Mai 182010
 

Das Nachdenken über Sitten und Gebräuche hat immer zwei Seiten, eine theoretische, die danach fragt, woher dieser oder jener Brauch historisch und kulturell kommt, und eine praktische, auf der das Denken der Frage nachgeht, wie gut die Bräuche sind und wohin, wenn man sie ausübt oder nicht ausübt, unsere menschliche Entwicklung geht. Beinahe alle Fehlleistungen, die Kommentatoren bei der Beschäftigung mit sittlichen Fragen unterlaufen, rühren aus der ungleichen Verteilung des Denkens auf diese beiden Seiten. Die Frage nach der Welt, wie sie ist, und die Frage nach der Welt, wie sie sein soll, verhalten sich in aller Regel gegenläufig, und der gemeine Verstand liebt das Denken in Widersprüchen nicht. Er will es einfach und will es rein. Also entscheidet er auch bei der Beurteilung bestimmter Sitten nach seinen ohnehin vorhandenen Neigungen. Ein Brauch ist demnach entweder schlecht und somit durch keinerlei historische Betrachtung zu entschuldigen, oder aber historisch bedingt, und dann verbiete sich ein Werturteil von selbst. So sehr beide Zugriffe einander entgegenstehen, sie haben gemein, dass sie eine Erklärung immer gleich für eine Rechtfertigung halten.

Nicht weniges hängt bei der Entscheidung, ob nun ein ganz bestimmter Brauch schlecht oder historisch bedingt sei, davon ab, wie das urteilende Subjekt zu seinem eigenen Kulturkreis steht. Ein christlich-konservativer Mensch wird alle (gegenwärtigen) Bräuche des Abendlandes für gut und unverzichtbar erklären, während er die Mehrheit der Bräuche des Orients für schlechthin verderblich hält. Ein linker, respektive links-liberaler Mensch verhält sich dagegen umgekehrt. Die Negation des Gegenwärtigen (die bei ihm immer absolut ist und nie bestimmt sein kann) zwingt ihn dazu. Ein waschechter Linker ist daran kenntlich, dass er mit Eifer für die Freiheit des Islams kämpft, auch hierzulande seine Frauen zu unterdrücken, und mit demselben Eifer dann die bürgerliche Ehe im abendländischen Kulturkreis als bloßes Relikt desavouiert. Dass die Ehe, wie sie im Okzident von heute modelliert und juristisch bestimmt ist, ein Ausdruck der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist (indem sie nämlich beide Seiten rechtlich gleichstellt, sie gar zu Rechtsvertretern der je anderen ernennt und im Fall der Scheidung die stärkere Partei zum Unterhalt der schwächeren zwingt), spielt bei derartigen Überlegungen keine Rolle. Denn die Ehe, so weiß das Sektenhirn, ist ein Rudiment der patriarchalischen Klassengesellschaft, und was von dort kommt, muss – gleich, welchen Wandel es seitdem vollzogen hat – schlecht sein. Umgekehrt muss alles, womit diese Gesellschaft in Konflikt gerät, Unterstützung erfahren, denn auch dies weiß das Sektenhirn, dass der Feind seines Feindes unbedingt sein Freund sein müsse. So verteidigt der linke Kritiker also das Morgenland gegen das Abendland mit der Begründung, dass das Abendland einst ebenso unerfreuliche Zustände sein Eigen nannte wie das Morgenland noch heute.

Man merkt: Um Inhalte geht es bei der Sache überhaupt nicht; es geht um Wohlfühlzonen. Derartiges Denken mit zweierlei Maßstab ist aber nur bedingt Ausdruck einer schlechthin gestörten Bewusstseinslage, sondern eben und leider die Weise, in der der gemeine Verstand, der zu einem einheitlichen Weltbild ab einem bestimmten Umfang seines Wissens nicht mehr fähig ist, die Wirklichkeit begreift. Mag er nun affirmativ oder negativ gestimmt sein; letzteres gereicht gewöhnlich zu den größeren Fehltritten. In der Tat hat die Fähigkeit zur Negation mit dem Denken in Widersprüchen nicht mehr zu tun als die Fähigkeit zur Affirmation. Die Affirmation, auf sich allein gestellt, ist nur ein Schatten des Denkens. Und die isolierte Negation ist dann der Schatten dieses Schattens. Weise am Weisen ist seine Fähigkeit zur Vermittlung.

