Sep 012014
 

Es kommt im Leben schon mal vor, daß einer einen fragt, warum er mit einem anderen befreundet ist, und mit dieser Frage durchaus nicht Interesse, sondern Mißbilligung bekundet. Wenn einer Ärger mit einem hat und nun von der gesamten Welt erwartet, sie möge an diesem Ärger teilnehmen, ist darin eine alte Sehnsucht zum Ausdruck gebracht; nämlich mehr zu können, als man selbst kann. Die eigene Macht endet direkt hinter der eigenen Handlung, man wünscht sich einen Fortgang, ein Wirken über sich hinaus. Warum sollen nicht alle einsehen, was ich eingesehen habe? Continue reading »

Jun 082014
 

 

Ich werde lieber miß als gar nicht verstanden. Also schulde ich Cyrano Dank für seine klugen Ausführungen, denen ich selbst dort, wo ich anderer Meinung bin, gar nicht widersprechen möchte, weil das Nebeneinanderhalten verschiedener Zugriffe auf dieselben Gegenstände ebenso Erkenntnis befördert wie die Zugriffe selbst. Es ist dabei nichtmal nötig, die verschiedenen Zugriffe zu sehr in einen Clinch zu schicken, zumal ja ein jeder Zugriff zunächst und vor allem aus sich selbst heraus verstanden werden muß. Es wird also furchtbar langweilig werden, weil ich an Einwänden gegen Cyranos Einwände wirklich nur solche habe, bei denen es um die Klärung von Mißverständnissen geht. Ich rate jedem, dessen Zeit kostbar und dessen Seele schönerfühlend ist, diesen Tab umgehend zu schließen. Besser als jetzt wird es nicht mehr. Continue reading »

Apr 072014
 

Ich mag den Begriff der Kulturindustrie nicht sonderlich, weil er Mißgönnen und Vergnügungsfeindlichkeit hervorruft und wohl auch meint. Er attackiert die Postmoderne, und zwar gerade an dem Punkt, den ich für ihren besten halte: an der Reinstallierung des Publikums als befugte Menge. Ich mag die Aufwertung der U-Kunst und den Versuch, die Maßgaben der Kunst auch in den neuen, elektronischen Medien wiederzuentdecken. Was U- und E-Kunst unterscheidet, ist nicht ihr ästhetischer Wert, sondern ihr weltanschaulicher Zugriff.

Die U-Kunst will nichts als wirken, und sie erreicht infolge dessen eine intensive Wirkung. Die Wirkung der E-Kunst ist weniger intensiv, weil sie Raum für Gehalt läßt, die ästhetischen Mittel folglich sparsamer benutzt und eine Art noble Langeweile erzeugt. Sie versucht nicht aktuell zu sein, weswegen Continue reading »

Apr 042014
 

Ich hatte eine Weile lang den Ehrgeiz, ein Buch zu schreiben über klassische Fehler oder eristische Kniffe in Diskussionen. Material sollten öffentliche Streits im Web 2.0 sein, vornehmlich über politische Themen. Ich bin von dem Vorhaben abgekommen, weil das Material endlos ist und ich zu anderen Dingen mehr Lust hatte. Hinzu kommt, daß die wirklich bemerkenswerten Klassiker fehlerhafter bzw. eristischer Figuren – etwa die petitio principii, die self-fulfilling prophecy, das hysteron proteron oder die conversio simplex – längst im Bewußtsein der Allgemeinheit angelangt sind. Diese Fehler werden tatsächlich nur von Dummköpfen begangen und von jedem halbwegs Befugten sogleich erkannt.

Einer jener Klassiker aber scheint mir bislang nicht hinreichend bewußt und nicht selten auch von klugen Köpfen in Gebrauch genommen zu sein. Ich meine die Verwechslung von Name und Begriff. Die ist nach meiner Beobachtung eine der häufigsten Fehlerquellen für gescheiterte Diskussionen insgesamt. Ich bin vor einiger Zeit bei William von Ockham auf eine Continue reading »

Apr 032014
 

Das Genie ist immer kreativ. Was es auch in die Finger bekommt, es macht etwas daraus. Es macht aus wenig viel; es kann gar nicht anders. Deswegen wirkt es immer viel gebildeter, als es eigentlich ist, und kann dabei nie so gebildet sein, wie es gerne wäre.

