Jun 062020
 

Kritik an Fake News leidet am selben Webfehler wie ihr Gegenstand

Als die Redaktion mich fragte, was mir zu Rezo einfalle, stand ich erstmal auf dem Schlauch. Und damit sind wir schon mittendrin. Rezo würde diesen Rezzo-Witz nicht verstehen, während ich nicht einmal weiß, dass man seinen Namen anders ausspricht, und überhaupt aus dem, was Influencer bei Youtube so dahinreden, selten schlau werde. Das liegt vielleicht an der hektischen Sprechweise dieser Leute und gewiss an den behandelten Problemen, die für mich meist gar keine sind. Bei Rezos aktuellem Video (»Die Zerstörung der Presse«) ist das etwas anders. Hier nimmt er sich ein hinlänglich bekanntes Thema vor, das schwierige Verhältnis von Medien und Wahrheit.

Es kam auf nach der jüngsten Lügenoffensive der BILD-Zeitung – ich meine die gegen Christian Drosten –, entsetzt davon zu sprechen, dass der Springer-Konzern hier eine Grenze überschritten habe. Dabei hatten Julian Reichelt und sein Adlatus Filipp Piatov nichts anderes getan als das, was BILD-Menschen eben so tun. Auch Rezo ist gehörig bestürzt. Dass Influencer nicht wissen, wer Hans Esser war, ist ja mehr ihr Problem als meins. Doch Medienmenschen über 30 sollten so etwas wie ein Gedächtnis besitzen. Wenn sie sich in Vergessenheit verlieren, hat das präzis mit dem zu tun, worum es mir heute geht, mit der Blindheit, die ein Betrieb selbst bei denjenigen seiner Teilnehmer zeugt, die redlich bemüht sind, seine Fehlerstellen aufzuspüren.

Man kann das Video nicht wie eine Rede Thomas Manns behandeln; jeden Satz ausbreiten, jedes Wort wenden. Rezo ist nicht von der trüben Sorte, man kommt schon auf Gedanken, wenn man ihm zuhört, aber vielleicht nicht auf die, die er gern hätte. Wenn man von links oben auf den Betrieb guckt, sollte das auch nicht anders sein. Denn dieser Rezo gehört dazu. Er sagt, dass die etablierten Medien eben das, was die alternativen Medien mit ihren Verschwörungsmythen produzieren, seit langer Zeit vorturnen. Die Verbreitung von Fake News sei allergewöhnlichstes Zeitungsgeschäft, und durchaus nicht exklusiv in der Unterleibspresse, den bunten Guck-Zeitungen der Häuser Springer und Bauer. Durch beständiges Verbreiten von Falschmeldungen oder scheinheilig in Fragen verpackten Unterstellungen sowie das systematische Missachten von Persönlichkeitsrechten sei ein geistiges Umfeld geschaffen worden, in dem die Menschen sich daran gewöhnt haben, dass Medienberichte nicht wahr sein müssen. Damit habe sich ein ubiquitäres Misstrauen festgesetzt, das Bild einer Lügenpresse, das Kanäle wie KenFM sich zunutze machen, indem sie ein und dieselben Methoden nun in die entgegengesetzte Richtung führen.

So weit, so richtig. So richtig, so bekannt. »Es ist gewiß schlau«, notierte Peter Hacks vor mehr als 30 Jahren, »die Leute mit großem Aufwand zu beschwindeln. Aber die hohe Schule der Schlauheit ist, wenn man ihnen den Einfall aus dem Kopf schlägt, sich nach der Wahrheit zu erkundigen.« Wo Hacks indessen auf die volkstümlichen Abgüsse des an sich selbst gelangweilten späten Bürgertums zielt, das die postmoderne Denkverwirrung hervorgebracht hat, wo der Wahrheitsbegriff zerstört und Diskurs chronisch mit Theorie verwechselt wird, bleibt Rezo ganz bei dem, was sich vor seinen Augen auftut. Er hat schon recht, doch bloß in den flachsten Gefilden.

