Mai 052015
 

 

»Vorwärts und nicht vergessen,
Worin unsre Stärke besteht.
Beim Hungern und beim Essen
Vorwärts und nicht vergessen:
Die Subsidiarität.«

aus dem Liederbuch für
Springerverlagsangestellte

»… wie zum Beispiel all die Formen des ästhetischen und rhetorischen Widerstands, ›Provokation‹, ›Tabuverstoß‹, ›Subversion‹ links verschwunden sind und dafür rechts und sehr rechts wieder auftauchen.«

Georg Kreisler
(konkret 08/2002)

»Kapitalismus ist Freiheit & Wohlstand. Punkt.«

Filipp Piatov
(12. April 2014)

 

Plötzlich waren sie da. Machten den Markt und die Oberstadt mit sich voll, aßen vom Tellerchen der Krämer, schlugen ihr Wasser mit Vorliebe am Pantheon ab, und betrugen sich, als hätten sie, wie einstens Goethes Bakkalaureus, mit eigner Hand die Welt, an der sie herummosern, dazu erst hervorgebracht. Ihre Botschaft? Irgendwas mit Freiheit. Ihr Selbstverständnis? Unideologisch bis zur letzten Patrone. Ihr Ziel? Kapitalismus forever. Ihr Lieblingssong? Egal, Hauptsache nichts von U2.

Geistig-moralische Wenden finden alle ein oder zwei Generationen statt; manchmal, wenn eine erscheinende Generation sehr dominant ist, räumt sie so gründlich mit der allgemeinen Denkart auf, dass die nächste zur Depression oder bloßen Gefolgschaft verdammt ist. Aber spätestens die übernächste hat wieder Kraft und Mut, den Unsinn neu zu erfinden. Das Intervall bewegt sich also zwischen 25 oder 40 Jahren. Auf Sturm, Drang und Heinbund folgten Romantik und Germanomanie, auf die der bürgerliche Rotz von 1848, darauf die nicht minder bürgerliche Sozialdemokratie und – immerhin – die Dekadence. Auf die wiederum der Welteroberungswahn der Kaiserjugend, und darauf der Weltvernichtungswahn des Sportpalastpöbels. Es folgten die Wirtschaftswunderer, auf die die Achtundsechziger, und dann kamen – sie.

Man kann sie als Kehrseite der Ära Merkel verstehen, die ihrerseits die Kehrseite der Destruktion des Sozialstaats ist. Die Kanzlerin verwaltet das Resultat dieser Destruktion, und dafür erweist sich ihre ideologische Indifferenz als hilfreich. So wird auf der Ebene der nationalen Selbstverständigung ein Konsens gestiftet, der von verschiedenen Schichten der Bevölkerung mitgetragen werden kann, die sich andernfalls an die Gurgel gingen. Ihnen aber geht das gegen den Strich. Sie wollen den sozialen Kahlschlag, wollen den beschleunigten Kapitalismus. Die neueren Verhältnisse müssen ihnen also gefallen – dass die aber nicht einfach gelobt werden, macht sie missmutig, und so ist zu Beginn des Jahrtausends, als der Sozialstaat zerlegt und breiter Unmut darüber hörbar wurde, eine Bewegung entstanden, die sich gegen etwas, das sie für eine schleichende Sozialdemokratisierung des Deutschen Vaterlands hält, machtvoll Gehör verschafft, damit aber nichts anderes tut als das zu verteidigen, was von eben der Mehrheit, gegen die sie sich vorgeblich richtet, installiert und mitgetragen ist.

Die Truppe hat viele Namen. Man kann die Leute Schnösel nennen, Neocons, nicht-völkische Rechte, libertäre Brigaden oder autoritäre Liberale. Sie sitzen in den Redaktionsräumen der Springerblätter, des Spiegels oder beim Focus, publizieren auf der Achse des Guten, haben Starke Meinungen und sind eigentümlich frei; sie bringen ihre Zeit in sozialen Netzwerken rum sowie natürlich im eigenen Blog. Gremliza, wenn ich den richtig verstehe, nennt sie Fuzzis. Ein Fuzzi ist so etwas ein Wichtigtuer. Einer, der im Äußerlichen lebt. Tatsächlich scheint die Pose, die im politischen Verkehr stets wichtig ist, in diesem Milieu nicht bloß Mittel, sondern selbst schon Ausdruck des Wesentlichen zu sein. Diese Pose ist hier vornehmlich die der Rebellion & Provokation.[1] Auf das Neo muss demnach dasselbe Gewicht gelegt werden wie auf das con.

Der Neo ist jung oder jung geblieben. Mit dem klassischen Konservatismus kann er meist wenig anfangen. Graue Anzüge, Herrengedecke, sexuelle Hygiene u.ä. sind seine Sache nicht. Er ist frisch frisiert, individuell, spricht ein makelloses Englisch, legt Wert auf Genuss, Freizügigkeit und Humor. So wie sich die Neue Linke vor vierzig Jahren gegenüber der klassischen Rechten durch den Besitz von Ironie auszeichnete, ist dem Neo heute die Feststellung wichtig, dass Linke keinen Humor haben. Tatsächlich hat die Linke viel von ihrem Humor eingebüßt und diese Lücke, ohne da groß zuzulegen, mit Moral geschlossen. Der Konservatismus in seiner zeitlichen Gestalt erscheint dagegen als die neue Entspanntheit: ironisch, unvergrübelt, genussfähig. Doch zugleich sehen sich die Neos als Lehrer einer Nation, die nicht hören will, also fühlen muss. Sie gefallen sich in der Pose des letzten ernsthaften und kühlen Denkers, und sind doch in allem, was sie treiben, abhängig von der Umgebung, über der sie zu stehen glauben.

