Jun 152016
 

Fußball ist, wenn 22 Menschen gegen einen Ball treten und Holland gewinnt. Wenn Holland nicht gewinnt, war es kein Fußball. Folglich. Und in der Tat ist diese EM so attraktiv wie ein Losentscheid. Dass sie so wenig rührt, liegt aber nicht bloß am Fehlen Oranjes, das einmal mehr in voller Schönheit an hauseigenen Rhythmusstörungen gescheitert ist. Am neuen Modus etwa, der das Teilnehmerfeld aufbläht und die Auslesefunktion der Vorrunde abschwächt, was die kleinen und destruktiv spielenden Mannschaften bevorteilt. Die bisherigen Spiele waren denn auch danach.

Und dann wäre noch das deutsche Elend, das gemeinerweise gar nicht mehr so elend ist. Es gab eine Zeit, da war alles in der Ordnung. Mein frühstes Fußballerlebnis ist der 8. Juli 90. Matthäus hatte neues Schuhwerk und tat uns den Gefallen, wenigstens nicht auch noch das Siegtor zu schießen. Ich wusste damals nicht, dass es einen Fußball gibt, den man mit Spannung verfolgt, den der Clubs, und dann noch jene Turniere, die man nur schaut, weil man im Sommer allgemein nicht weiß, was man mit der Zeit anfangen soll. Ich sah also übellaunig das gesamtdeutsche Elend vor Freude über den Rasen torkeln und hielt das Begebnis für wichtig. Die Nation ließ sich von meinen Irrtum anstecken, nur ohne Missvergnügen. Sie hatte sich ohnehin angewöhnt, den mäßigen Vereinsfußball mit dem Erfolg der Nationalelf zu kompensieren.

Mit den Jahren lernt man, die Dinge tiefer zu hängen. Unterhaltsame Niederlagen gegen Dänemark, Bulgarien, Portugal oder Kroation trugen dazu bei. Die selbsternannte Turniermannschaft blieb erfolglos. Von der einen traurigen Ausnahme abgesehen. Das Finale der EM 96 verbrachte ich Beischlaf übend in einer Prager Jugendherberge. Weit weg vom nächsten Fernseher. Es war die beste Entscheidung meines Lebens.

98 begann der Siegeszug des schönen Spiels. Zunächst über ein defensiv gut organsiertes Frankreich, dessen Offensive noch bloß auf individueller Meisterschaft beruhte. Auf dem Höhepunkt mit dem spanischen Fußball, der als ideale Vermittlung individueller Klasse und taktischer Organisation gelten kann. Die Innovation lag darin, zwischen den bekannten Alternativen Mann- und Raumdeckung eine dritte spielen, die man vielleicht Balldeckung nennen kann: Man sichert nicht den Raum, sondern folgt dem Ball, geht nicht gegen den Spieler, sondern auf die Passwege. Die Gewohnheit, Spielweisen mittels Formationen (4-3-3 usw.) zu beschreiben, wird damit so sinnvoll wie der Versuch, einen Spielfilm anhand seines ersten Frames zu rezensieren.

Die Deutschen hatten traditionell weder das taktische Feintuning noch die technische Brillanz, an erwähnter Schönheit teilzuhaben. Unter Löw aber wurden bald sämtliche Elemente des modernen Fußballs aufgenommen: intelligentes, gut organisiertes Pressing, Zirkulation oder schnelles Umschalten. Das furchtbarste, was sich über den WM-Sieg 2014 sagen lässt, ist, dass er verdient war. Seitdem ist die Welt aus den Fugen, und es wird schwer, die eingeübte Abneigung gegen diese Elf durchzuhalten.

Schwer, aber nicht unmöglich.

zuerst: ND-online, 15.6.2016

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