Das beginnt mit der unterlassenen Differenz von Lüge und Selbsttäuschung. Journalismus hat Linie, macht Kampagne, wird von Menschen betrieben. Medien aber müssen nicht gezielt desinformieren, um Unwahrheiten zu verbreiten. Ideologie deformiert immer, und dass sie das tut, ist kein Unfall. Die Funktion der Medien liegt gerade nicht darin, Information zu vermitteln. Medien sind Einrichtungen, durch die die Gesellschaft sich mit sich selbst unterhält, in denen sie sich selbst gegenüber ausdrückt, was sie von sich hält. Die Nachrichten, also die Informationen, spielen hierbei bloß das Mittel, sie sind nicht der Zweck. Spannender als die naive Annahme, dass Medien ihren Job nicht tun, solange sie Unzutreffendes verbreiten, wäre die Frage, ob die verbreiteten Unzulänglichkeiten jenem Selbstverständnis entsprechen. Ideologie ist an der Lüge das Wahre. Auch Selbsttäuschung nämlich ist ein Handwerk und kann mit unterschiedlichem Geschick betrieben werden. Und niemand deformiert sein Material einfach so, er sagt dabei etwas aus über sich. Was er will, was er denkt, wo er herkommt, wo er bleibt.

Kann man vom Selbstverständnis einer Gesellschaft auf das Verständnis der Gesellschaft kommen? Man kann. Wenn man kann. Jedes Selbstverständnis einer Gesellschaft ist partikular. Es gibt nicht das eine herrschende Bewusstsein, auch nicht das eine Bewusstsein der Herrschenden. Ideologien machen stets ein synchrones System, ein Ensemble von Antworten auf die Fragen einer Zeit.

Jede dieser Antworten ist unzulänglich, weil sie nicht über die Borniertheit der Epoche hinausweist, vielmehr an den blinden Flecken und Irrtümern der Gesellschaft teilhat, durch die sie hervorgebracht wurde. Der Liberalismus schlägt vor, das Glücksversprechen des Kapitalismus allein am Geschick des siegenden Einzelnen zu messen. Der Konservatismus will die ökonomische Wucht, die alles Überholte planiert, durch kulturelle Beständigkeit lindern. Die grüne Ideologie verwechselt die Humanisierung der Produktion mit der Rückbesinnung auf die Natur. Die Sozialdemokratie folgt dem rührenden Ansatz, inmitten der Profitproduktion soziale Gerechtigkeit herzustellen, durch Versöhnung von Kapital und Arbeit. Der Faschismus stellt in der Volksgemeinschaft diese Idee der Sozialpartnerschaft auf biologischen Boden, erweist sich also als missvergnügte Spielart der Sozialdemokratie. Der Anarchismus glaubt, in der Wiederherstellung einfacher Warenproduktion den Kapitalismus rück-überwinden zu können.

Jede, wie gesagt: Jede dieser Antworten ist unzulänglich, weil sie sich sämtlich innerhalb des Nexus bewegen, den die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Produktionsweise und ihren politischen Verkehrsformen ausbildet. Doch selbst wenn man sie alle übereinander legte, pluralistisch annehmend, dass der Streit zwischen diesen Teilantworten Höheres hervorbringen müsse, wäre das, was daraus hervorginge, nicht die Wahrheit über die bürgerliche Gesellschaft. Es wäre allenfalls eine Art Gesamtselbsttäuschung. Aus der etwas zu gewinnen, das könnte sie selbst nicht leisten. Hierzu bedarf es eines Griffs von außen oder, wenn der nicht möglich ist, wenigstens eines Griffs nach außen: einer Realität des Sozialismus (die wir schon hatten) oder wenigstens einer utopischen Idee dahin (denn ein Vorbegriff ist besser als gar keiner). Auch der Sozialismus bringt Irrtümer hervor. Aber nur über sich selbst. Über den Kapitalismus irrt er nicht. Wissen, wissen wir durch Hegel, ist Nacht. Und im Sozialismus ist der Kapitalismus schon Nacht.

Was dagegen im platten Dasein als Wissen gilt, ist eine dazu erniedrigte Gestalt. So klein kann sich kein reales Verhältnis machen, um in die Module der etablierten oder alternativen Medien zu passen. Bei der Verschwörungstheorie scheint das nur besonders offensichtlich, denn sie ist die Methode der Depravierten und trägt von Anbeginn das Mal des Gegen-Standpunkts. Die Probleme liegen schon dort, wo eine Unterscheidung zwischen etabliert und alternativ noch gar nicht getroffen werden kann. Der Medienbetrieb erzeugt eine nicht überschaubare Masse an Material, mit dessen Bewältigung auch jede andere Methode überfordert wäre. Was ist hier noch nachprüfbar? Was mit Gewissheit festzuhalten? Wir leben in einem Meer aus Informationen, und jede widerspricht der anderen: unbestrittene Fakten, relevante und nicht relevante, halbrichtige Information, manipulativ formulierte Informationen, Raunen, vorsätzlich in die Welt gesetzte Lügen, Vermutungen, die als sicher ausgegeben werden – praktisch jede Information ist zugleich Desinformation. Es scheint unmöglich, selbst bei äußerstem Bemühen, jedes Element, mit dem man arbeitet, sei es beim Schreiben von Texten oder bei der schnöden Meinungsbildung, auf seine Triftigkeit zu prüfen. Wer versucht, aus diesem Meer etwas zu kultivieren, kann auch gleich aus Scheiße Bonbon machen.

