»Pride« spielt im Gestern und handelt von heute
(keine Rezension)
Man kann »Pride«, diese sehr britische Komödie, nicht sehen, ohne sich in manchen Momenten enerviert im Sessel hin und her zu wälzen. Man möchte auf Pause drücken, lässt es doch, füllt Whisky nach und schaut kopfschüttelnd weiter. Und einen Moment später schafft der Film spielend, einem die Tränen in die Augen zu treiben. Weils so schön ist, und so traurig. Und gelungen. Obwohl er kitschig ist und naiv, weil er kitschig ist und naiv. Ich rede also von einem wirkungsvollen Stück Kino. Da der Plot ohne Naivität nicht funktionieren könnte und der Film andernfalls Gefahr liefe, in gnadenlos verlaberten, analytisch aufgepumpten Szenen zu ertrinken, tut er gut daran, diese Naivität auch gleich hemmungslos einzusetzen.
Naiv ist er, weil er das Problem der Homophobie im Grunde herunterspielt. Er zeigt, soll das heißen, es nicht als sich immer wieder neu erfindendes, affektiv stark aufgeladenes Ressentiment der Regel gegen die Abweichung, sondern als historisch und überwindbar. Eine Gruppe von LGBT-Streitern beschließt im England des großen Bergarbeiterstreiks, im Jahr 1984, dem letzten Jahr, bevor Thatchers brave new world endgültig alles andere unter sich begrub, die kämpfenden Arbeiter zu unterstützen. Die wiederum sind davon irgendwas zwischen überrascht und verstört, doch bald siegen Liebe und Sympathie. Homophobie kommt in dieser Handlung nur als verschwindende (gleichwohl wirkmächtige) Randerscheinung vor. Der homophobe Widerstand in der walisischen Gemeinde, um die es geht, wird gering und geringer, besteht im harten Kern aus bloß einer Familie, und siegt am Ende lediglich, weil Opportunismus und Existenzangst um sich greifen und konzertierte Aktionen von außen die Einheit von Arbeiter- und Schwulenbewegung stören. Homophobie erscheint so vor allem als Mangel an Erfahrung mit Homosexuellen.
Doch »Pride« hat sich einmal entschieden, die Welt so zu zeigen, als überwindbares Elend und als ein mögliches großes Fest im Elend, und wenn man wo ungehemmt utopisch sein darf, dann wohl zuerst in der Kunst. Ich will sagen: Eigentlich ausschließlich in der Kunst. Mir scheint die Entscheidung für die uneingeschränkt heitere Art, diesen Stoff anzupacken, auch deswegen klug zu sein, weil jeder, der diesen Film aus dem Jahr 2014 sieht, den Ausgang der Geschichte kennt. Wir wissen, 1984 war das Jahr, in dem der britischen Arbeiterbewegung das Genick gebrochen wurde, in dem der Aufschwung eines Teils des Landes begann, aber zur Bedingung eines Falls des anderen Teils in die Armut. Wir wissen also, die Geschichte hat kein Happy End, auf ihr liegt von Beginn an dieser Schatten, und die damit verbundene Trübsal konnte, wie ich denke, in der Tat nur durch den komischen Erzähltypus bewältigt werden.
»Pride« handelt vom Zusammengehen zweier Widerstandsbewegungen, deren Ziele oftmals windschief, manchmal auch konträr sind. Dieses Verhältnis mit Wucht zur Anschauung gebracht zu haben halte ich für das große Verdienst dieses Films, es ist mithin das, was mich vor allem an ihm interessiert. Was dort nämlich in, wie gesagt teils naiver Vermittlung, zur Darstellung gebracht wird, ist eine Vertiefung, mit der wir nicht nur heute noch, sondern vor allem heute zu kämpfen haben. Denn wer auf den Film blickt und glaubt, dass wir aus einer überlegenen Perspektive auf traurige Vorzeiten sehen, übersieht, dass der eigentliche Widerspruch, den der Film behandelt, die Unverträglichkeit verschiedener Seiten des Humanen nämlich, heute noch stärker und regelrecht Institution geworden ist.