Ich rede nicht ohne konkreten Anlass. Was mich bewegt, ist die Entscheidung des Parlaments von Belgien, das öffentliche Tragen der Burka unter Strafe zu stellen. Ähnliches bahnt sich derweil auch in Frankreich an. Ich versuche, wie wohl deutlich geworden, bei meinen Urteilen stets beides, die historische Verumständung und den transzendenten Wert des jeweiligen Brauchs, seine Ursachen und seine Folgen also, zu berücksichtigen. Die Einsicht in das Unvermeidliche schafft Versöhnung mit dem Gegenwärtigen. Auch weiß ich wohl, wenn ich Herder folge, dass eine jede Kultur ihr eigenes Fundament und ihren eigenen Klang hat, dass es also kaum statthaft ist, einen fremden Ort von einem anderen Ort aus als ihm selbst zu beurteilen. Man soll ja durchaus jede Epoche zunächst und vor allem an ihren eigenen Bedingungen messen. Und doch liegt in dieser rein theoretischen Haltung die Gefahr, alles zu verstehen und zu entschuldigen. Der Mensch ist das Tier, das will. Er allein sieht die Welt nicht ausschließlich, wie sie ihm erscheint, sondern sieht an ihr auch, wie sie sein soll. In diesem Sollen drückt er sein eigenes Wesen aus, und eine Betrachtung der Weltgeschichte zeigt, dass es in ihr ganz offenkundig nicht allein darum geht, dass Dinge sich aus objektiven Gründen ereignen, sondern dass auch die Geschichte selbst eine Art Gang zum Menschlichen ist. Sie mag dabei sprung- und wechselhaft sein, sich innerhalb ihres Gangs auch einmal zurückentwickeln, aber aufs Ganze gerechnet wurde sie bislang stets nur erträglicher und menschenähnlicher. Es lebt sich heute vergnüglicher als im Mittelalter, und in der Antike war man fröhlicher als zu jenen grauenhaften Zeiten der Urgesellschaft, die nur ein Romantiker wie Rousseau als eine Zeit der Idylle und des Friedens missdeuten konnte.

Indem der Mensch also an einen geschichtlichen Stoff mit dem Anspruch des Menschlichen herantritt, ihn entsprechend beurteilt und im Fall der Fälle sein Ins-Nichts-mit-ihm ausspricht, kann er, selbst wenn er irrt, nie ganz irren. Besser jedoch, er irrt nicht. Der von beschränkten Fortschrittlern immer wieder in den Verdacht der Fortschrittsfeindlichkeit gesetzte Hegel schreibt 1817:

»Altes Recht und alte Verfassung sind ebenso schöne, große Worte, als es frevelhaft klingt, einem Volke seine Rechte zu rauben. Allein ob das, was altes Recht und Verfassung heißt, recht oder schlecht ist, kann nicht aufs Alter ankommen; auch die Abschaffung des Menschenopfers, der Sklaverei, des Feudaldespotismus und unzähliger Infamien war immer ein Aufheben von etwas, das ein altes Recht war.«

Ich war, um zur Sache zu kommen, schon ein wenig erstaunt – in dem Grade, in dem man über Dinge erstaunt sein kann, die man eigentlich erwartet hat, deren Absurdität aber doch so groß ist, dass man, wenn sie dann eintreten, doch nicht anders kann als aufzumerken – ich war also routiniert überrascht, dass ausgerechnet von der Linken, deren Zugang zur Wirklichkeit doch eher der kritische, also der subjektive, eher urteilende als erkennende, ist, jenes Verbot mehrheitlich kritisiert wurde. Der Brauch der Burka, der ja selbst innerhalb der Umma eher Ablehnung als Zustimmung genießt, widerspricht einigen Zielen, die die Linke für unverzichtbar erklärt hat, etwa der Freiheit des Einzelnen, der Gleichheit der Menschen und der Beseitigung der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts.

Kann die Ablehnung dieses Verbots seitens der vieler Linker tatsächlich ihren einzigen Grund darin haben, dass es mit dem belgischen Parlament eine westeuropäische und also imperialistische Institution war, die es ausgesprochen hat? Es scheint so. Kein Zweifel, dass die Linke, einmal angenommen, der feudale Brauch des Rechts der ersten Nacht hätte sich, wie auch immer, bis in unsere Tage gerettet und wäre in West- und Mitteleuropa eine zwar nicht eben gern gesehene, aber doch gestattete Gepflogenheit, geschlossen und ohne zu zögern dem gesetzlichen Verbot dieses Brauchs würde zugestimmt haben, sobald die Möglichkeit zum Verbot auch nur greifbar war. Im Fall der Burka tut sies nicht.