Die Fähigkeit, die das Genie zum Genie macht, nennt sich Sagazität. Das ist das Vermögen, in eine fremde Materie einzutauchen und ziemlich schnell die Hauptpunkte an der erkennen zu können. Bildung und Erkenntnis sind nach meiner Erfahrung gegenläufig. Bildung ist Aufnehmen von Material. Erkenntnis ist Verarbeiten von Material. Wer aus wenig Material viel machen kann, den schläfert das Aufnehmen schnell ein. Der kann keine Stunden und Aberstunden jeden Tag philosophische Werke konspektieren und lesen bis zum Einschlafen. Der ist nach einer Seite schon so voller Gedanken, daß er schreiben muß, schreiben und schreiben. Das Hirn will unablässig Theorie hervorbringen, das hindert ihn daran, welche aufzunehmen. Continue reading »

Mrz 262014
 

In der Ästhetik von Peter Hacks, also jenem System, das sich aus seinen poetologischen Aussagen destillieren läßt, ist nach meinem Urteil eine Fehlerstelle, die unnötig ist. Fehlerstellen, das zur Einschränkung, können natürlich notwendig sein, indem sie sich z.B. aus bestimmten Prämissen ergeben, deren Verwendung aus wiederum bestimmten Gründen unvermeidlich ist. Die Fehlerstelle, von der ich spreche, ist insofern unnötig, als Hacks die größte Menge seiner besonderen ästhetischen Urteile, die ja in aller Regel aus seinen ästhetischen Prinzipien gewonnen sind, auch hätte erlangen können, wenn diese Fehlerstelle nicht vorhanden gewesen wäre. Ein Fehler, der zu guten Ergebnissen führt, ist eine Laune der Logik. Ein Fehler, ohne den man ebenso gut auf Belangvolles hätte gekommen sein können, ist bloß überflüssig. Ich spreche von Hacksens Behauptung, daß Gattungsfrage und Realismusfrage zusammenfallen (aufgestellt im Vorwort seiner »Bestimmungen«). Hätte Hacks diese Verknüpfung nicht vollzogen, hätte sich am restlichen Gefüge seiner ästhetischen Aussagen kaum etwas geändert. Freilich: So manche Herleitung und Begründung wäre etwas verwickelter ausgefallen. Continue reading »

Mrz 262014
 

 

Das klassische Streben nach einer Gattungsordnung und ihre rational begründete Dekonstruktion

Peter Hacks und Gérard Genette1

 

Vor drei Jahren habe ich den Versuch unternommen, das zu umreißen, was den Begriff der Klassik bei Peter Hacks ausmacht, und dabei die unbewiesene Behauptung aufgestellt, daß Hacksens Beschäftigung mit der Gattungstheorie weniger im Zusammenhang mit der Installation seines klassischen Credos zu sehen ist als vielmehr mit dessen Verteidigung gegen einen als bedrohlich wahrgenommenen Zeitgeist, der von Hacks in dem Codewort Romantik zusammengefaßt wurde.2 Ich will diese These auch heute nicht beweisen, denn sie ist nicht beweisbar, aber ich will sie ein wenig mit Material unterfüttern und damit vielleicht ermöglichen, daß sie von einer anderen Seite her beleuchtet werden kann. So soll sich die Reichweite der Hacksschen Gattungstheorie zeigen, und das erledigt, möchte ich – denn jedes Licht wirft Schatten – einen Blick hinüber werfen zu Gérard Genette und dessen Wiederbelebung der aristotelischen Kategorien. – Durchaus nicht, weil das Zusammenbringen Continue reading »

  1. Vortrag, gehalten am 2. November 2013 im Berliner Magnus-Haus; abgedruckt in: Die Götter arbeitslos gemacht. Peter Hacks und die Klassik. Sechste wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft, hrsg. v. Kai Köhler, Berlin 2014, S. 26–46. []
  2. Selbst auf den Schultern der Gegner. Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß, in: Topos 34 (2010), S. 33–51, hier: S. 44f. []
Feb 182014
 

