Felix Bartels

Jul 272019
 

»Ein ganz gewöhnlicher Held«

Im Mittelpunkt des Dramas steht ein Mann, der eine zweite Chance erhalten hat. Die Rede ist von Stuart Goodson, der eine Zeit lang obdachlos war und heute in einer öffentlichen Bibliothek arbeitet. Die Rede könnte auch sein von Emilio Estevez, der Stuart Goodson erdacht hat und ihn selbst spielt. Er, der im Kino nach frühen Erfolgen lange nicht mehr vorkam, kehrt jetzt zurück, beinah als Wiedergänger seines Vaters Martin Sheen, dem er nicht bloß ähnlicher sieht denn je, dessen Würde und Ernsthaftigkeit in sein Spiel eingegangen scheint. Estevez verkörpert die sanfte Unerbittlichkeit Stuarts so gut, dass der Realismus der Handlung an keinem Punkt Schaden nimmt. Continue reading »

Jul 092019
 

»Kursk«

So eigenartig, dass Thomas Vinterberg sich überhaupt dieses Stoffes bemächtigt, so folgerichtig scheint, dass er – wenn nun schon einen U-Boot-Film – gerade diesen dreht. Das Genre hat bislang wenig Gediegenes und eigentlich immer dasselbe hervorgebracht. Meist geht es um eine Art Duell, den Kampf eines Mannes gegen einen anderen oder gegen eine übermächtige Flotte. »Duell im Atlantik« (1957), »U 23« (1958), »Das Boot« (1981) oder »Jagd auf Roter Oktober« (1990) erzählen diesen Kampf ganz konventionell, während »Crimson Tide« (1995) und »Black Sea« (2014) das Duell immerhin schon ins Innere des U-Boots verlegen. Wo diese Art Helden gezeugt werden, kann gedankliche Tiefe selten mit der ozeanischen mithalten. Continue reading »

Jun 292019
 

Ich muss doch noch etwas breit werden heute Abend. Wenn man den ganzen Tag Bücher gesetzt hat, bleibt für die Nacht ein Durst nach Inhalt. Ich entschuldige mich bei allen, besonders bei der Ideologiekritik, die immer so niedlich zusammenzuckt, sobald es um Inhalte geht. Solche Dinge müsste man nicht ausstellen, wenn sie nicht ungemein stellvertretend für Zeit und Zustand der in ihr Verhafteten wären. Statt sich des Umstands zu freuen, dass eine Aktivistin Fidel Castro zitiert, kommentiert ein erklärter Kommunist den Vorgang um Carola Rackete wie folgt: Continue reading »

Jun 272019
 

»Five Fingers for Marseilles«

»Die einzige Art Veränderung hier ist die Zuspitzung.« Wenn so ein Satz in einem südafrikanischen Film fällt, will das was heißen. Vielleicht, dass die Überwindung der Apartheid zugleich den Abbruch einer umfassenderen Entwicklung markierte, einer, die über die juristische Form hinausgeht. Dieser Film spielt, durch einen Sprung von 20 Jahren, in zwei verschiedenen Zeiten, und zugleich spielt er mit ihnen, indem sich das alte und das neue Südafrika kaum unterscheiden: Kein Fortschritt, keine Prosperität, kein Zuwachs an Glück wird am Gefälle kenntlich. Nur die Schusswaffen sind moderner. Continue reading »

Jun 192019
 

»Tolkien«

Das Problem sind die Erwartungen. Wer Tolkiens Leben erzählt, provoziert Vorfreude auf philosophische Gedanken, linguistische Tauchgänge, Veranschaulichung des Schreibhandwerks, Enträtselung und Ausdeutung jener fiktiven Welt Mittelerde. Man will nicht bloß das Genie, man will es als Genie sehen, und hierzu muss es inhaltlich bewältigt worden sein. Auch Peter Berg hätte an Mozart kaum gründlicher scheitern können als seinerzeit Miloš Foreman. Der Mangel von »Tolkien«, will ich damit sagen, liegt nicht in der Regie. Dome Karukoski weiß, was er tut, seine Wirkungen scheinen kalkuliert. So grazil die Schrittfolgen sind, diese Füße passen nicht ins zu große Paar Stiefel. Continue reading »

Jun 072019
 

»Push – Für das Grundrecht auf Wohnen«

Wohnen, so viel weiß jeder, ist längst zum größten Problem all jener Menschen geworden, die nicht wenigstens der gehobenen Mittelklasse angehören. Wenn etwa die Hälfte des Einkommens für Miete abfällt, stimmt was nicht. Zur Aufklärung der genaueren Zusammenhänge leistet Fredrik Gerrtens Dokumentation »Push« Unwahrscheinliches, indem sie dem Publikum sichtbar macht, was selbst routinierten Verächtern des Kapitalismus noch eine Nachricht wert sein müsste. Schon eigenartig dann, und fast ein Kunststück, dass dieser wertvolle Film am Ende des Abends doch mehr schadet als nützt. Er hat eine große Tendenz, und die besteht darin, sich der einen großen Tendenz zu verweigern. Continue reading »

Jun 062019
 

»Burning«

Wie oft lässt das deutsche Release eines erfolgreichen, aber nicht-amerikanischen Films lange auf sich warten. »Burning« kommt jetzt, dreizehn Monate nach dem Heimstart in Korea, neun nach den europäischen Starts von Belgien und Frankreich. In Cannes hatte der Film den Rekordwert der Kritikerumfrage des Screen Daily gebrochen und war bei der Jury dann leer ausgegangen. Dass der Rekord bis dato vom mordsmäßig miesen Machwerk »Toni Erdmann« gehalten wurde, bezeigt, wieviel wert so ein Wert ist, nämlich gar nichts. Auf die Kritiker kommen wir noch zurück. Continue reading »