Mein Vergleich sei anachronistisch? Mittelalterliche Bräuche passen nicht in unser Zeitalter und zum Niveau, das unsere Gesittung heute erreicht hat? Ja, sehen Sie, genau das ist der Grund, aus dem ich rate, in Bezug auf die Burka von jenem Herderschen Relativismus, der einfach alles gestattet, weil es irgendwo irgendwann Gepflogenheit war, ein wenig mehr Abstand zu nehmen, als man als vielduldender Freund der Menschheit sich angewöhnt hat. Es gibt gute Gründe, die Burka als einen Grenzfall zu betrachten. Anders als das Minarett ist sie kein harmloses Element ausgeübter Religion, das zu gestatten natürlich keine Verhandlungssache, sondern eine Selbstverständlichkeit ist. Und anders als das Kopftuch ist sie nicht bloß ein Symbol der Unterdrückung, sie ist selbst Unterdrückung, ein reales Element zur Unterwerfung des weiblichen Geschlechts. Sie erniedrigt die Frauen, indem sie sie in ein mobiles Gefängnis zwingt, dem sie allein innerhalb ihrer immobilen Gefängnisse (den Wohnungen ihrer herrschenden Männer) entrinnen können. Sie setzt die Frauen in einen minderen Status, verhindert ihren gesellschaftlichen Verkehr, den Austausch mit anderen als bloß ihresgleichen. Sie hindert schließlich die betroffenen Frauen daran, einem Grundbedürfnis nachzukommen, das nicht spezifisch kulturell, sondern allgemein menschlich ist: dem Wunsch, sich herzuzeigen als das, was man ist bzw. als das, was man scheinen will. Dieser Beschnitt des Bedürfnisses nach Individualität und Sich-Herzeigen ist vielleicht der am schwersten zu greifende, aber er ist doch trotzdem nicht weniger eine Beschneidung des Menschlichen als die zuvor genannten Seiten dieser Unterdrückung. Die Überwindung dieses Brauchs wäre somit für die Betroffenen im doppelten Sinne des Wortes eine Entdeckung des Menschlichen.

Natürlich kann kein Zweifel hinsichtlich der Motive jener nicht nur belgisch und französisch, sondern tatsächlich übergreifend europäisch argumentierenden Politiker bestehen, die gegenwärtig das Verbot durchzusetzen trachten. Sie betrachten den Islam vom Standpunkt des Christentums, mit den Augen des Konkurrenten also, der dort siegen will, wo es der Islam gegenwärtig tut. Und sie sprechen von der christlich-abendländischen Kultur, ganz so, als sei nicht eben diese Kultur, deren Wurzeln nebenbeigesagt bis ins antike Griechenland und nicht nur bis zu Paulus zurückreichen, in ihrem heutigen Bestand das Resultat eines mühevollen Kampfes gerade auch gegen diese Religion und ihre Institutionen. Dass das Christentum heute dem Islam als die aufgeklärtere, offenere und gesittetere Religion entgegentreten kann, als eine Religion, die sich dem Weltlichen nicht dumpf entgegenstellt und deren ideeller Gehalt von den größten Denkern der Neuzeit (Spinoza, Leibniz und Hegel) vermittels nichtreligiöser Mittel offenbar gemacht wurde, verdankt es weniger sich selbst als vielmehr dem Umstand, dass ihm dies mühevoll von außen, mit philosophischen und politischen Mitteln, abgerungen wurde.

Unbetroffen von solchen Historika bleibt indes ein praktischer Vorgang im Hier und Jetzt. In der Politik geht es nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft. Nicht Gründe zählen, sondern Folgen. Jedes Mittel, das Gewünschtes herbeiführt, ist recht, gleich, von welcher Seite es kommt. Der muss schon ein ausgemachter Narr sein, der einen Akt des Fortschritts ablehnt, weil die Subjekte, die diesen Akt zur Durchführung bringen, ihn aus den falschen Beweggründen ins Werk setzen. Wann, ließe sich fragen, wäre ein Fortschritt jemals von Akteuren durchgesetzt worden, die diesen Fortschritt im vollen Umfang seines Ernstes begriffen hätten? Und ehrlich: Begreift man denn auf der Linken den Fortschritt tatsächlich besser als in jener christlich-abendländischen Gefühlswelt, die sich dem Erhalt des Bestehenden, was immer das gerade sei, verschrieben hat? Wenn ich wesentlich öfter über die Linke schimpfe als über das rechte Lager, dann weil die Sorgen der Linken auch die meinen sind. Nur an dem, was man veränderbar und verändernswert glaubt, mäkelt man herum. Mit amusisch-verstockten Christdemokraten, die sich auf eine »christliche Leitkultur« berufen, ohne in ihrem Leben eine Zeile Goethe oder Hegel, Luther oder Schleiermacher gelesen zu haben, gibt es gar nichts zu bereden. Ein anderer Grund der Ungleichverteilung meines Tadels liegt allerdings darin, dass die Linke zu hirnernen Fehlkonstruktionen neigt, wie sie das rechte Lager nur selten nötig hat. Im simpel Affirmativen ist alles klar und ohne Geheimnis. Die unbestimmte Negation kommt immer von hinten durchs Knie. Ich bin noch beim Thema und will hiervon im folgenden zwei Beispiele geben: zwei Argumente, die unter den Äußerungen der letzten Tagen besonders häufig zu vernehmen waren. Das erste Argument richtet sich gegen das Ziel, das zweite gegen die Methode des Verbots. Es ist nicht schwer, beide zu entkräften.