In den Wochendbeilagen der jungen Welt führt Reinhard Jellen eines seiner rübensirupzähen Standgerichte in mehreren Teilen durch. Das Opfer diesmal, sehr löblich, Markus Gabriel. Allerdings schafft Jellen es, noch hinter den zurückzufallen. Die sicher dringende Dekonstruktion jener merkwürdigen Ansichten Gabriels, die von Presse und Eigenwerbung in kraftmeierischer Anmaßung als neu und revolutionär bezeichnet wurden, sollte auf einem Niveau vonstatten gehen, das dem Gegenstand zumindest ebenbürtig ist. Jellen, man kennt ihn, tut genau das, was er Gabriel vorwirft, nämlich »aus sämtlichen Positionen, die ihm nicht passen, einen Popanz« zu zimmern. Mehrfach wiederholt er den ziemlich ausgebrannten Witz vom Idealisten, der sich im Alltag, z.B. beim Überqueren der Autobahn, sehr wohl wie ein Materialist verhalte. Da paßt es auch ins Bild, daß Jellen ernstlich glaubt, mit der Bibel des gemeinen Menschenverstands, Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus«, gegen Gabriels Ansatz etwas ausrichten zu können. Dieses Buch, gewiß nicht Continue reading »

Feb 142014
 

Homophobie und Naturrecht

Matthias Matussek hat öffentlich eingestanden, dass er krank ist.[1] Seine Diagnose: Homophobie. Behandeln lassen will er sich einstweilen nicht und erweckt vielmehr den Anschein, als hielte er sein Geständnis für einen Akt der Zivilcourage. Wie alle, deren Treiben um der Pose willen ist, verrät er dabei mehr, als er verraten will. Sein Text ist zunächst ein klares Bekenntnis, hernach gezielte Provokation des Betriebs, zugleich begrifflicher Wirrwarr und schließlich unkontrollierte Entladung von Abscheu und Vorurteilen. Es ist ekelhaft, aber kaum überraschend. Was will man auch erwarten von einem erwachsenen, nahezu alten Menschen, der von jener Weltgestalt, die Bur Malottke immerhin noch »dieses höhere Wesen, das wir verehren« genannt hat, stets als dem »lieben Gott« spricht, ganz so, als komme er eben mit frisch hochgezogenen Kniekehlenwischern aus der Sakristei, den tief befriedigten Blick des Vikars im Nacken. Continue reading »

Feb 102014
 

Die Behauptung, daß jedes Kunstwerk einen Inhalt habe, ist so wahr wie banal. Viel interessanter ist die Frage, was denn genau diesen Inhalt ausmache. Abgesehen davon, daß sich der Inhalt in der Kunst nie als solcher zeigt, sondern notwendig in einer Form, und daß die Form, das Wie der Mitteilung, selbst zur Mitteilung wird, läßt sich, sofern man Inhalt als Begriff in der Abstraktion festhalten will, Weltanschauung und Haltung voneinander unterscheiden. Das darstellende Kunstwerk (Epos, Roman, Film, Theaterstück, Musical, Oper usf.) macht einerseits durch Diktion Aussagen, vermittelt also ausdrücklich Ideen, andererseits aber teilt es durch die Handlungsstruktur selbst gleichfalls etwas mit. Man kann lange und ergiebig darüber streiten, welche der beiden Mitteilungen die wichtigere ist: die durch Rede vermittelte Weltanschauung oder die durch Handlung vermittelten Haltungen. Continue reading »

Feb 052014
 

Klassik, durchaus ein historisches Phänomen, ist zugleich eine Art, die Welt zu begreifen, und daher über ihr Vorhandensein hinaus maßgeblich. Es bedarf nicht notwendig einer klassischen Lage oder der Herstellung klassischer Kunstwerke, um die Idee der Klassik, in Gestalt des klassischen Denkens nämlich, zu erhalten. Klassik zeugt sich fort im Urteil, was ja auch eine Art des Betreibens ist.