Die Nachwuchsabteilung der Neos ist die Springerjugend. Auch diese Gardisten betreiben ihre Blogs, tummeln sich in denselben Netzwerken wie ihre Mentoren, dürfen schon mal auf der Achse ran, und irgendwann machen sie ein Praktikum bei der Welt. Sie verkörpern das Neohafte auf verdrehte Weise, aber gerade in der Verdrehung wird es so ziemlich reproduziert. Beim Neo ist ein authentischer (weil auf Erfahrung beruhender) Anspruch, die Nation zu belehren, durch eine nicht-authentische Pose des Provokateurs und Rebellen konterkariert. Beim Neoneo der Springerjungend ist hingegen die Pose der Provokation authentisch, während die vorgegebene Substanz mangels Erfahrungen bloß nicht-authentisch sein kann. Der Neo gibt sich jugendlich, sein Nachwuchs ist wirklich jung. So konvergiert in der Bewegung ein Bedürfnis des Alters, die Unreife zurückzugewinnen, mit einem Bedürfnis der Jugend, erwachsen zu sein, in einem diffusen Beieinander erwachsener Inhalte und kindischer Haltungen, indessen beider Vermögen zur Reife und dazu, die Welt zu durchschauen, naturgemäß divergiert.[2]

Cross the Broder – Close the Gap

Es ist gar nicht so leicht anzugeben, was diese Leute eigentlich sind. Ganz abgesehen von den üblichen Differenzen. Eingestanden haben sie jeweils ihre Schwerpunkte; Unterschiede in Temperament, Neigung, Sprache und Denken gibt es ohnehin. Zwischen dem witzigen Henryk M. Broder, dem versierten Hannes Stein, dem paranoiden Akif Pirinçci oder der stumpfsinnigen Vera Lengsfeld klafft eine Lücke, in der ein ganzer literarischer Mittelstand Platz hätte. Auch die Neos, die sich geschlossen als superior verstehen, haben ihr Fußvolk laufen, das die Sache der Superioren vertritt, ohne selbst dazu zu gehören. Dergestalt repräsentiert die Strömung weniger ein Denken der Eliten als vielmehr eines für die Eliten. Doch was ihre Beschreibung so schwer macht, geht über diese gewöhnlichen Schwierigkeiten hinaus.

Der Versuch, sie nach ihren Inhalten zu verstehen, führt entweder zu Antinomien oder zu nicht spezifischen Bestimmungen, die auch für andere Strömungen gelten. Neos sehen sich als konservativ, aber auch als Rebellen. Sie vertreten eine radikale Utopie des freien Marktes, indessen sie sich gegen jeglichen Utopismus richten. Sie geben sich abgeklärt und suchen notorisch die Provokation. Sie sind liberal und dennoch leidenschaftliche Staatsbürger mit ausgeprägtem Hang zur Denunziation insbesondere ziviler Formen des Widerstands. Die Individualität ist ihnen das höchste Gut, doch hängen sie unverkennbar einer Ideologie der Heiligen Arbeit an, die von jedem Bürger fordert, gefälligst das Beste aus sich zu machen und auf dem freien Markt sein Glück zu finden. Sie wärmen sich an einer emphatischen Forderung nach Freiheit, in der sie den eigentlichen Gehalt des Humanen ausmachen, und können gleichwohl gegen Menschen, die in Armut leben, unfassbar kalt sein. Sie dünken sich rational, kritisieren die Umweltbewegung, Globalisierungsfeinde und eigentlich alles, was links von ihnen steht, und dennoch sind antiintellektuelle Ressentiments in ihren Äußerungen keine Seltenheit.[3] Sie beklagen die Bürokratie, den Staat, seine Leistungen, seine Steuern und überhaupt alle zentralisierten Kosten von Brüssel bis zur GEZ, verteidigen aber horrende Gehälter von Managern ebenso wie die gigantische Akkumulation von Reichtum auf Konzernkonten.

Gewiss gilt auch von diesen Elementen, dass sie individuell verschieden stark auftreten, und doch finden sie sich unter den Neos im Sinne der Familienähnlichkeit als größtmögliche Schnittmengen. Diese Schnittmengen aber sind, wie gesagt, antinomisch. Die Gräben, soll das heißen, liegen nicht zwischen den Köpfen der Gruppe, sondern jeweils in diesen. Gegen die Antinomien feststellbare Konstanten wären indes: ein positiver Bezug zu Israel und den Vereinigten Staaten sowie eine Kritik des Islamismus und des Sozialstaats. Doch diese Konstanten, die tatsächlich für jeden Neo gelten, stiften keine spezifische Differenz. Sie finden sich, auch in dieser Zusammenstellung, gleichfalls in anderen Strömungen, und dennoch weiß jeder sofort, welcher Laden gemeint ist, wenn etwa die Namen Broder, Fleischhauer, Posener oder Poschardt fallen.

Was die Neos ernstlich von anderen Strömungen unterscheidet, sie als Gruppe erkennbar macht, das ist die Art, wie sie ihre Inhalte vertreten. Der Neo verteidigt die Marktwirtschaft nicht einfach, weil er sie richtig findet, er verteidigt sie, weil er sie bedroht sieht, durch die Linken selbstredend, durch eine viel zu sozialdemokratische Regierung und endlich gar durch sie selbst, denn die Wirklichkeit der Marktwirtschaft stellt sich nachgerade dar als Verrat an der Idee der Marktwirtschaft, an der als vollständig umsetzbar gedachten Utopie des Freien Marktes. Der Neo vertritt seine Inhalte somit wie der letzte Soldat an der Front. Er sieht sich als einsamen Kämpfer gegen einen übermächtigen Konsens. Er vertritt die wahre Mitte der Gesellschaft gegen die demographische, aber – und das ist das Spezifikum – diese wahre Mitte ist nichts anderes als die demographische. Er verteidigt etwas, das weitgehend Konsens genießt, gegen einen phantasierten Gegen-Konsens. Es fordert einige Anstrengung, sich in den Glauben zu steigern, dass kaum ein Mensch die Freiheit und den Markt wolle. Die Neos scheuen diese Arbeit nicht.