Der liberale Irrsinn hat einige Kommentatoren dazu gebracht, die Behauptung aufzustellen, das Verbot der Burka sei eine Beschneidung der Freiheit; man nehme den Frauen damit das Recht zu entscheiden, in welcher Kleidung sie sich in der Öffentlichkeit zeigen. Dieses Argument funktioniert weder theoretisch noch praktisch. Weiterdenkende wissen, was es mit dem Begriff der Freiheit auf sich hat. Es geht in der Wirklichkeit nie schlechthin zwischen Freiheit und Unfreiheit. Jede Wahl, die ein Subjekt trifft, ermöglicht ihm Wege und verschließt ihm zugleich andere, denn einen Weg zu gehen bedeutet immer, einen anderen nicht gehen zu können, und insbesondere, wo es zwischen Menschen hin und hergeht, ist die Freiheit des einen oft die Unfreiheit des anderen, setzt die Befreiung des einen die Beschneidung der Freiheit des anderen voraus. Die Freunde der freien Kleiderwahl stellen sich, als ob bei den Burka tragenden Frauen ein Zustand idyllischer Freizügigkeit bestehe, in dem die betreffenden Damen ihre Kleider einfach nach ihren eigenen Bedürfnissen bestimmen, und daß das Gesetz gegen das öffentliche Tragen der Burka diesen Zustand der Freiheit abschaffe. Aber die Frauen, um die es hier geht, werden in ihren familiären Kreisen unterdrückt und gezwungen zu jenem entwürdigenden Brauch. Das Verbot beschneidet nicht die Freiheit der Frauen, sondern die Freiheit der Männer, ihre Frauen weiterhin zu unterdrücken, richtet sich gegen eine Freiheit also, die eine Unfreiheit enthält. Es ist schlicht handlangerischer Unsinn, diesen Zustand der äußersten Unfreiheit zum Zustand der Freiheit zu erklären, um die Bekämpfung dieser Unfreiheit (die natürlich einen Zwangscharakter hat und haben muss) dann selbst als Unfreiheit deklarieren zu können. In Wahrheit kämpfen hier zwei Formen von Unfreiheit gegeneinander: die staatlich bestimmte Unfreiheit und die gesellschaftlich bewirkte Unfreiheit. Es geht also nicht Freiheit gegen Unfreiheit, sondern Knechtung gegen Verbot der Knechtung. Und wenn man die Sache auf diese Weise sieht, verschwindet auch die Faszination jenes abstrakt gefassten Begriffs von Freiheit, der nur dann in seiner Reinheit bestehen bleibt, wenn man ihn nicht dem Vergleich mit der Wirklichkeit aussetzt. Dann geht es nämlich endlich um Inhalte, und man muss sich entscheiden, in was für einer Welt man leben möchte: in einer, die die Unterdrückung von Frauen gestattet, oder einer, die sie verbietet.

