Mai 112017
 

Die Empörungskultur, ihr Pendant und ein Ausweg

[Vortrag, gehalten in Trier am 25. April 2017]

In einem Zeitalter, in dem die Produktionsverhältnisse bloß Krach machen, doch nicht mehr in Bewegung sind, worin kein Systemkampf die Welt umspannt, keine Umwälzung sich abzeichnet und die Krise tatsächlich bloß Anzeichen der immanenten Barbarei des Kapitals ist, scheint wie zur Kompensation dieser Unbeweglichkeit im Materiellen das gesellschaftliche Bewusstsein stärker in Bewegung als je. Das gesamte Bezugssystem gesellschaftlicher Bekenntnisse mit seinen ideologischen Zuordnungen ist auf dem Weg – und weiß nicht wohin. Was einmal zusammengehörte, trennt sich. Was getrennt war, verschmilzt. Das überbordende Gerede von Querfronten, teils zu Recht, teils nicht, drückt diesen Zustand aus. Die Empörungskultur ist ein Gewächs in diesem Biotop. Was macht sie aus? Was treibt sie an? Und warum geht bei ihr die Forderung nach äußerster Emotionalität mit der Überzeugung zusammen, dass man im Besitz der Wahrheit ist? Continue reading »

Apr 272017
 

Sigmar Gabriel, der in Israel auf genau die Weise gedemütigt worden ist, die er verdient und nebenbei gesagt auch provoziert hat, dieser Gabriel hat jetzt nachgelegt: »Sozialdemokraten waren wie Juden die ersten Opfer des Holocaustes«, lässt er sich in der Frankfurter Rundschau vernehmen. Es gibt Dinge, die bringt nur er fertig. Sich auf Reise in Israel mal eben als Mit-Opfer des Holocausts ins Gespräch bringen zum Beispiel, und mit Rücksicht auf die ihm (nicht nur in diesem Zusammenhang) eigene Chuzpe muss man fast dankbar sein, dass er nicht noch »wie übrigens auch die« geschrieben hat. Continue reading »

Apr 102017
 

Vor fünf Jahren erschien das Gedicht »Was gesagt werden muss«

Wer es vergessen will, sollte sich erinnern

Im Sommer 1995 wurde Günter Grass eines elend langen Verrisses teilhaftig. Tatort war Der Spiegel, Ziel der Roman »Ein weites Feld«. Neben Fragen literarischer Qualität und der Vermutung, dass amateurpolitische Ambitionen dem Dichten eher hinderlich seien, ging es auch um die Situation der Juden vor und nach der neudeutschen Reichseinheit. Die Polemik könnte als Zeugnis des üblichen Kampfes zwischen verschiedenen Formen des platten Unfugs ignoriert werden, hieße ihr Autor nicht Marcel Reich-Ranicki und wäre sie nicht das impulsivste Ereignis in der berühmten Streitgeschichte zwischen dem jüdischen Kritiker und dem deutschen Autor. Reich-Ranicki zeigt sich nicht zimperlich, und zwischen all seinen Fehlleistungen dort trifft das meiste, was er über Grass schreibt, empfindlich ins Zentrum dieses sensiblen Autors. Einen Titel hatte die Rezension übrigens auch: »… und es muß gesagt werden«.[1] Continue reading »

Apr 082017
 

Friedensbewegung & Bellizismus

 

Manche Witze klingen wie Witze, sind aber gar keine. Die Deutschen, schrieb ich letzten Sommer, sind ein Volk von 80 Millionen Bundestrainern, und die Antideutschen eines von 10.000 Geostrategen. Das größte Elend ist die Bescheidwisserei. Die ist keine exklusive Eigenschaft dieses Milieus, aber gerade diese Beziehung ist, wie ich meine, sehr erhellend. Continue reading »

Mrz 312017
 

Ich weiß nicht, wer den Begriff des Postfaktischen aufgebracht hat und was sein genauer Hintergrund ist. Es scheint irgendwie darum zu gehen, dass unser Zeitabschnitt an einer besonderen Immunisierung des Bewusstseins gegen nachweisbare Tatsachen kenntlich sei. Ich finde das so abwegig nicht, obwohl es eingestanden abwegig ist. Natürlich stimmt, dass solche Immunisierung schon immer ein mehr als bloß häufiges Verhalten unterm Menschlichen war. Leute haben einmal Neigungen, und was da stört, als Logik oder Evidenz, musste von jeher über die Klinge. Niemand mag die Wahrheit. Und viele geben dieser Aversion allzu gerne nach. Continue reading »

