Mai 172019
 

Auf Fragen, die man erst haben kann, wenn man den Film gesehen hat

Ein spekulativer Inhalt kann nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden, schreibt Hegel. Gibt es Grenzen des spekulativen Zugangs? Oder konkreter gefragt: Ist die Shoa spekulativ zu denken?

Es gibt Gegenstände, die nicht im spekulativen Zugriff aufzuheben sind. Weniger aus theoretischen Gründen, sondern weil es sich moralisch verbietet. Dass dem Antisemitismus keine produktive Seite abzugewinnen sei, versteht sich praktisch und muss nicht begründet werden. Für Antisemiten ist die Begründung nicht möglich, für Nicht-Antisemiten ist sie nicht nötig. Continue reading »

Apr 302019
 

»Streik«

Der deutsche Verleihtitel fällt gegen den französischen »En Guerre« ein wenig ab; indessen stellt er sich dem Erbe Eisensteins. Dieser Bezug lag nahe. Stéphane Brizé, der bereits in »Der Wert des Menschen« wider den Kapitalismus dröhnte – auf Augenhöhe hierbei mit Werken wie »Stürmische Ernte«, »Shoplifters«, »Glücklich wie Lazzaro« oder »In den Gängen« –, greift auch in »Streik« zum erprobten Mittel der Konzentration auf eine Figur. Gewiss ist der Film breiter angelegt, vor allem im Dialogischen; gut erzählt ist er trotzdem. Continue reading »

Apr 202019
 

»Supa Modo«

Es ist ein Märchen. Also eigentlich ein Märchen in einem Märchen. Unwirklich, aber mit Vorsatz, so dass es schon wieder zum Realismus taugt. Dem Realismus eines Regisseurs, der begriffen hat, was Kunst ist. Und das meint hier tatsächlich zunächst die formale Seite, denn in »Supa Modo« sind die kraftvollen Farben zugleich natürlich, die Kamera weiß in ungezählten originellen Shots stets genau, was sie will, der Score schafft ebenso Stimmung, wie er den Verstand wachhält. Ästhetisch passt hier einfach alles.

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Apr 092019
 

Greta Thunberg und die Widerstandsgymnastik

Soweit es Greta Thunberg betrifft, sind hemmungsloses Einprügeln und joviale Bewillkommnung, die ihr wechselweise in den Zeitungen zuteilwerden, offenkundig dasselbe. Das zornige Mädchen soll absorbiert werden, und wo man ahnt, dass es nicht korrupt ist, offen bekämpft. Greta ist gewiss nicht anmaßender, als Kinder im Alter von 16 Jahren sein müssen. Allein, wer ihr über den Kopf streichelt oder eine veritable Gefahr in ihr ausmacht, kann sich seinerseits nicht auf jene Unschuld herausreden. Wir sprechen von schlecht gereiften Jahrgängen, denen gegen den Strich geht, ein Mädchen sich ermannen und ein Kind sich ermächtigen zu sehen. Die freche Raumnahme, das selbstbewusste Lächeln, der dreiste Glaube, simpel im Recht zu sein – das erinnert, was man selbst gern noch hätte. Für jene war das Älterwerden tatsächlich bloß eine Art Ausdünsten. Wenn man Frechheit von Dummheit abzieht, was bleibt dann noch? Was sie Greta voraushaben wollen, sei Reife, es ist aber bloß Trägheit.

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Mrz 122019
 

Mir sind vier Witze eingefallen, drei davon waren sogar gut. Dann hab ichs gelassen. Ein wenig Mitleid mit Wagenknecht ist da schon. Nicht der Scheiße wegen, die sie gebaut hat und künftig etwas weniger hoch türmen will, sondern weil ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man k.o. ist. Aber k.o. sein ist kein sittlicher Wert. Das Elend an Wagenknecht waren nie ihre Irrtümer. Es war, dass ihre Irrtümer bereits Korrekturen gewesen sein wollen. Ob ein Unsinn als Unsinn oder als Korrektur des Unsinns auftritt, scheint mir nicht gleich.