Woran sie sich ungeheuerlich aufhängen, ist der Umstand, dass Menschen, die in ein System von Verdrängung und Unterdrückung involviert sind, nicht selten dazu neigen, wenigstens in ihrer Freizeit eine Art Ausgleich zu schaffen. Das scheint mir der Hintergrund z.B. der Umwelt- und Biobewegung zu sein, die – als Ableger der Achtundsechziger – einer der hauptsächlichen Gegenstände von Neopolemiken ist. Diese durch und durch harmlose Weise, nach dem Feierabend vermittels bewusster Lebensweise das schlechte Gewissen aus der Arbeitswelt wenigstens etwas zu beruhigen, wird für das eigentliche Leben und somit für eine außerordentliche Bedrohung genommen. Dass der entschleunigte Kapitalismus, den Die Grünen im Sinn haben, um nichts weniger Kapitalismus ist als der, mit dem die Neos leben könnten, rutscht dabei aus der Gleichung. Ebenso, dass keine liberale Errungenschaft im Staatsverhältnis (Pressefreiheit, Religionsfreiheit, sexuelle Freiheit usw.) von den Grünen angetastet ist. Die Sachebene wird nicht zur Kenntnis genommen, allein die Ideologie findet noch Beachtung. Nur so kann man sich ernstlich einreden, was man sich eigentlich auch dann nicht ernstlich einreden kann, dass die Bundesrepublik ein Land ist, unter dessen Bürgern ein antikapitalistischer und antiliberaler Konsens herrscht.

Der Mainstream aber, gegen den es bei den Neos immer geht, ist kein Strom; er ist ein Delta, und sie selbst sind einer seiner Arme. Ideologien sind nie etwas anderes als Gewichtsverschiebungen auf ein und demselben gesellschaftlichen Boden. Jenseits des Mainstreams ist nur, wer zumindest mit einem Bein nicht auf diesem Boden steht, wer über das Vorhandene und seine Ausgestaltung hinaus im spekulativen Zugriff seine Zeit als Bündel von Möglichkeiten verstehen kann. Wer hingegen selbst in seinen Idealvorstellungen nichts anderes tut als am Vorhandenen zu kleben und allenfalls dies Vorhandene ins Unendliche zu verlängern, kann nicht jenseits des Mainstreams stehen, was, soweit ich sehe, praktisch alle Parteien des gesellschaftlichen Verkehrs betrifft: die Neos ebenso wie die Masse der von ihnen als einheitlich gedachten anderen Arme jenes großen Stroms.

Neos aber glauben, dass jede Abweichung von ihrer besonderen Gewichtung auch schon eine Abweichung vom Boden der Gesellschaft ist. Vom wahren Boden. Als Anhänger des Kapitalismus, die diese Formation bedingungslos und radikaler vertreten als jede andere Strömung, sich damit zugleich aber in einer Minderheit sehend, geben sie nun jene befremdliche Vorstellung einer Rebellion der Oberschichten, die sie kenntlich und von anderen Strömungen unterscheidbar macht. Sie stehen für eine Umwertung der Werte in dem Sinne, dass sie den wohlbewährt doppelten Boden zwischen Bourgeois und Citoyen – nackter Funktion im Wirtschaftlichen und kulturellem Selbstverständnis – attackieren, der erst möglich macht, zugleich Kapitalist und Mensch sein zu können. Sie wollen nicht die humanen Seiten der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Kapitalform aufrechnen, sie vermeinen, diese Seiten in der Form selbst verwirklicht zu sehen.

Die Anatomie des Liberalismus

Dieser Riss ist allerdings nicht neu. Neos gehen von liberalen Prämissen aus, und die Anatomie des Liberalismus hat selbst mit einem konstituierenden Widerspruch zu kämpfen, der sich bei den Neos nur insofern besonders deutlich zeigt, als sie eine verstörende Art gefunden haben, auf ihn zu reagieren.

Ideell gefasst ist der Liberalismus eine Ideologie des einzelnen Menschen für den einzelnen Menschen. Er bezieht sich auf die atomisierten, kleinen, konkreten Verhältnisse. Es geht um die Verbesserung des täglichen Lebens, die Antibabypille, sexuelle Emanzipation, Laissez-faire, Einschränkung religiöser Gängelei, Abschaffung der Prügelstrafe, Selbstverwirklichung, Freiheit der Meinungen usw. Das ist zugleich sein historischer Anfang; mit konkreten Forderungen hat es begonnen, und solange er in diesem bloß auf die gesellschaftlichen Atome bezogenen Anspruch blieb, konnte er rational und vernünftig sein. In den Forderungen eines besseren Lebens steckt zunächst noch gar keine greifbare Bestimmung, die die gesellschaftliche Verfassung betrifft. Liberales Leben kann unter verschiedenen Formen der Verfassung realisiert sein.

Sobald der Liberalismus aufhört, als bloß persönliche Haltung aufzutreten, und beansprucht, modellhaft fürs gesellschaftliche Ganze zu sein, destruiert er sich selbst. Durchhaltbar wäre er nur in einer Welt ohne Widersprüche. Da er die Unfreiheit des Anderen bedeutet, wo er die Freiheit des einen sein soll.[4] Wie jede Ideologie wirbt er ja damit, die für die Allgemeinheit bestmögliche Lebensform hervorzubringen. Aber praktisch ruft er bloß einen Zustand herbei, in dem einigen möglich ist, sich zu nehmen, was sie für ihre Freiheit halten, während anderen damit unvermeidlich genommen wird, was ihnen nicht bloß ihre Freiheit, sondern die Freiheit überhaupt ist. Liberale Totalität, d.h. die Ausgestaltung des Liberalismus in einer Verfassungsform, befördert notwendig einen Widerspruch zwischen Anspruch und Umsetzung der Freiheit. Des Liberalen gern zitierter Leitsatz, dass es sowas wie eine Gesellschaft nicht gibt, wird in der Praxis beschämt, indem spätestens dann, wenn Armut explodiert oder die öffentliche Ordnung gefährdet ist, anerkannt werden muss, dass gleichwohl ein dem Einzelnen Übergeordnetes maßgeblich sei. Dieses Dilemma hat der Anwalt des Liberalismus zu lösen. Er muss erklären, warum er die schöne und reiche Idee der Freiheit vertritt, während bei der Umsetzung dieser Idee zwingend stets auch das Gegenteil passiert: Unfreiheit, Armut und Hässlichkeit. Daran, wie auf dieses Paradoxon reagiert wird, unterscheiden sich die vorhandenen Spielarten des Liberalismus.