Am Anfang des Films steht eine Idee, ausgesprochen von Mark Ashton: Die Bergarbeiter stehen als Außenseiter und Geächtete, als von der Mitte der Gesellschaft, vom Staat, den Medien und sonstigen Gewalten an den Rand Gedrängte in einer ganz ähnlichen Lage wie die Homosexuellen. Ashton, genauer die Filmfigur dieses Namens, entdeckt in den Streikenden wieder, was er selbst kennt. Worin Arbeiter- und Schwulenbewegung sich unterscheiden, klammert er aus. Doch genau das macht die Schwierigkeit, die kenntlich erst am Fortgang der Handlung, der Umsetzung seiner Idee werden kann. Das Verhältnis beider Bewegungen zueinander ist nicht bloß von Konkurrenz um Aufmerksamkeit oder verschiedenen, weil partikularen Interessen geprägt. Der Charakter ihrer Kämpfe unterscheidet sich auch in der Stoßrichtung. Die Arbeiterbewegung ist genuin demokratisch, sie artikuliert das Interesse einer Mehrheit. Zumindest einer großen Gruppe, einer, die als normal verstanden werden kann. Kapitalistische Strukturen und das damit zusammenhängende Ensemble ideologischer Angebote besorgen allerdings, dass diese Mehrheit zumindest nicht in dem Maße Macht hat, wie sie Mehrheit ist. Doch das Proletariat ist auf kultureller Ebene mit normsetzend, sein Horizont, seine Liturgien und gedanklichen Gestalten prägen den gesellschaftlichen Nexus, und man kann es nicht als Randgruppe auffassen.
Die Schwulenbewegung artikuliert die Interessen einer Minderheit, ihr Impuls ist genuin liberal und damit dem von demokratischen Bewegungen entgegengesetzt. Das wirkt sich auf das Selbstverständnis ebenso aus wie auf die Kampfform. Es geht eher um das selbstbewusste Setzen der eigenen Belange als um ein gerechtes Gesamtverhältnis, da selbst in diesem Gesamtverhältnis die Minderheit noch Minderheit bliebe. Eine Strategie wie jene, die in »Pride« formuliert wird, als die Thatcher ergebene Presse Homosexuelle als pervers bezeichnet – solche Begriffe der Ächtung aufzunehmen und mit Stolz vor sich her zu tragen, um ihnen so die Schlagkraft zu nehmen, die Begriffe selbst damit zu normalisieren –, eine solche Strategie wäre für eine Mehrheitsbewegung gar nicht geeignet. Nie etwa könnte sinnvoll werden, dass die heutige Arbeiterbewegung in England sich den Ausdruck chavs positiv aneignete.
Die Perspektive des Außenseiters hat was für sich. Die Gefahr der Borniertheit durch den eigenen Standort, der Glaube an die Verallgemeinerbarkeit der höchsteigenen Entscheidungen und Neigungen besteht gewiss, doch das gilt für die Standorte der Mehrheit ebenso wie für die exzentrischen. Die Abweichung aber gibt dem Betroffenen einen anderen Vorteil. Er lernt früh natürliche Voraussetzungen, die gar keine sind, als bloß scheinbare Selbstverständlichkeiten kennen. Das gibt dem Außenseiter einen intellektuellen Vorsprung, den er natürlich ebenso ungenutzt lassen kann, wie einer, der sich in den Sphären der Mehrheit bewegt, mit etwas gedanklicher Anstrengung den eingeborenen Nachteil der gesellschaftlichen Mitte, ihre Reflexionslosigkeit, überwinden kann. Auf große Mengen gerechnet erklärt das aber, warum die Arbeiterbewegung, als eine der Mehrheit, nie ganz ohne regressive Züge, ohne die zahlreichen Dummheiten der gesellschaftlichen Mitte wird sein können. Hinzu kommen im besonderen Fall des proletarischen Milieus einige Einschränkungen, die mit Mangel an Bildung und dem Charakter der handgreiflichen, naturalen Arbeitsweisen zu tun haben. Beides erhöht die Anfälligkeit für rassistische, sexistische, homophobe, antisemitische und allerlei weitere Ressentiments.
Soweit sich das so verhält, ist der Film »Pride«, der nicht den Fehler begeht, Diskurs im filmischen Gewand werden zu wollen, mit seinen absichtlich einfachen Mitteln auf der Höhe der Sache. Indessen er im beschriebenen Verhältnis etwas andeutet, das erst in den folgenden Jahrzehnten sich ganz entfaltet hat, kann er auf Höhe der Sache jedoch nicht sein. Er setzt als Historie einen Optimismus, von dem wir wissen, dass er nicht begründet gewesen sein wird. Denn die Arbeiterbewegung und die emanzipativen Strömungen sind heute weiter denn je auseinandergerückt. Die Arbeiterbewegung hat nicht bloß den Kampf gegen Thatcher, sondern auch den gegen sich selbst verloren. Und die Emanzipationsbewegungen operieren schon lange nicht mehr mit universellen Ansätzen, sondern eine jede von ihnen verhandelt bloß noch ihre partikularen Ziele.