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Feb 202019
 

»Vice – Der zweite Mann«

Es beginnt 1950 in Wyoming, wo die Welt nicht heil, aber noch in Ordnung war. Der Landarbeiter Dick Cheney gerät betrunken in eine Polizeikontrolle. Es ist der Moment, in dem sich sein Leben ändert. Seine Frau Lynne stellt ihn vor die Wahl: Entweder mache er was aus sich, oder sie werde ihn verlassen. So lernt er bei Donald Rumsfeld das Handwerk einer Politik ohne Inhalt. Ein halbes Dutzend Wahlperioden später erkennt er in George W. Bush einen gut zu führenden Frontmann, hinter dem er als Schattenpräsident das Land regieren kann. Dick trifft auf Doof, das ist die Lesart.

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Feb 072019
 

»Drachenzähmen leicht gemacht 3: Die geheime Welt«

Die unbestreitbare Schönheit dieses Films konzediert, scheint nicht verkehrt, anstelle einer Rezension die gesamte Reihe in Blick zu nehmen. Dean DeBlois selbst gibt an, dass er mit den drei Filmen eine übergreifende Story erzählen will. Gelungen ist ihm viel mehr als das. »Drachenzähmen« zeichnet, vielleicht unwillentlich, ein Sittenbild dieser Epoche. Im Kunstwerk decken sich Absicht und Ergebnis nie ganz. Erzähler packen die Welt oft intuitiv und könnten es nicht begrifflich machen. Zum anderen folgen sie der Logik des Erzählens, wodurch sie unvermeidlich Bedeutung herstellen. »In der Kunst«, schreibt Peter Hacks, »verändern Sachverhalte ihr Wesen; sie hören auf zu sein und fangen an zu bedeuten.« Wie Literatur übersetzt Film Strukturen der Wirklichkeit in Ideenstrukturen. Die Frage ist nicht, ob, sondern wie gut er das tut.

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Jan 192019
 

»Fahrenheit 11/9«

Im Juli 2016, als praktisch alle Umfragen eine Niederlage des Kandidaten Trump anzeigten, sagte Michael Moore dessen Sieg voraus. Rufer in der Wüste gibt es wie Sand daselbst. Doch hier war kein Kokettieren mit einer Außenseitermeinung im Spiel, kein Berauschen am Szenario eines Hampelmanns im Weißen Haus, der dem Kapitalismus endlich das passende Gesicht gebe, kein Clinton-ist-eigentlich-schlimmer-Unsinn, keine Verwechslung des übergreifenden Interesses am Weltfrieden mit der partikularen Position der imperialistischen Macht Russland gegen die imperialistische Hegemonialmacht USA. Moores Text nannte fünf substantielle Gründe. In »Fahrenheit 11/9« liegt jetzt der Versuch vor, diese Gründe retrospektiv auszubreiten. Aus »5 reasons why Trump will win« wurde »How the fuck did this happen?«

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Dez 242018
 

Jeder hat peinliche Verwandte. Wer nach Herakles ruft, könnte Iphikles bekommen. Es lässt sich nicht leugnen, dass es eine affektive Spielart der etatistischen Haltung gibt, die den Begriff unterläuft und die gedankliche wie politische Anstrengung meidet. In dieser Spielart gehen weder die Sache noch ihr Begriff, weder der Staat noch der Etatismus, ganz auf. Folgerichtig daher, dass die romantische Rezeption, da sie den Etatismus in seiner begründeten Form nicht zu fassen bekommt, jedwede positive Haltung zum Staat, der sie irgend begegnet, auf diese bloß affektive Ebene herunterstutzt. Wer nach dem Staat rufe, tue das nur, weil er sich im Grunde vor der Freiheit fürchtet, sich nach Behütung sehnt, Angst hat, eigene Entscheidungen zu treffen. – Ihnen fällt buchstäblich nichts ein als immer bloß das. Continue reading »

Dez 062018
 

»Under the Silver Lake«

Sam (Andrew Garfield) lebt in Los Angeles. Ohne Arbeit, ohne Geld für die nächste Miete, und man hat nicht den Eindruck, dass er daran viel ändern will. Den Tag verbringt er zwischen Comics und Videospielen, Bierdosen und Filmen, Geschlechtsverkehr und Spannerei, wobei er Sarah (Riley Keough) kennenlernt. Die lädt ihn ein, obwohl sie weiß, dass er sie mit dem Fernglas beobachtet hat. Als sie am nächsten Tag verschwunden ist, macht Sam sich auf eine lange Suche. – Was nach Odyssee klingt, und wohl auch so gemeint war, gerät zu einer fahrigen Tour in Hollywood mit seinen notorischen Orten, bizarren Ikonen und urbanen Mythen. Sam schlussfolgert sich durch die Stadt, indem er in den banalen Dingen der Pop- und Konsumkultur geheime Zeichen erkennt: Schatzkarten auf Cornflakesschachteln, Botschaften in rückwärts gespielten Platten, Numerologie, Buchstabenfolgen, bildliche Codes. Bald tritt die Suche nach Sarah in den Hintergrund, und das Suchen wird Selbstzweck.