Einige ziehen vor, solange es geht, in der bloß abstrakten Betrachtung des Einzelnen zu bleiben. Dieser Weg ist der der Ignoranz, die, defensiv ausgelegt, immerhin ermöglicht, Mensch zu bleiben. Die Erschütterung im Betracht von Armut und Not erhält Auflösung durch den Rückzug in den Bereich des Idealen. Die vorhandene Not dürfe das Ideal des Liberalismus nicht angreifen, gerade dies Ideal sei doch der Gegenentwurf zum Vorhandenen. Neben der defensiven Ignoranz ist auch eine offensive möglich. Darin versichert man, dass es doch eigentlich allen Menschen gut gehe, dass bei all dem, was die Tüchtigen der Gesellschaft produzieren, noch genügend Krumen vom Tisch fallen, die den weniger Tüchtigen zur Nahrung dienen können. Der Hinweis, dass diese Behauptung bereits für Europa und Nordamerika nicht gilt, wo die Depravierten in raffinierte Systeme der Zwangsarbeit gepresst werden und an wesentlichen Teilen des gesellschaftlichen Verkehrs nicht mehr teilnehmen können, lässt sich schwer umgehen. Bei Berücksichtigung der Armut im Trikont jedoch, wo es zwar nicht bloß um Hausbesuche vom zuständigen Betreuer, Eingriffe ins Bankkonto, Zwangsarbeit, zu teure Medikamente und schlechte Zähne, sondern nackt darum geht, wie von Tag zu Tag das Überleben gesichert werden kann, lässt sich die Zuständigkeit des am Markt agierenden Kapitalisten mit viel Phantasie bestreiten, indem man einerseits ausblendet, dass der Weltmarkt ein Organismus ist, worin das Treiben der einen Seite sich stets auf die andere auswirkt, und zum anderen, indem man Armut allein aus einer schrecklich unliberalen Wirtschaftspolitik ansässiger Autokraten oder Warlords erklärt (die zudem so unliberal oft gar nicht ist). In jedem Fall tritt die Eigenart des liberalen Zugriffs hervor, Zuständigkeit (und somit Verantwortung) nur persönlich denken zu können. Solange man glaubhaft machen kann, dass kein einzelner Unternehmer die Schuld an dieser oder jener Misere trage, weil es entweder immer der andere war oder eben die unsichtbare Hand des Marktes, kann die Zuständigkeit des Ensembles der Kapitalisten überzeugend bestritten werden. Wo es sowas wie eine Gesellschaft nicht gibt, gibt es auch sowas wie den Kapitalismus nicht, und folglich ist da keine Begründungsebene, die über den einzelnen Unternehmer hinausgeht.

Anstatt nun über gesellschaftliche Wirklichkeiten zu reden, spricht der ignorante Liberale von den Chancen des Einzelnen, die der einfach ergreifen müsse. Wie er überhaupt überall dort, wo sein System sich als nicht haltbar erweist, vom Indikativ in den Optativ wechselt. Und ignoriert, dass nicht bloß Können, sondern auch Wollen ungleich verteilt ist und diese Ungleichverteilung, auf große Mengen gerechnet, einfach eine gesellschaftliche Konstante und somit einen Teil der Wirklichkeit ausmacht, den man in seine politischen Konzepte einberechnen müsste, anstatt ihn hinwegzupredigen. Oder er spricht davon, dass Etatisten sich eben nicht vorstellen können, dass Sozialhilfe auch subsidiarisch, also privat und ad hoc funktionieren könne. Und ignoriert, dass die Bereitschaft der Menschen, die Armen durch Almosen und gemeinnütziges Handeln zu unterstützen, offensichtlich nicht so weit ausgeprägt ist, dass es hinreichte, die Armut gründlich zu bekämpfen, und überdies, dass Sozialleistung keine Gnade ist, der ein Mensch – bei gutem Wetter und dem Glück, einen Sponsor gefunden zu haben – teilhaftig werden kann, sondern ein verdammtes Grundrecht in jeder Gesellschaft, die mehr sein will als eine kaum bessere Reproduktion des Naturzustands.

Wenn der Liberalismus den Zustand der Wirklichkeit nicht leugnen will, bleiben ihm zwei weitere Möglichkeiten. Die eine ist der Zynismus. Also die Entscheidung, auf die Beschreibung der elenden Zustände – des Chaos, der Leiden, des Hungers – mit einem so what? zu reagieren. Diese Strategie hat einen großen Vorteil, der zugleich ein großer Nachteil ist. In der Tat gibt es vom Standpunkt der Vernunft keine Möglichkeit, Unbill als solche zu verdammen. Wenn Menschen Hungers sterben, an Gewalt oder Kälte zugrunde gehen, wenn sie entwürdigt und aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausgeschlossen werden, dann lässt das kaum wen kalt, doch man kann sich alles abtrainieren. Wenn einer käme und sagte: Was bitte spricht denn gegen Hunger?, dann ist selbst die Vernunft machtlos. Und nicht bloß in dem Sinne, in dem sie immer machtlos ist, weil der praktische Sinn sich ihren Argumenten selbst dann verschließen kann, wenn er theoretisch widerlegt ist. Machtlos, meine ich, tatsächlich im theoretischen Sinn, denn der zynische Liberalismus streicht alle Elemente aus dem Kalkül, die darauf führen, dass diese schlechten Zustände schlecht genannt werden können. Wo das Schlechte nicht als schlecht gilt, ist der Hinweis, dass es schlecht ist, wirkungslos. Es ist dann einfach Conditio humana oder notwendiges Übel, das im Verhältnis zu angenehmeren Seiten des Kapitals im Unbedeutenden verschwindet. Der Nachteil dieses Arguments ist aber, dass allgemein ein Konsens darüber besteht, was schlecht ist. Armut, Hunger und Gewalt werden zu den schlechten Dingen gezählt, und der Liberalismus schließt sich, wo er durch Zynismus den totalen Sieg feiert, indem er sich unangreifbar gemacht hat, selbst aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang aus. Die Unangreifbarkeit gegen die Anderen wird bezahlt mit der Unerreichbarkeit der Anderen. Wo seine intimste Wahrheit, dass er nur für das vereinzelte Sinnen nützlich sein kann, in der zynischen Zuspitzung ans Licht kommt, kann er nicht auf Mehrheiten hoffen, und der Umschlag des Freiheitsgedanken in blanken Despotismus wird ebendort offenbar, wo das Kapital dem ihm unterworfenen Subjekt (in den Worten von Dietmar Dath) zuruft: »Du musst doch nicht machen, was du willst, armes Hascherl, mach doch einfach, was ich will, oder stirb.« Der Witz liegt hierbei darin, dass das, was im praktischen Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise als ganz normal angesehen wird, auf der ideologischen Ebene, sofern ohne Beschönigung übertragen, als vollkommen inakzeptabel abgelehnt würde.