Die Elemente der Klassik sind bekannt: Affirmation, Aufhebung der Tradition, Idealismus und Vermittlung. Das klassische Denken ist affirmativ in dem Sinne, daß es nicht bei der Verneinung des Üblen stehenbleibt, sondern Negationen als bestimmte setzt, und nur in der konkreten Entgegensetzung Zufriedenheit erhält. Es bricht daher auf eine Weise mit der Tradition, die zugleich eine Art Fortsetzung derselben ist. Sein Zugriff auf die Welt ist spekulativ, und es glaubt an die Möglichkeit, mittels Continue reading »

Dez 312013
 

Das Begreifen von Theorien, die man nicht selbst ersonnen hat, läßt sich dem Betreten eines unbekannten Raums vergleichen. Räume haben es an sich, daß sie sich von innen besser beurteilen lassen als von außen. Von außen her mag man ihren Standort, vielleicht auch ihre Ausdehnung besser einschätzen können, doch was und zu welchem Zweck sie sind, auch, wie gut sie diesen Zweck erfüllen, erkennt man an dem, was in ihnen enthalten ist, und das wieder läßt sich nur sehen, wenn man sie betreten hat.

Zum Betreten eines Raumes bedarf es einer Tür, und da die meisten Türen Schlösser haben, wird man auch einen Schlüssel brauchen. In aller Regel befindet sich dieser Schlüssel aber in dem Raum, den er öffnen soll, so daß die Erstbegehung in aller Regel als Einbruch vonstatten gehen muß, und man kann von Glück sagen, wenn man bloß die Tür und nicht gleich eine Wand aufbrechen muß. Continue reading »

Dez 232013
 

Ich mag den Humor, die Beteiligten und die Wahl ihrer Hauptfeinde. Ich folge Stefan Gärtner dennoch in einem Punkt nicht. Der gute Witz ist in erster Linie eine Frage der Technik und nicht des Inhalts. Ein Witz muß keine Wahrheit (auch keine höhere) enthalten, um zu funktionieren. Er muß wahr sein in dem Sinne, daß die Klischees, die er bedient, oder der vorgeführte Widerspruch zwischen Absicht und Handlung (stete Voraussetzung für komische Handlungen), eine gewisse Übereinstimmung mit der Wirklichkeit besitzen sollten, damit wir sie wiedererkennen. Aber die Übereinstimmung muß nicht groß ein; es reicht, wenn die Klischees bzw. die Widersprüche geglaubt werden oder auch nur als solche bekannt sind. Continue reading »

Aug 172013
 

 

für Johannes Zuber,
dessen letzten Rat ich hiermit
befolge

 

Das Leben hat nur eine Richtung, die auf sein Ende. Der Tod folglich bestimmt das ganze Leben und muß doch, damit er das kann, außer dem Leben sein. Es stirbt der Mensch, solang er lebt. Und nur solange er stirbt, lebt er.

Der Tod wird gedacht als Verlust. Mord zum Beispiel ist, wenn einer einem die verbleibende Zeit stiehlt. Wer einem anderen Zeit stiehlt, folglich, mordet in Raten. Wer mir Zeit stiehlt, ist mein Feind.

Aber dagegen spricht: Das Leben wird mit Leben bezahlt, die Währung sind Lebensjahre. Wo ein Leben endet, wurde eine Rechnung beglichen. Am Ende des Lebens steht auf der Habenseite 1 Leben und auf der Sollseite 1 Lebenszeit. Der Tod ist Continue reading »

Aug 032013
 

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lebt die Poesie im Zeitalter des Materials. Dichter aller Gattungen verwenden einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Tätigkeit darauf, Elemente ihrer Vorläufer – seien es Poeten, Philosophen oder sonstwie befugte Wortproduzenten – als Bruchstücke in ihre Werke einzuweben. Es ist – um gleich den passend aufs Zeitalter geschriebenen Ausdruck Gerard Genettes zu verwenden – der vollständige Sieg der Transtextualität.

Der Dokumentarismus (Weiss, Runge, Kipphardt usw.) ist nur die äußerste und zugleich natürlich ärmste Ausprägung dieses Verfahrens, das allgemein geworden ist. Man imitiert, parodiert, zitiert, spielt an oder stielt. Nicht nebenbei, nicht bei passender Gelegenheit, sondern in der Hauptsache, um der Sache selbst willen. Es gilt geradezu als unfein, hemdsärmlig, es nicht zu tun. Dahinter steckt nur zum Teil Snobismus (der ja ein edles Motiv wäre); es ist maßgeblich die Angst vor der Struktur, vor dem großen Gedanken, dem großen Continue reading »