Nach dem Materialproblem stellt sich das der Methode, und auch hier, wenn man streng schaut, unterscheidet sich die Verschwörungstheorie nicht elementar von Zugriffen der etablierten Medien.

Die Unzulänglichkeiten sind bekannt. Eristik ersetzt ein stimmiges Kalkül. Doppelte Standards werden zum Standard, klassische Fehlschlüsse (petitio principii, hysteron proteron, non sequitur, tertium non datur) zu gewöhnlichen Verfahren, die Borniertheit durch den eigenen Standpunkt zum Leitsatz jeglicher politischer Irrationalität: »Weil ich eins bin, sind auch meine Feinde eins«. Dass durch sämtliche Fraktionen hindurch Selektion des Materials nach Maßgabe des Beweisziels, Hyperskepsis gegen die Version der Gegenseite, unkritisches Durchwinken der eigenen Version vorherrschen, muss hier, da offensichtlich, nicht belegt werden.

Die Unzulänglichkeit aber bleibt auch dort, wo argumentativ einigermaßen sauber gearbeitet wurde. Das Niveau des historischen Materialismus wird kaum je erreicht. Und ich will diesen Begriff hier nicht im engsten Sinne verstanden wissen, sondern in dem einer allgemeinen Orientierung auf kulturelle, soziologische, ökonomische, politische Zusammenhänge der Formation. Wer den Charakter einer Gesellschaft erkannt hat, kann ihre Grenzen, Tendenzen und Bewegungsformen einschätzen, die Schwerpunkte, die sie setzt, die Opfer, die sie fordert. Daher auch die Unfähigkeit der Verschwörungstheorie, das Handeln des politischen Gegners in den Kategorien der Gesittung zu bestimmen. Es darf immer nur das Bösartige als solches sein, das zur Erklärung herangezogen wird. Für Corona-Zweifler handelt Bill Gates nicht, weil er Kapitalist ist, er hat einen sinistren Plan, die Weltbevölkerung durchzuimpfen und damit zu dezimieren. Politikverständnis auf Infinity-War-Niveau.

Nur worin eigentlich unterscheidet sich hiervon die etablierte Presse – etwa bei der Lust, mit der sie auf das bauernschlaue Spiel der Charaktermaske Donald Trump hereinfällt? Eines Feindes, auf den sich alle einigen können, dessen debile Kapricen ebenso ablenken wie seine zur Schau gestellte Bosheit. Hinter diesem Charakter verschwindet der Charakter der Gesellschaft, was ziemlich genau die Formel aller Verschwörungstheorie ausmacht, die personalisiert, wo sie analysieren sollte. Wer hingegen die Systemfrage stellt, kann die Unmenschlichkeit des Kapitalismus auch dann ableiten, wenn er für einen Moment nicht unterstellt, dass an den Hebeln der Macht ausschließlich Leute sitzen, die nichts anderes im Kopf haben als die Menschheit auszurotten.

Es ist also nicht der Hang zu Fake News, der das Gemeinsame von etablierten und alternativen Medien ausmacht; es ist ebenso die Kritik daran. Der Begriff schon leitet in die Irre. Verschwörungstheorie, indem sie gesellschaftliche Strukturen und Bewegungsformen missachtet und personalisiert, wo es um Herrschaftsverhältnisse geht, klebt am Faktum, und dann ist es im Grunde gleich, ob das Faktum wahr ist oder falsch. »Wenn eine Wahrheit«, schreibt Oscar Wilde, »zum Faktum wird, verliert sie jeden intellektuellen Wert.« Wahrheit ist Zusammenhang, Wahrheit ist, woraus etwas folgt.

Aus der Information, wer während welcher Unruhen zuerst geschossen hat, wer hinter jenem Anschlag steckt, wer während dieser Konferenz mit wem im Hinterzimmer verschwunden ist, folgt gar nichts. Die Wer-Wann-Was-Ebene bleibt, selbst wenn sie nicht der Überprüfung entzogen wäre, arbiträr. Aus ihr was Relevantes abzuleiten, gleicht dem Versuch, aus dem Duden die Grammatik der deutschen Sprache zu ermitteln. Es hat schon zu tun damit, doch man kommt nie auf die syntaktischen Beziehungen. Am Ende kennt man jedes Wort und kann doch nicht sprechen.

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in: junge Welt v. 6. Juni 2020.

 

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