Wo der Liberalismus weder ignorant noch zynisch sein will, bleibt ihm nur die Schuldverschiebung. Er sieht die unschöne Gesellschaft, die auf dem schönen Prinzip der Freiheit beruht, und anstatt den Fehler in der Idee zu suchen, also danach zu fragen, ob wohl im Begriff der Freiheit schon Paradoxes liegen könnte, das seine eigene Destruktion nach sich zieht, sucht er die Schuld in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Als Sündenbock kommen in Frage: die Armen, Alten, Kranken, Schwachen, Labilen, Hedonisten, Langzeitstudenten und – erwartbar – der Staat. Die Armen, Alten usw. liegen der Gesellschaft auf der Tasche. Die Ideologie der Tüchtigkeit, das Ethos der Arbeit, das Hirngespinst eines schaffenden Kapitals, das auch dann irrational ist, wenn man ihm kein raffendes entgegensetzt, sind hier der Hintergrund. Schuld daran, dass nicht jeder reich ist, sind die, die nicht reich sind. Das ist ein logisch makelloser Schluss: Gäb es keine armen Menschen, wäre auch keine Armut. Der Liberalismus in dieser Variation verdrängt die Eigenschaft des Kapitalismus – den er zärtlich Freiheit, Offene Gesellschaft und dergl. nennt –, Armut, Unfreiheit und Gewalt zu zeugen, indem er ein Element im gesellschaftlichen Nexus heraussucht, das für die Existenz der Unbill verantwortlich gemacht werden kann. Die Unterschicht ist verantwortlich für das Aufkommen von Dummheit, Gewalt und Armut; mithin ist ihre Unfreiheit nicht durch die Umstände bedingt, in die die ihr zugehörigen Menschen gedrängt werden, sondern Resultat freier Entscheidung. Sie sind unfrei, weil sie faul sind, oder, subtiler, weil sie sich im Innersten vor der Freiheit fürchten und stets nur Wohltaten des Staates erwarten. Auf die Art wird eine immanente Eigenschaft des Systems auf eine bestimmte Gruppe betroffener Menschen verschoben, und natürlich nicht auf irgendeine, sondern auf diejenige, die am schwächsten ist und im gesellschaftlichen Gefüge den geringsten Einfluss besitzt.

Ganz ähnlich funktioniert die Schuldverschiebung auf den Staat, nur dass hier am Ende die Schuld nicht konkretisiert wird, sondern so abstrakt bleibt, dass sie nicht fasslich und somit auch nicht widerlegbar ist. Der Staat, so versichert man, hat immer wieder den freien Markt verhindert. Nicht der Kapitalismus oder die Idee der neoliberalen Wirtschaftsführung sei schuld an den Unerträglichkeiten des Kapitalismus, sondern der Staat, der historisch stets eingegriffen hat, wenn die Krise unerträglich wurde. Dass er jedesmal eingreifen musste, um das Schlimmste zu verhindern, ist hier kein Argument, da Krise, Massenarbeitslosigkeit und Armut das Jammertal sind, durch das die Gesellschaft hindurch muss, wenn sie zum El Dorado werden will. Nicht widerlegbar ist diese Position vor allem deshalb, weil die Bedingungen, die sie fordert, in der Wirklichkeit nie eintreten können. Der Staat muss und wird immer wieder eingreifen, wenn – z.B. durch eine Weltwirtschaftskrise – sein Bestand oder der des gesellschaftlichen Gefüges gefährdet ist. Der wirklich freie Markt ist das Ding, das bis zum Ende der Welt immer erst noch hergestellt werden muss. Solange das Tal nicht durchschritten ist, lässt sich alles Mögliche über das behaupten, was dahinter liegt.

Die Neos bewegen sich in ihrer Interpretation des Liberalismus zwischen dem Zynismus und der Schuldverschiebung. Sie halten den Zynismus reiner als jegliche Spielart des Liberalismus vor ihnen (abgesehen vielleicht vom extremistischen Libertarismus der Marke Ron Paul), aber sie müssen zugleich um ihre politische Virulenz fürchten. Sie surfen an der Kante zwischen Glauben und Propaganda. Also installieren sie dort, wo sie um Anhänger werben, gegen ihre Neigung das Programm der Schuldverschiebung, das ja, so verschroben es auch sei, tatsächlich erst dort nötig wird, wo einer um seine Menschlichkeit ringt, sich und anderen, heißt das, klarmachen will, warum der Kapitalismus trotz seiner brutalen Seiten vom Guten ist.

Das Comeback des Biedermeier

Soweit gelangt – den vorausgesetzten Widerspruch und des Neos Art, damit umzugehen, beleuchtet – kann man die Stimmung, die sich in dieser Strömung ausagiert, auf eine Weise mustern, wonach sie nicht bloß wie ein Akt der Willkür aussieht, sondern bei all ihrer Willkür tatsächlich ein wenig erklärbar scheint. Der Neo, lautet die Bestimmung, ist ein Hohepriester einer als natürlich verstandenen Geschichtsdialektik; er lehnt jede Form widernatürlichen Handelns des Menschen in der Geschichte ab, wobei kein Zweifel besteht, dass nur er weiß, was des Menschen Natur ist. Darin ruht zunächst sogar eine gewisse Stringenz. Nicht bloß dort, wo eine Gesellschaft bewusst ins Werk gesetzt wird, sondern auch dort, wo der Glaube besteht, der Gesellschaft und ihren spezifischen Abläufen liege eine Art Naturverhältnis zugrunde, kann das Bedürfnis aufkommen, unangenehme Erscheinungen von ihr abzuziehen und partikularen Elementen zuzuweisen. Wo der Revolutionär mit dem Stolz des Werkmeisters die Fehler der Neuen Zeit dem äußeren Feind, den Muttermalen der alten Gesellschaft oder aber kleinbürgerlichen Elementen zuweist, da tritt der äußerste Reaktionär – und nichts anderes ist der Neo – als Verteidiger eines ganzen Ereignishorizonts auf: An dem, was sich naturläufig bis auf den heutigen Tag entwickelt hat, worauf er setzt und worin er sein ganzes Glück findet, darf kein Makel haften bleiben.