Als Derivat dieses Freiheits-Arguments gerierte sich letzthin die Behauptung, dass die betroffenen Frauen oftmals freiwillig und aus eigenem Bedürfnis die Burka tragen. Demnach soll man also die Unterdrückung auch weiterhin gestatten, in der Annahme, dass wenige, einige oder etliche der Unterdrückten unterdrückt sein wollen. Wer so viel Unterdrückung gestattet, wird wohl auch mir einen weiteren kleinen Exkurs gestatten. Im Gegensatz zu anderen quäle ich ja nicht die Damenwelt, sondern nur meine Leser. Exkurs also zur Subjektivität unterdrückter Menschen. Man muss nicht einmal viel von Psychologie verstehen oder gar die soziologische Studie zu Winston Parva kennen, um wissen zu können, dass auch das Herr-Knecht-Verhältnis eine Figuration von fest bestimmten Rollen ist und dass Anpassung, auch geistige, zu den von der Mehrheit der Unterdrückten benutzten Überlebensmitteln zählt. Anpassung hindert die Unterlegenen daran, verrückt zu werden und vollends an ihrer Lage zu verzweifeln. Anpassung ist das naturgemäße Recht der Schwachen. Die Notwendigkeit des Fortschritts bleibt hiervon aber unbetroffen. Man höre sich heute in den Werkhallen eines beliebigen Automobilherstellers um, man frage die Pauper von heute nach ihrer Lage, man frage die bankrotten Kleinunternehmer mit dem gescheiterten Traum von der Selbständigkeit; wen immer und wo immer man fragt, man wird mehrheitlich die Gedankenbilder und Meinungen einfangen, die heute vorherrschen – einerseits naturläufig im Sinne des falschen Bewusstseins, jener Camera obscura, von der Marx spricht, anderseits aufgegriffen und absichtsvoll forciert durch interessierte Kreise. Die Bewusstseinsindustrie (Zeitungen, Funkmedien, Internet) trägt das ihre dazu bei, dass systemkompatible Ideologien selbst von denen bereitwillig aufgenommen werden, die in jenem System am wenigsten zu lachen haben. Die technischen Mittel aber verstärken das Unvermeidliche bloß, sie bringen es nicht hervor. Tatsache nämlich bleibt, dass es den meisten Menschen weder von der Kraft noch vom Kopf her gegeben ist, gegen ihre Umwelt zu leben, dass die Mehrheit der Menschen also ganz natürlich dazu neigt, die Denkweisen, die in ihrem zeitlich-örtlichen Umfeld vorherrschen, anzunehmen. Ginge es beim Fortschritt allein um diese Subjektivität von Unterdrückten, es hätte nie ein Meter Bewegung in der Geschichte stattgefunden. Auch die große Mehrheit der Sklaven des antiken Griechenlands wird kaum anders gedacht haben, als es ihnen von ihrer Umgebung aufgezwungen wurde. Es hat durchaus etwas Komisches, wenn routinierte Kritiker des kapitalistischen Systems, die gewohnt sind, für die Rechte von Menschen zu streiten, die nichts von ihrem (antikapitalistischen) Kampf wissen wollen, in betreff der Burka auf einmal ihre große Rücksicht auf das von widrigen Umständen und veritabler Unterdrückung deformierte Bewusstsein der unterdrückten Frauen entdecken – ganz so, als täten sie es diesen Frauen zuliebe, obgleich sie in Wahrheit nur jener Deformation einen Dienst erweisen.

Das andere Argument, das die letzten Tage öfter zu vernehmen war, stellt die Methode des gesetzlichen Verbots als solches in Frage. Man gestand zu, dass die Burka in abendlichen Kulturkreis nicht erwünscht ist, merkte aber an, dass ein Verbot des öffentlichen Tragens der Burka wirkungslos oder gar kontraproduktiv sei. Auch dieses Argument ist nicht unangreifbar. Ich wohnte einmal einer Diskussion zwischen zwei Freunden bei. Der eine, ein vielduldender, attackierte den Sinn des Urheberrechts. Er argumentierte, die technischen Möglichkeiten der Vervielfältigung von Schriften mache das Urheberrecht obsolet, weil es heute jeder mit etwas Knowhow und Aufwand unterlaufen könne. Die Antwort des anderen bestand in einem Satz: Sie glauben gar nicht, was man so alles verbieten kann. Und später in der Unterredung fügte er hinzu: Wann haben wir eigentlich angefangen, den Dingen zu überlassen, uns zu sagen, was wir wollen? – Sie erinnern sich, was ich oben sagte: Der Mensch ist das Tier, das will. Wenn er sich das nehmen lässt, was ihn ausmacht, ist das nicht weniger als eine Entmenschlichung, ein Tod vor dem Tod. Ich stamme aus der DDR und kann daher naturgemäß mit dem Konzept des Verbots viel anfangen. Ich halte es für ein bewährtes Verfahren, Dinge, die man aus der Welt haben will, zu verbieten. Ich war allerdings nicht schlecht erstaunt, als ich bei Max Goldt einen Text mit dem Titel »Staat, misch dich nur ein« las. Am besten, man liest ihn ganz. Ich gebe hier nur die scharfe Stelle dieses zauberhaften kleinen Werks wieder:

