Apr 302020
 

Wo Prävention einen empirischen Beweis erhält, hat sie versagt

Es macht keinen Spaß, recht zu behalten. Es geht ja um was. Vor drei Wochen, als die Wirkung des Lockdowns noch unsichtbar war und die große Mehrheit der Bevölkerung hinter den Maßnahmen stand, schien vielen unvorstellbar, dass die Stimmung kippen könnte. Jetzt tut sies.

Die Einschätzung der Pandemie hat sich verändert. Die ersten bemühen schon wieder Grippe-Vergleiche. Die Gangelt-Studie soll ihrem Sponsorenauftrag gemäß beweisen, dass wir auf bestem Weg zur Herdenimmunität sind. An Stammtischen wie auf Regierungsebene kursiert die Auffassung, dass der Lockdown gar nicht nötig war. Allgemein glaubt man, mit der erstmaligen Senkung des R0-Werts unter 1 das Ziel endgültig erreicht zu haben. Armin Laschet verkündet, was er vor Ablauf der Inkubationszeit noch gar nicht wissen kann: die Öffnung der Schulen in NRW sei »gut gelaufen«. Bleibt zu hoffen, dass die Wirklichkeit diese Order auch erhalten hat.

Es geht bei all dem noch nicht mal um Details stochastischer Modellrechnungen, nicht um den genauen Stand der Virusforschung oder ums vollständige Erfassen demographischer, logistischer, infrastruktureller Systeme. Es geht darum, dass elementare Zusammenhänge missachtet werden. Epidemologie ist ein Fach, das in seinen arithmetischen Abläufen komplex ist, in seinen Grundzügen derweil logisch nachvollzogen werden kann. Der Reflexionsausfall hat seinen Grund weniger in einem Mangel an Wissen (der sich ja beheben ließe). Er kommt aus der affektiven Besetzung des Themas. Die Aussicht auf ein monatelanges Brachliegen zeugt bei den Menschen so viel Angst, dass viele nicht mehr bereit sind, die Wirklichkeit in ihre Überlegungen einzubeziehen.

Wir hatten eine kurze Phase ostentativer, gewiss andere politische Widersprüche glättender, doch notwendiger Zivilcourage. Wir hatten den Corona-Konsens. Jetzt sind wir in den Zustand kollektiver Verdrängung eingetreten. Wissenschaft und Humanität werden durch die Propaganda der Wirtschaftsverbände und das volkstümliche Gefühl derer, die Hegel einst als »Freiheitsgesindel« bezeichnet hat, in die Zange genommen. Diejenigen, die immer bloß sehen, was sie glauben, liefern denen, die immer bloß glauben, was sie sehen, die Argumente. Ohne Henrik Streeck kein Jakob Augstein. Ohne Michael Hüther kein Armin Laschet.

Der Viruskundler Christian Drosten, der seine Linie gefunden hat, seit er den Gedanken zulässt, dass die Regierung nicht ausschließlich aus humanen Gründen agiert, sprach im Guardian vom »prevention paradox«. Die Leute außerhalb der Prävalenzgebiete sehen die sinkenden Fallzahlen, die bloß zur Hälfte gefüllten Intensivstationen und ziehen ihre Schlüsse. Ein Blick nach New York (oder Italien oder Wuhan) könnte ihnen zur Vorsicht raten. Aber dazu will es nicht reichen.

Prevention paradox, das meint: Man ergreift Maßnahmen gegen eine sich abzeichnende Katastrophe. Man tut das gegen den Widerstand von Leuten, die die Gefahr leugnen. Die Katastrophe bleibt aus. Die Leugner nehmen dieses Ausbleiben, das aufgrund der Maßnahmen, die sie bekämpft haben, erst vorliegt, als Argument dafür, dass sie recht hatten. In der Prävention scheiden sich Theorie und Praxis, es geht darum, eben das, was sich theoretisch konstatieren lässt, nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Wo die Politik der Sicherheit einen empirischen Beweis erhält, hat sie versagt. Ich sagte ja, es macht keinen Spaß, recht zu behalten.

In der medialen Sphäre bildet Drosten zur Zeit mit Karl Lauterbach, Michael Meyer-Hermann, Mai Thi Nguyen-Kim und wenigen anderen eine Art Kohorte der Vernunft. Sie haben die Zahlen auf ihrer Seite, die Logik allemal, und im Gegensatz zu denen, die ihnen widersprechen, stehen sie nicht im Verdacht, als Lobbyisten wirtschaftlicher Verbände in der Spur zu sein. Niemand hat einen Nutzen vom Lockdown, keine Lobbygruppe, keine soziale Schicht. Nur die Menschen insgesamt, denn es ist allgemein von Vorteil, nicht zu sterben.

Dabei behauptet keiner der Erwähnten, dass er sicher wisse, was passieren wird. Eine solche Sicherheit wäre unerreichbar. Nur, man muss nicht erst einen unumstößlichen Beweis erhalten, dass wir garantiert New Yorker Zustände bekommen werden, um so zu handeln, dass wir sie keinesfalls bekommen. Möglich, dass Maskenpflicht allein den Effekt eines Lockdowns kompensieren kann. Möglich auch, dass Kinder weniger infektiös als Erwachsene sind. Die vom Kapital bestellten Politiker schlagen vor, so zu handeln, als sei das schon sicher der Fall.

Mit frühzeitig falsch gestellten Weichen haben wir inzwischen Erfahrung. Im Januar wurde das Coronavirus zu einem chinesischen Problem erklärt, im Februar, dann doch nach Europa gelangt, als Erkältung verharmlost, und im März die Möglichkeit seiner Eindämmung verpasst. Im April hat man im wesentlichen richtig gehandelt. Aufgrund sozialer Distanz, Lockdown und Etablierung von Masken in öffentlichen Räumen kam die Lage unter Kontrolle. Die Chance, zu einer Eindämmungspolitik zurückzukehren, nach dem Bilde Chinas oder Südkoreas, lag in der Luft. Man entschied sich, Schulen und Geschäfte zu öffnen. Friseure dürfen wieder schnippeln, Möbelhäuser wieder glänzen, und selbst die Fortsetzung der Bundesliga wird ernsthaft diskutiert.

Niemand bestreitet, dass jeder Lockdown ein extremer Zustand ist. Er vernichtet Lebensentwürfe, hat Erwerbssorgen zur Folge, vermehrt häusliche Gewalt, Depressionen und Einsamkeit. Auch deswegen muss das große Ziel der Krisenbewältigung die Eindämmung sein. Doch dazu macht sich nötig, dass Infektionsherde lokal identifiziert und bei Bemerken von Ausbrüchen bestimmte Gebiete ad hoc abgeriegelt werden können. Wenn die Infektionen überall im Land sind, wird Eindämmung unmöglich. Der Lockdown ist (in Verbindung mit anderen Maßnahmen: vor allem den Atemmasken, nächsthin der Tracing-App sowie extensiven Testungen) das entscheidende Mittel, zur Eindämmung zu kommen. Gerade seine konsequente Umsetzung wäre daher die Voraussetzung seiner Aufhebung. Auf diesem Wege kann er überwunden werden. Wer ihn dagegen beseitigen will, indem er ihn beseitigt, sollte wissen, was er damit riskiert.

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in: junge Welt v. 30. April 2020.

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