Er ist durchaus nicht feindlich gegen jegliche Veränderung. Er schätzt am Kapitalismus gerade die fortschrittlichen Bewegungen, seine Entwicklung der Produktivkräfte. Den Fortschritt versteht er als ewig laufende Walze, als ursprüngliche und komplexe Akkumulation, während ihm sozialer Fortschritt und staatliche Zentralisierung im Grunde autoritäres Teufelszeug sind. Man soll, so fühlt er, nicht modeln, nicht Hand anlegen an Gottes stolzes Werk. Wobei Gott hier die Funktion meint, die in den allzu meist atheistischen Köpfen der Neos vom Kapital übernommen wird. Dieses Verständnis von Fortschritt im Sinne der Veränderungen, die einfach die Zeit mit sich bringt, erklärt auch, warum Die Grünen, denen man durchaus nicht nachsagen kann, dass sie den Kapitalismus oder die staatliche Ordnung gefährden, zu einem primären Feindobjekt der Neos werden konnten. Neos erregt an der ökologischen Bewegung, dass sie der Bewegung des Kapitalismus nicht in jeder Hinsicht zu folgen bereit ist. Dass in ihr mit der Forderung z.B. des gedrosselten Wachstums oder der Nachhaltigkeit Impulse gesetzt werden, die nicht der Logik des Kapitals entnommen sind. Die irrationale Abneigung gegen diese Art Fortschritt, der die Ansprüche des Menschen gegen das blinde Fortrammeln des Kapitalismus setzt, wird von Autoren wie Michael Miersch in ein Gewand rationalistischer Kritik gekleidet, die es naturgemäß leicht hat, der ökologischen Bewegung ihre Albernheiten vorzuhalten, in diesem Akt aber nichts anderes tut als die eigenen Albernheiten zu verdecken. Der Neo glaubt, nur weil er frei von Dinkel ist, müsse er auch frei von Dünkel sein.

Den Umwälzungen, die der Kapitalismus quasi selbst vollzieht, ist der Neo regelrecht ergeben. Alles, was rationalisiert und gekürzt wird, ist ihm recht. Er goutiert jedes geschlossene Museum, jede gestrichene Subvention, jede ausgestorbene Tierart, jede uniforme Filiale, die ein altes Handwerksgeschäft verdrängt, jedes Gebäude aus Glas und Stahl, dem zuliebe ein Fachwerkhaus planiert wurde, und wenn ein amusischer Konzern wie Amazon den traditionellen Buchmarkt durch die Kontrolle nicht bloß der horizontalen, sondern mehr und mehr auch der vertikalen Kooperation zerschießt, überschlägt sich seine Stimme so unbändig vor Glück, dass man glaubt, Timm Thaler habe eben sein Lachen wiedergefunden. Er hält sich für konservativ, ist das jedoch allenfalls bezogen auf die kapitale Struktur der Gesellschaft. In allem, was das Kapital anrichtet, worüber es ohne Rücksicht hinweggeht, ist der Neo von der Gesinnung her nichts anderes als ein Funktionär der Kulturrevolution. Man tut ihm also nicht das geringste Unrecht, wenn man ihn einen Puritaner nennt.

Es ist schon bemerkt worden, dass der Neo die gegebenen Zustände verteidigt, indem er sich stellt, als gelte es, diese Zustände erst noch zu erreichen. Überall und immer wieder sieht er das reine Wirken des Kapitals bedroht. Wie die republikanischen Kandidaten aus dem Stall der Tea Party glaubt er, dass wir eigentlich schon im Sozialismus leben. Sein Patriotismus besteht in der restlosen Unterwerfung unter die Logik des Kapitals, und das Bewusstsein, das hierzu nötig ist, kann an der Wirklichkeit des Kapitals, die so rein wie dessen Idee nie sein kann, immer nur enttäuscht werden. Woher aber kommt dieser besondere Eifer?

Auffällig ist, neben einer gewiss großen Zahl indigener Neos, die Dichte der Exlinken unter ihren Alphas: Henryk M. Broder, Jan Fleischhauer, Alan Posener, Matthias Matussek, Vera Lengsfeld, Wolf Biermann, Oswald Metzger, Cora Stephan, um nur die zu nennen, die mir prima facie auffallen. Man muss nicht überall Zusammenhänge sehen, aber man kann. Hier ist es, wie ich meine, ganz logisch. Der Weg vom Leiter der AG Sozialistischer Ausdruckstanz hin zum Vortänzer einer antikommunistischen Sekte ist vielleicht nicht vorgezeichnet, aber doch auch nicht ganz abwegig. Vorliegt ein Fall missvergnügter Resignation, die den Triebverzicht, der in der Rücknahme der kommunistischen Utopie enthalten ist, nicht gegen den Gewinn charakterlicher Reife hat aufrechnen können. Die Enttäuschung einer ursprünglichen Hoffnung auf eine künftige Gesellschaft wird in Ergebenheit dem Bestehenden gegenüber sublimiert. Das geht weit hinaus über das, was man Opportunismus nennt. Es ist keine Unterwerfung unter das vormals Abgelehnte mit der Begründung, dass keine Alternative greifbar sei – so erklärt der klassische Opportunismus sein Treiben –, sondern der einst bekämpfte Kapitalismus wird an die Stelle der vormaligen Erwartung gesetzt, wird als das Gute selbst installiert. Der radikale Utopismus der Linken wird liquidiert durch Erklärung eines radikalen Utopieverbots, nur ausgenommen wird dann doch die Utopie der kapitalen Gesellschaft. So richtet sich der Neo nicht gegen die Irrationalität von Weltverbesserern, sondern gegen den Anspruch, die Welt verbessern zu wollen, als solchen, wobei er seine eigenen Besserungsansprüche am schon Bestehenden diskret aus dem Spiel nimmt. Bettina Röhl – eingedenk ihrer Familiengeschichte wohl eine Exlinke zweiter Ordnung – hat diesen Widerspruch in einem Essay, dessen Biederkeit nicht einmal von Ulrike Meinhof noch hätte gesteigert werden können, aufs unschuldigste veranschaulicht. Konservatismus, steht dort, sei ein permanenter Vergleich »zwischen dem, was bis jetzt war, und dem, was idealtypisch möglich ist«, und bloß einen Absatz später donnert es gegen eine »furchtbare, aber für edel und hehr erklärte Scheinrealität, Utopie genannt«.[5]