Klassenkampf und Emanzipation nehmen verschiedene Seiten des Humanen in Anspruch. Indem aber das Humane nie in einer Idee sich erschöpfen kann, sondern immer schon plural ist, und daher ideal, das heißt in sich widersprüchlich, weil unmöglich alle Seiten des Humanen zugleich und ungeschmälert verwirklicht werden können, und gleichwohl doch immer verwirklicht werden müssen (und keine weniger als die anderen) – indem es also derart um die Sache steht, werden der soziale Kampf für universelle Gerechtigkeit und der emanzipative des Individuums gegen die Unterdrückung durch die Mehrheit stets unvollständig bleiben, solange sie voneinander absehen.
In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich der Kapitalismus kaum, seine Strategien hingegen ziemlich verändert. Der Thatcherismus war noch wesentlich borniert und von Ressentiments gegen Randgruppen getrieben. Das ist heute anders. Die Idee, den Kampf für die Emanzipation des Individuums gegen die Arbeiterbewegung einzusetzen, ist nachgerade genial. Ich sage das mit aller gebotenen Bewunderung, die ich als Kommunist haben muss, wenn meine Feinde etwas tun, das verheerende Wirkung zeigt. Ich bewundere das, wie Ulysses Grant den General Lee bewundert haben dürfte. Die liberale und/oder neokonservative Nomenklatura – ich habe ihre schillerndste Abteilung einmal als »Neos« beschrieben – hat, intuitiv oder tatsächlich, begriffen, dass der Spalt zwischen sozialem und emanzipativem Kampf vertieft werden kann, indem sie genau das, was die Ressentiments von Proletariat und Arbeiterbewegung provoziert (und zu Thatchers Zeiten eben auch ihre eigenen mit), zu ihrem Ziel und ihrer Herzensangelegenheit macht. Man gibt sich modern und aufgeklärt, thematisiert den Antisemitismus der Linken, den Rassismus der Unterschicht, Homophobie, Sexismus und Mythos der heiligen Arbeit in den betreffenden Milieus. Aber natürlich nicht, um diese Klasse und ihre Bewegung zu bessern, sondern um sich ihre Schwächen und ihre Dummheit zunutze zu machen.
Die Linke hatte gegen diese Strategie keine Mittel. Sie spaltete sich in einen Teil, der sich dem Emanzipativen anschloss, und einen, der sich weiter an soziale Fragen hält. Ich behaupte nicht, dass es keine Kommunisten gebe, die über diese Spaltung unglücklich sind. Emanzipation und Klassenkampf zu vereinen, darauf könnte sich wohl ein Großteil der Linken einigen. Doch was man tut und was man meint, kann sich unterscheiden. Als organisierter Zusammenhang finden beide Strebungen heute nicht mehr statt. In der sogenannten Griechenlandkrise, ich wähle ein Beispiel für viele, war ein durch die Struktur der EU bedingter Konflikt zweier Mitgliedsstaaten erkennbar, die zugleich jeweils von Parteien regiert wurden, die diesen Konflikt für ihr politisches Programm ausschlachteten. Die Rezeption des Konflikts spiegelte ziemlich genau wieder, was die Kommentatoren jeweils an diesem Konflikt interessierte. Wer über die finanzpolitische Struktur der EU (den Widerspruch zwischen getrennten Haushalten und einheitlicher Währung) schrieb, schwieg in aller Regel zu den ideologischen Abgründen von Syriza, und wer den Antisemitismus in Syriza aufs Tableau brachte, hatte in aller Regel wenig zur Struktur des Konflikts selbst vorzubringen. Man hielt sich hier, wie auch sonst zumeist, an die strikte Trennung von Emanzipation und Klassenkampf, indem man entweder die ideologiekritische oder die historisch-materialistische Linse vor die Augen setzte.
Indem »Pride« zu einen Punkt der Vergangenheit reist, an dem diese heute fester als je durchgesetzte Spaltung für einen kurzen Moment überwunden scheint, entsteht ein niederschmetternder und dennoch mitreißender Effekt. Wir wissen, dass diese Ehe so schnell geschieden werden wird wie die berüchtigten Schnapshochzeiten in Las Vegas, aber dadurch entsteht ein Arrangement von Unwirklichkeit, der historische Ort wird zum Nicht-Ort, zu einer Utopie, die zeigt, wie sich etwas, das vielleicht, mutandis mutatis, einst noch passieren könnte, dort ereignet hat, wo es doch nicht passiert ist.
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