»Mir gegenüber befand sich ein sympathischer Mann, ein Mann des Wortes, der in seinem Leben gewiss schon von manch feurigen Gedanken heimgesucht worden war; zum Thema Rauchen äußerte er allerdings einen Satz großer Bekanntheit, den ich hier einmal als linksliberales Bequemlichkeitssprüchlein sorgsam diffamieren möchte, nämlich den Satz »Verbote bringen überhaupt nichts«. […] Es bedarf keines großen Pfiffikus, sich Verbote in Erinnerung zu rufen, die alles andere als »überhaupt nichts«, nämlich sehr viel bringen, üblicherweise weit mehr als Ermahnung und Aufklärung. Gesetzbücher und sonstige Regelwerke, bis hinunter zur Hausordnung, sind nicht zuletzt Kulturleistungen. Ist es nicht wunderbar, dass man nachts um vier in der Wohnung herumgröhlen nicht nur bitte nicht soll, sondern sonnenklar und unabstrakt nicht darf? Einige Verbote gehören gar zum Kühnsten, Klügsten, Taktvollsten und Kostbarsten, das die Menschheit je ersonnen hat, und ich halte eine gewisse Vermehrung der Kostbarkeiten für wünschenswert.«

Ich habe in Max Goldt immer einen Virtuosen der kleinen Dinge, einen Meister des Alltäglichen gesehen, stets – das war gattungs- & stoffbedingt – eine Handbreit unter der Genialität. Hier entfaltet der passionierte Raucher Goldt eine Argumentation zugunsten eines Rauchverbots, die zeigt, dass die zur Gewohnheit gewordene Lust dieses Autors, stets das Unerwartete zu denken, gelegentlich auch in die Mitte führen kann, zu einen Ort, den die Gegner des Burka-Verbots meiden wie der Teufel das Weihwasser oder der Mullah die Jyllands-Posten. Es wird argumentiert, dass das Verbot die Lage für die Burka-Trägerinnen verschlimmere. Durch das Verbot des öffentlichen Tragens geraten die Frauen erst recht unter Druck, da ihnen nun von ihren Männern nicht mehr gestattet werde, das Haus zu verlassen. Ohne der argumentativen Struktur das Geringste anzutun, könnte man ebenso argumentieren, dass das Verfahren des Strafvollzugs die Kriminellen, indem es sie im Gefängnis ballt und einen Mikrokosmos der Kriminalität entstehen läßt, nur weiter in die Kriminalität treibt, ihrer Inhaftierung und Bestrafung also weniger förderlich ist, als sie einfach ungestraft ihre Geschäfte verrichten zu lassen. Es gibt gute Gründe, Elemente, die die öffentliche Ordnung und ihre Mitmenschen in Gefahr bringen, zur Sicherheit der Gesellschaft in Gewahrsam zu nehmen. Es gibt auch gute Gründe, veritable Formen der Unterdrückung zu bekämpfen. Dass ein Gesetz gebrochen oder unterlaufen werden kann, bedeutet nicht, dass es besser ist, auf Gesetze zu verzichten. Und dass Gesetze mehr Negatives als Positives bewirken, ist ein altes romantisches Märchen. Neben all dem, was es tatsächlich und wohlgemerkt zum Guten bewirken wird, hat ein Gesetz gegen das öffentliche Tragen der Burka auch eine symbolische Wirkung für die Menschen, die in Europa leben. Auch die Angewohnheit, sich Gesetze zu geben, ist nur eine weitere Form, in der die Gesellschaft sich mit sich selbst darüber verständigt, was sie will. Und die Frage ist: Will man wirklich zulassen, dass uns das Mittelalter, das wir glücklicherweise überwunden haben, auf die Art wieder ins Blickfeld zurückgeholt wird?