An dieser Stelle kehrt noch einmal das Äußerliche der Neos zurück ins Spiel, über das wir uns am Anfang zunächst nur haben wundern können. Die vollkommene und, wie gesagt, mehr als bloß opportunistische Unterwerfung unter das Bestehende verlangt nach einer Pose, in der dieser Vorgang nicht peinlich wirkt. Diese Pose ist die des Rebellen. Sie ist, schrieb ich oben, in diesem Milieu nicht bloß Mittel, sondern selbst schon Ausdruck des Wesentlichen. Immer die Nase im Wind, und sobald irgendwo eine Mehrheitsmeinung gewittert wird, das Gegenteil vertreten. Jeden Tag ins letzte Gefecht ziehen, wie Pickett bei Gettysburg. Das hilft, die Tatsache zu verdrängen, dass man schlicht affirmativ ist und nicht die geringste Energie aufbringt, gegen seine Umgebung zu leben. Provokation als therapeutische Übung. Der Neo steht immer auf der Bühne.

Die Provokation wird dabei oft von dem Hinweis begleitet, dass es sich um eine Provokation handle. Auch das ist textstrategisch erklärbar. Der Neo inszeniert seine Stücke als Inszenierungen, als absichtliche Trollstücke, als Texte also, die vorsätzlich unter der eigentlichen Erkenntnishöhe des Verfassers bleiben, weil sie eher aufwecken als Verständnis vermitteln wollen. Davon allerdings ginge nur zu reden, wenn der Verfasser auch anders könnte. Die Selbstinszenierung des Provokateurs als Provokateur kommt nicht zuletzt aus der eigenen Unsicherheit, dass man nämlich nur zu gut weiß, nicht mehr als diese partikulare Perspektive zu können, auf der man mal einen raushaut, mal in ein Wespennest sticht, ohne einen rechten Begriff von dem, worüber man schreibt, zu entwickeln. Also sorgt man, dass es wie Absicht aussieht, wo man in Wahrheit doch gar keine Wahl hatte.

Dieser von außen kommenden Wirkung gesellt sich ein interner Mechanismus hinzu, der ebenfalls als Wurzel jener Pose betrachtet werden kann. Politische Strömungen – das liegt in der Natur der Sache, und die Neos machen hier keine Ausnahme – bilden ihre Inhalte kollektiv. In ihnen setzt sich nie das höchstmögliche Niveau durch, sondern stets dasjenige, das als mehrheitsfähig und konsumierbar angesehen wird, das sich im Verkehr der Hetairie als griffig erweist. Dieser Einfluss des Kollektiven in einer Strömung, die sich emphatisch bis regelrecht hysterisch in ihrem Antikollektivismus sonnt, muss ein Gefühl der Peinlichkeit stiften. Damit entsteht eine turnusmäßige Distinktionswut bei allen Beteiligten. Der Mitläufer sucht die Exzellenz, die er vermittels Niveau nicht herstellen kann, durch die Ausgefallenheit seiner Meinungen auszugleichen, denn nur wenigen ist gegeben, eine gewöhnliche Position auf außergewöhnliche, also substantielle Weise vertreten zu können. Das ist der klassische Handgriff eigentlich aller Mitläufer, nur dass der im Fall von Bewegungen, die ein eher positives Verständnis des Kollektiven pflegen, in Gestalt des besonders konsequenten Vertreters, des Einhundertfünfzigprozentigen, zum Ausdruck kommt. Und wer erklärt dem Biermann nun, dass er eigentlich nicht mehr als Fleisch vom Fleische seines alten Leibfeinds Paul Verner ist?

Die seltsame Spannung zwischen dem Spießerhaften, dem Staatsbürgerlichen, der nicht bloß partikularen Servilität auf der einen und der Pose des Libertins, des Rebellen und des Sachwalters einer bedrohten Minderheit auf der anderen Seite ist demnach nicht zufällig, sondern womöglich die einzige Spielweise, in der dieses Ansinnen in dieser Lage hervorgebracht werden kann. Das Erscheinen der Neos ist ein Comeback des Biedermeier als Antwort auf die Achtundsechziger. Auf die Blumenkinder folgten die Blümchenkinder. Die Achtundsechziger aber haben, bei all ihrer aufdringlichen Philisterei, die Verstocktheit der Vergangenheit hinweggefegt und das Zeitalter der Coolness eingeläutet. Erinnert man den Sound der Wochenschau, den schnarrenden Ton der Propagandafilme aus West und Ost während des Kalten Krieges, die Wahlkampfslogans der ferneren Jahrzehnte, das Unbedarfte von Paula Wessely, Ernst Busch, Heintje oder Shirley Temple, das heute so aufgesetzt und enervierend wirkt, fragt man sich ernstlich, wie dergleichen einmal hat wirken können. Und die Antwort wär wohl: nur in einer Zeit, in der Naivität und Unzweideutigkeit als authentisch empfunden wurden. Heute, da alles zweideutig ist, jeder Film mit einem Twist und jeder Text mit einer Pointe enden muss, heute, da Coolness ins gewöhnliche Benehmen eingeflossen ist, geben wir uns stets unbeeindruckt und reserviert, respektieren nur, was wir respektieren wollen, haben für Moralisches von oben nicht viel mehr als ein Gähnen übrig. Jeder macht und denkt, was er will. Wir spotten über unsere Präsidenten, empfinden für Polizisten zunächst mal bloß Mitleid und brechen alles in Ironie. Die Rebellion ist heute keine Besonderheit mehr. Die Rebellion gegen die Rebellion schon eher. Wo jeder rebellisch ist, ist der brave Staatsbürger vielleicht der letzte echte Rebell.

