins Gedächtnis gerufen. Dieses, ein kleines Piece zu verfassen, wie sich […]

  6. […] von ihm wohl nie geschrieben worden. Unter anderem auch einige treffende Überlegungen darüber, was Goethe groß macht. Oder diese Ablehnung des Begriffes “Kulturindustrie”, die der kritischen Theorie […]

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