Mai 282019
 

Zur politischen Intention des Märchens »Liebkind im Vogelnest«[i]

Der junge Mann heißt Leberecht, das Mädchen Liebkind, der Hund heißt Kasper. Wir haben, wie so oft bei Hacks, eine Dreiteilung. Und wie ebenfalls üblich bedeutet diese hier wieder was Eigenes. Selten hat Hacks dieselbe ideelle Konstruktion zweimal verwendet, so dass man seine Werke nicht nach stets demselben Schema deuten kann. Auch »Liebkind« lockt den routinierten Hacks-Leser ein wenig auf die falsche Spur. Einiges erkennt man sogleich, doch dann schaut man wieder hin und sieht, es geht noch um mehr. Continue reading »

Mai 252019
 

Niemand & zuletzt DER FREITAG selbst weiß, warum sein wöchentlicher Fragebogen »Der Kommunismus ist …?« heißt. Die Fragen darin lesen sich, als seien sie von Angelika Taschen erdacht. Die Steigerung von Tucholskys »Meine Sorgen möcht ich haben« lautet: Eure Sorgen wünsch ich euch. Ich habe der Verlockung, den Quatsch einfach zu ignorieren, tapfer widerstanden.

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Mai 172019
 

Auf Fragen, die man erst haben kann, wenn man den Film gesehen hat

Ein spekulativer Inhalt kann nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden, schreibt Hegel. Gibt es Grenzen des spekulativen Zugangs? Oder konkreter gefragt: Ist die Shoa spekulativ zu denken?

Es gibt Gegenstände, die nicht im spekulativen Zugriff aufzuheben sind. Weniger aus theoretischen Gründen, sondern weil es sich moralisch verbietet. Dass dem Antisemitismus keine produktive Seite abzugewinnen sei, versteht sich praktisch und muss nicht begründet werden. Für Antisemiten ist die Begründung nicht möglich, für Nicht-Antisemiten ist sie nicht nötig. Continue reading »

Mai 162019
 

»Maquia«

Blau ist eine dankbare Farbe. In der Natur scheint sie den fernen und weiten Dingen vorbehalten. Insofern ist das dominante Blau in »Maquia« nicht allein der gefälligen Anschauung wegen, es korrespondiert dem Thema des Films, Geburt und Tod, Vergänglichkeit und Fortleben. Wie typisch für Anime sind die Hintergründe feiner gestaltet als die Figuren, in denen der traditionelle Zeichenstil bewahrt wird. Auf die Art vermittelt das Genre zwischen Effekt und ästhetischer Tradition. Continue reading »

Mai 112019
 

Weiterführendes zur Idee der Enteignung

Die sogenannte Debatte um die Enteignung scheint fast vollständig von Personen geführt zu werden, die keinen Begriff von oder kein Interesse an Enteignung haben. Gern auch beides. Wenn eine Fraktion der bürgerlichen Gesellschaft mit einer anderen darüber streitet, ob oder wie sehr dieser oder jener zu hoch gewordene Haufen Privatbesitzes abgetragen werden darf, wird es Zeit, dass von zuständiger Seite ein paar Handreichungen erfolgen. Bitte schnallen Sie sich an und stellen das Rauchen ein. Continue reading »

Mai 092019
 

»Stan & Ollie«

Der Film eröffnet gleich einem Gemälde. Stan Laurel (Steve Coogan) und Oliver Hardy (John C. Reilly) sitzen in der Maske; man sieht sie von hinten, die Stühle halbschräg, so dass ihre Blickrichtungen auf einen Fluchtpunkt zulaufen. Als sei da die Zukunft des Duos an die Wand der engen Garderobe geworfen, wo die bekannten Hüte am Ständer hängen. Sie werden, spricht das Bild, nicht entkommen aus dieser Nummer ihres Lebens, sind, wie später Charters und Caldicott oder Abbott und Costello, nur als Duo interessant. Linker- und rechterhand stehen beider Schminkspiegel, aber so, dass man darin den je anderen sieht. Stan, das ist Ollie, und Ollie, das ist Stan. Die Kamera folgt ihnen auf dem Weg zum Set in einer Plansequenz von genau 4 Minuten, die elegant die Exposition beider Figuren, ihre persönliche und berufliche Situation miterledigt. Continue reading »

Apr 302019
 

»Streik«

Der deutsche Verleihtitel fällt gegen den französischen »En Guerre« ein wenig ab; indessen stellt er sich dem Erbe Eisensteins. Dieser Bezug lag nahe. Stéphane Brizé, der bereits in »Der Wert des Menschen« wider den Kapitalismus dröhnte – auf Augenhöhe hierbei mit Werken wie »Stürmische Ernte«, »Shoplifters«, »Glücklich wie Lazzaro« oder »In den Gängen« –, greift auch in »Streik« zum erprobten Mittel der Konzentration auf eine Figur. Gewiss ist der Film breiter angelegt, vor allem im Dialogischen; gut erzählt ist er trotzdem. Continue reading »

Apr 202019
 

»Supa Modo«

Es ist ein Märchen. Also eigentlich ein Märchen in einem Märchen. Unwirklich, aber mit Vorsatz, so dass es schon wieder zum Realismus taugt. Dem Realismus eines Regisseurs, der begriffen hat, was Kunst ist. Und das meint hier tatsächlich zunächst die formale Seite, denn in »Supa Modo« sind die kraftvollen Farben zugleich natürlich, die Kamera weiß in ungezählten originellen Shots stets genau, was sie will, der Score schafft ebenso Stimmung, wie er den Verstand wachhält. Ästhetisch passt hier einfach alles.

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