Ich leugne indes nicht (und habe dessen auch oben Erwähnung getan), dass jede Methode einseitig ist, dass jeder Weg, den man beschreitet, immer auch andere Wege verbaut, jeder Vorteil im Lichte bestimmter Rücksichten auch ein Nachteil ist. Natürlich muss man auf allen Ebenen für die Emanzipation arbeiten: staatlich, juristisch und also auch gesellschaftlich. Kein Verfahren ersetzt die anderen; erst recht nicht, wenn sie punktuell gegenläufig wirken. Den höheren Grad der Gesittung, den eine säkularisierte Lebensweise bietet, soll man nicht nur behaupten, sondern auch vorleben. Einwanderern muss eine Integration ermöglicht werden, die es ihnen gestattet, ihre Kultur zu bewahren und zugleich über sie hinaus zu wachsen. Es gilt, eine richtige Mischung zu finden aus Angebot und Verbot. In diesem Gedanken steckt, zugegeben, ein Widerspruch, aber er ist nicht widersprüchlicher als das Leben selbst. Die Reformation eines Martin Luther war nichts anderes als die Rettung einer alten Idee in die Neuzeit, was nur möglich war, indem sie sich änderte, über sich hinauswuchs. Das Verhältnis von Alt und Neu ist in einem solchen Prozess der Transformation – und kulturell befindet sich die Welt permanent in Transformation – mit jedem einzelnen Fall neu zu bestimmen. Und wenn es überhaupt eine Regel gibt, die als allgemeingültig und vernünftig gelten könnte, dann scheint sie mir in jenen Worten zu liegen, die Fontanes Pastor Lorenzen gegenüber dem Ungestüm des jungen Weltverbesserers ausspricht: Nicht so ganz unbedingt mit dem Neuen. Lieber mit dem Alten, soweit es irgend geht, und mit dem Neuen nur, soweit es muss.

  6 Responses to “Die Entdeckung des Menschlichen”

  1. “Sie hindert schließlich die betroffenen Frauen daran, einem Grundbedürfnis nachzukommen, das nicht spezfisch kulturell, sondern allgemein menschlich ist: der Wunsch, sich herzuzeigen als das, was man ist bzw. als das, was man scheinen will.”

    Daher dürfte wohl gerade die Sympathie vieler Linker (nennen wir sie doch beim Wort: Idealisten, Hippies, Autonome, kurz: Commünisten) zur Burka stammen. Die Pöbel-Linke hat es nunmal nicht gerne individuell; sie will die gleichgemachte, ununterscheidbare, tumbe Masse – ihre modischen Vorlieben nicht nur in der Szene (alle laufen in denselben Klamottenmodellen herum, Vorbild Bundeswehr), sondern erst recht bei ihren Demonstrationen, zeigen das in frappierender Weise: ein „schwarzer Block“ (Anarchodeutsch) in dem jeder einzelne – zum bloßen Atom gemacht – in die Burka des kleinen linken Mannes verpackt ist: dem schwarzen Kapuzenpullover plus Vermummungsschal, Sonnenbrille oder Cap. Die “Autonomen”, das sind die Terror-Palästinenser Mitteleuropas – der individuphobe, bedürfnisfeindliche, brandschatzende Mob. Kein Wunder, dass die rechtsradikalen Autonomen sich inzwischen genauso kleiden. Auf Hässlichkeit konnte man sich unter Arschlöchern nämlich schon immer einigen.

    Zum Vergleich:

    Burka: http://dailytalk.blueblog.ch/files/images/2007/4/mob18_1177770442.jpg

    Kapu: http://www.taz.de/uploads/hp_taz_img/xl/schwarzer_block_dpa.jpg

  2. Allgemein neigt die Linke eher zur demokratischen als zur freiheitlichen Seite, das ist richtig. Da geht das Kollektive vor, und das Individuelle hat ein wenig das Nachsehen. Und trotzdem beruft sie sich ja immer auf Marx, der als Ziel jene “Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist” (MEW 4, 482), ausgegeben hat. (Die Frage, ob diese Auffassung von Marx zu seinen besseren gehört, lassen wir aus Gründen der marxistischen Nächstenliebe einmal unberührt.)

    Es ist tatsächlich so, daß einige Kommentatoren aufgetreten sind, die sich auf die freie Entfaltung des Menschen berufen haben; das Verbot des öffentlichen Tragens der Burka hindere die Frauen in ihrer Freiheit, ihrer Kleiderwahl usw. usw.

  3. D’accord. Und ich ergänze eine wichtige Sache. Ich bin eine ungestüme Freundin von Verboten. Verbote sollen ja nicht allein ihren Inhalt durchsetzen. Verbote sind eine stete Aufforderung über sie selbst nachzudenken. Wie Sie, lieber Bartels, es eben in ihrem Aufsatz tun. Verbote sind im Sittlichen, was im Materiellen der Gegenstand ist: Das Widerständige, das uns, durch die Arbeit, die wir an ihm verrichten, voran bringt. Verbote sind die Art und Weise des Sittlichen, sich überhaupt bemerkbar zu machen. Der Widerstand, den sie unserem Handeln entgegensetzen, ist die Kraft, an dem sich das Sittliche erst aufrichten kann. O ich liebe Verbote! Zweierlei allerdings muss gegeben sein: Erstens, es muss immer hinreichende Handhabe geben, ein Verbot überhaupt durchzusetzen. Man kann und soll also den Menschen zum Beispiel ihre schlechte Sprache nicht verbieten. Zweitens, wie gesagt, muss es möglich sein, das Verbot in Frage zu stellen. Es muss sich in ständigen Diskussionen bewähren. Ein Verbot, für welches dieser Punkt nicht gilt, ist ein Tabu. Im doppelten Sinne des Satzes.