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Nov 302018
 

Mit jeder neuen Ausgabe der Bahamas erklären die Gegner, zumeist an denselben Deformationen leidend und lediglich die Gewichte etwas anders setzend, dass die Zeitschrift nun endgültig gestorben sei. Sie irren damit, wie sie nur können, denn was tot ist, kann nicht sterben. Die Bahamas war von jeher eine unpolitische Veranstaltung, so dass man sie besser ästhetisch fasse. Continue reading »

Nov 222018
 

»Der Dolmetscher«

Der pensionierte Dolmetscher Ali Ungár (Jiří Menzel) reist von Bratislava nach Wien, um dort den früheren SS-Offizier Kurt Graubner aufzusuchen, der während der Shoa seine Familie ermordet hat. Er führt eine Waffe bei sich, spielt also wenigstens mit dem Gedanken, Graubner zu erschießen. In der Wohnung trifft er dessen Sohn Georg (Peter Simonischek), der mitteilt, dass sein Vater verstorben sei. Nach einiger Irritation machen sich die Herren auf den Weg in die Slowakei, um die Vergangenheit zu erforschen. Georg engagiert Ali als Dolmetscher, und die Reise in die Ferne wird zur Reise ins Innere. Continue reading »

Nov 142018
 

»Die andere Seite von allem«

Im Zentrum von Belgrad gibt es eine Wohnzimmertür, die seit 70 Jahren verschlossen ist. Auf der anderen Seite wohnen fremde Nachbarn, auf dieser Srbijanka Turajlić, deren Eltern vor 1945 noch die gesamte Wohnung gehörte. Im Zuge der Verstaatlichung wurde die Fläche geteilt; statt einer konnten nun vier Familien dort leben. Bürgertum und Proletariat, sagt Srbijanka, hatten zuvor in Belgrad praktisch keine Berührung. Mit der Teilung der Wohnung, lässt sich sagen, hat man die Teilung der Klassen angegriffen. Continue reading »

Okt 262018
 

»Der Affront«

Der undichte Abfluss eines Balkons bringt zwei Männer in der Sommerhitze Beiruts gegeneinander auf. Yasser, Palästinenser und Vorarbeiter einer Baustelle, repariert eigenmächtig Tonis Abflussrohr. Toni, christlicher Libanese und Anhänger der rechtskonservativen Forces Libanaises, zerstört die Installation. Im Affekt beschimpft Yasser ihn, worauf Toni bei Yassers Vorgesetztem eine Entschuldigung verlangt. Dass Yasser nur zögerlich dem Verlangen nachgibt, scheint Tony weiter zu beleidigen, und er reagiert auf die halbherzige Entschuldigung mit einer politischen Entgleisung, woraufhin Yasser ihm mit einem Schlag zwei Rippen bricht. Der Fall geht vor Gericht, aber Yasser wird freigesprochen. Tony verliert im Gerichtssaal die Beherrschung … Continue reading »

Okt 182018
 

»Der Vorname«

Im Grunde ist jeder Vorname ein Skandal. Gewiss kann er im Gegensatz zum Familiennamen frei bestimmt werden, aber nie vom Betroffenen selbst. Der Familienname schafft wenigstens eine Art Gemeinschaft des Leidens, der Vorname gerät zum Machtgriff, der gnadenlos Weichen stellt. Wer sein Kind etwa Adolf nennt, sollte gleich auch das Geld für den Analytiker zurücklegen. An dieser Idee hängt sich die Komödie »Der Vorname« (Le Prénom) auf, die 2010 von Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière geschrieben und 2012 von ihnen verfilmt wurde. Sechs Jahre später befand Sönke Wortmann, dass es hievon ein deutsches Remake geben müsse. Sechs Jahre, das ist die kleinste Einheit deutschen Taktgefühls, denn so lange hat der Zweite Weltkrieg gedauert. Continue reading »