Auf die Art stellt die Bewegung der Neos – und das ist der letzte Witz, den ich sie heute ausdruckstanzen lasse – einen Kampf gegen die Liberalität der Gesellschaft vor. Wenn man sie, historisch korrekt, als Negation der Achtundsechziger sieht, wird deutlich, dass das, wogegen die Neos sich wenden, nicht bloß der Inhalt der Revolte ist, sondern insbesondere auch deren Haltung. Neos wollen einen liberalen Zustand der Gesellschaft, aber sie wollen ihn als Zustand, das, was mit ihm unvermeidlich einhergeht – das Happening, der zivile Ungehorsam, die Pluralität des Irrationalen –, das wollen sie nicht. Sie wollen die Freiheit, aber nicht ihre gelebten Formen. Sie wollen die liberale Staatsverfassung, deren Überlegenheit daran ablesbar sei, dass sie auch Widerspruch aushalten und Umgestaltung gestatten kann, wollen aber zugleich, dass alle Menschen genau dieser Generosität wegen auf Widerspruch und Umgestaltung verzichten.

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[1] Die unablässig laufende Rolle, von der die Kolumnen, Essays und Kommentare auf die einschlägigen Orte ihres Treibens herunterpurzeln, stellt ein Material bereit, an dem sich nachvollziehen lässt, wie häufig, wie beinahe zwingend die Pose der Provokation im Verkehr der Neos ist. Ich weise derweil aus Gründen der Anschaulichkeit auf eine aktuelle Spendenkampagne der Achse des Guten hin. Dort erscheint mit jedem neuerlichen Click der Kopf eines ihrer Autoren, während unter diesem gut sichtbar ein die Sprache ihrer Gegner paraphrasierendes Schlagwort zu lesen steht. So bei Vera Lengsfeld: »Staatsfeindin«, Alexander Wendt: »Klugscheißer«, Ulli Kulke: »Klimaleugner«, Henryk M. Broder: »Lobbyjude«, Wolfgang Röhl: »Saboteur«, Dirk Maxeiner: »Verharmloser«, Monika Bittl: »Querulantin«, Oswald Metzger: »Neocon«, Günter Ederer: »Betonkopf« usf. – Was die Kampagne ausdrückt, ist, dass schon der Hass des politischen Gegners ein hinreichender Ausweis der eigenen Trefflichkeit ist. Andernfalls wären die Schlagworte kaum mitteilenswert. Eine Selbstversicherung ex negativo demnach, und das erklärt fürs erste (ehe die Funktion der provokativen Pose zum Ende hin genauer betrachtet wird), warum das Gestische, also die absichtsvolle Beschränkung auf eine bestimmte Textsubjektivität, die das Richtige mehr zu verkörpern als selbst auszusagen hat, bei den Neos eine größere Rolle zu spielen scheint als bei anderen politischen Strömungen.

[2] Ist schon eine Stimmung oft nur der Schatten einer Welthaltung, weil in ihr die Empfindung den Gedanken regiert, so ist die Nachahmung einer Stimmung wie der Schatten eines Schattens. In der Stimmung ist wenigstens noch die Empfindung wahr, in der Nachahmung nicht einmal das mehr. Die Springerjugend sieht an Teilen der Achtundsechziger Generation mit Schrecken, wohin man gelangen kann, wenn man sich weigert, erwachsen zu werden. Daher versucht sie, niemals jung gewesen zu sein, und scheitert dann gleichfalls am Versuch der Reife.

[3] Ein jüngstes Beispiel hierfür gibt ein Essay von Filipp Piatov: Wer das Falsche studiert, wird keinen Job finden. In: Die Welt v. 15. Mai 2015. – Antworten tat Felix Bartels: Was erlaube Strunz? Was wäre, wenn plötzlich alle BWL studierten? In: Neues Deutschland v. 30./31. Mai 2015.

[4] Liberalismus erscheint daher als diejenige Ideologie, die sich mit dem subjektiven Geist des Kapitals am weitreichendsten deckt. Es ist aber genauer der partikulare Charakter des Kapitalismus, seine Atomisierung der gesellschaftlichen Produktion, die im Liberalismus gespiegelt wird. Es gab und gibt ebenso kollektivistische Spielarten des Kapitalismus, den Nationalsozialismus z.B. oder auch den Fordismus, die Sozialdemokratie und eigentlich alle Ansätze, die eine Interessensgemeinschaft von Kapitalist und Arbeiter behaupten. Die Einfalt der liberalen Position liegt darin, den Einzelnen nur gegen das Kollektiv setzen zu können. Man identifiziert so das Kollektiv mit dem Ganzen. Das Kollektiv ist aber nur eine andere Form der Partikularität. Das Ganze bestünde gerade in der Vermittlung des Einzelnen mit dem Kollektiven. Ein Kollektiv ist eine Gruppe, also wie der Einzelne ein Individuum, nur mit einem etwas komplizierteren Innenleben. Es gibt Interessen des Einzelnen, die zu Recht sind, ebenso wie Interessen von Kollektiven, die zu Recht sind. Und es gibt sowohl Einzel- als auch Kollektivinteressen, die zurückgewiesen bzw. eingeschränkt werden können. In der Dualität zwischen Einzelnem und Kollektiv zu bleiben hieße, nicht begreifen zu können, dass der menschliche Geist sich über das Vorhandene hinaus sublimieren kann und die Wahrheit der Gesellschaft ein strukturelles Ganzes ist, das als solches erfasst werden muss.

[5] Bettina Röhl: Was ist konservativ? In: Wirtschaftswoche v. 24. Dezember 2013.

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