  4. Verbote sind die Art und Weise des Sittlichen, sich überhaupt bemerkbar zu machen.

    Ich hätte natürlich anstelle meiner zwei umwegigen Abhandlungen diesen einen Satz schreiben können. Er ist Fleisch von ihrem Fleisch und drückt demjenigen, der verstanden hat, sogleich den ganzen Inhalt meiner Darlegungen mit aus. Aber ich bezweifle, daß man mich, hätte ich allein diesen Satz geschrieben, verstanden hätte. Es war mir einfach ein Bedürfnis, an diesem einen Thema einmal das Problem der Gesittung und der Weise, wie sie sich durchsetzt, durchzuspielen. Es gibt so vieles, das man beginnt, anders zu beurteilen, wenn man mit dem Verstand an die Sache geht. Glücklicherweise ist es mir gegeben, 99 von 100 Themen der Tagespolitik mit Schweigen quittieren zu können. Obwohl ich meine, daß in nächster Zeit eine kleine Abhandlung über die Nahost-Frage in diesem Journal nötig wäre. Auch das scheint ja ein Thema zu sein, an dem praktisch alle Kommentatoren (von Politikern ganz schweigen) den Verstand verloren haben. Die Mitte – aber das wissen Sie ja – ist ein einsamer Ort. Und da ich gerade beim Jammern bin: Ich höre in letzter Zeit wenig von Ihnen, und von Konrad Astfalck gar nichts. Sollten Sie irgendwann mal in der Stadt sein …

  5. Och Sie, Bartels, wenn Ihr Jammern aussieht wie ein Lob, denn jammernse man weiter! Ich finds schön, dass Sie meinen Satz belobigen. Allerdings, ich hätte noch schöner gefunden, sie hätten meinen wirklichen Meistersatz bejammert, d.i. gewürdigt. Der lautete natürlich:

    Verbote sind im Sittlichen, was im Materiellen der Gegenstand ist.

    Jammere ich mal selbst darüber: Was nämlich einen Gegenstand ist, das ist merkwürdig unbekannt. Dabei verrät er es uns selbst. Blöd, niemand hört zu, niemand hat Zeit. „Gegenstand“, das ist selbstredend, was uns „entgegen steht“. Das wir durch den Widerstand bemerken, den es uns entgegen setzt. Ich wünschte, meine Wortschöpfungskraft reichte hin, dass ich selbst derart tiefe Begriffe schaffen könnte, wie „Gegenstand“.

    Das wirklich interessante, und gerade für Sie, höchstmögender Bartels, kommt aber noch. Es ist die etymologische Verwandschaft zu dem Begriff „Existenz“. Denn dies kömmt, Sie wissen es natürlich, aus dem griechischen „ek-histemi“, d.i. herausstehen. Das, woran man sich stösst. Gegenstand, das Anstössige. Klarer kann uns die Verwandtschaft zum Verbot fast gar nicht, nunja, entgegen treten.

    Es ist ein wirklich klarer und gut fassbarer Kreis einander bedingender Begriffe. Existenz, Gegenstand, Verbot: Normative Kraft des Faktischen, Existierenden etc. Ich werde jetzt – in diesem Kommentar – gewiss nicht ausführlich zu diesen Dingen werden. Aber es dürfte deutlich sein, dass sie ein unmittelbar einsichtiges, d.i. axiomatisches Gerüst für einen grossen Teil der Ethik hergeben. Davon vielleicht einmal in meinem Dudelbuch.

  6. Über Ihre Etymologie breite ich jetzt mal den Schleier altgriechischer Nächstenliebe. Aber die Lesart des Gegenstands als Resistance hat was für sich; zumal ja in der Tat Gegenstand und Inhalt zweierlei ist; der Inhalt nämlich ist schon ein einverleibter, angeeigneter Gegenstand, während der Gegenstand als solcher das noch Unberührte, das Ding von der anderen Seite ist.

    Ihr Dudelbuch ist merkwürdig stumm, fast totenstill. Wie eine Vuvuzela ohne Afrikaner. Aber ich weiß: Im Gegensatz zu mir haben Sie ja einen richtigen Job.

Sorry, the comment form is closed at this time.