Feb 082017
 

Sieben Noten zur Antrittsrede von Donald Trump

Es fällt schwer, den Trump an Trump auszublenden. Den stets deplaciert wirkenden Hampelmann, narzisstischen Wichtigtuer mit Syntax und Wortschatz eines Viertklässlers, das Arschloch, das Behinderte nachäfft und Frauen wie Dreck behandelt, den hochmütigen Narren, der seine Unbildung für einen Vorzug hält. All das, und was dergleichen mehr ist, trübt den Blick auf die Politik, die sich in seiner Antrittsrede vorzeichnet. Man tue sie sich daher nicht als Aufzeichnung an, sondern lese sie. Das ermöglicht, Trump als politischen Akteur ernst zu nehmen, der etwas will und etwas verspricht. Continue reading »

Jan 302017
 

Die Revolution und die Nachgeborenen

Eine Revolution ist ein Anfang, ein Revolutionär ein Anfänger. Anfänge stinken, und das liegt nicht bloß an den Anfängern. Man begreift die Revolution besser, wenn man die Revolutionäre vor der Tür lässt. Das Ende des Anfängers Fidel Castro kann ein Anlass sein, genau das zu tun. Revolutionen passieren, und jeder weiß, warum sie passieren. Irgendwas müssen sie an sich haben, das die Nachgeborenen immer wieder zu jenen seltsam unzureichenden Urteilen veranlasst. Continue reading »

Jan 122017
 

Das Unvorstellbare bleibt unvorstellbar, auch wenn man es verwirklicht. Es wird ja nur real, und Sein, folgen wir Kant, ist keine Inhaltsbestimmung. Der Verschnitt der Linken durch Sarah Wagenknecht zeugt vor allem deswegen so wenig Widerstand, weil Machtlosigkeit für Linke eine offene Wunde ist. Continue reading »

Jan 102017
 

Vor 90 Jahren hatte Fritz Langs »Metropolis« Premiere.

Wer den Film gesehen hat, ist selbst schuld

 

Der Stummfilm ist eine Laune der Natur. Ein unvollständig zur Welt gekommenes Genre, das nach kurzer Blüte vom Tonfilm verdrängt wurde. Möglich, dass auch das an Langs »Metropolis« verdrießt, der ungeheuer aufgepumpt noch einmal alles herausholte, was an Tugenden und Macken in der untergehenden Kunstform steckte. Ein wenig Unsicherheit mag hier bleiben, da der Film nicht vollständig erhalten ist und die hinzugeführten Elemente der spät restaurierten Fassung von 2010 stark gelitten haben. Obgleich statt der Lang-Fassung also bloß eine Langfassung greifbar ist, scheint heute ein wenigstens ungefährer Eindruck dessen möglich, was am 10. Januar 1927 bei der Premiere über die Leinwände ging. Continue reading »

Jan 052017
 

Dass wir sowas wie einen Agrarminister haben, merkt man immer erst dann, wenn mal wieder einer einen Bock geschossen hat. Unvergessen an dieser Front bleibt Karl-Heinz Funkes spanischer Trochäus: »Oldenburger Butter / Hilft dem Vater auf die Mutter«, bei dem verkorkste Metrik und bierseliger Sexismus eine formidable Einheit machen. Nun hat einer namens Christian Schmidt (nicht zu verwechseln mit dem bekannten Autor Christian Y. Schmidt) die Welt von seiner Existenz in Kenntnis gesetzt, indem er ankündigte, im Fall veganer Wurstprodukte gegen die Bezeichnung ›Wurst‹ vorgehen zu wollen, denn die sei … ja was? Irreführend. Ich finde zwar, auch nicht mehr als die Bezeichnung ›Minister‹, aber was weiß ich schon. Continue reading »

Dez 222016
 

Opportunismus und Reife

Wahrscheinlich ist es ein Fehler, beim Opportunismus immer gleich an Diederich Heßling zu denken. Er ist zwar stumpfsinnig und eine Petze, doch der eigentliche Opportunist ist Napoleon Fischer, der schlaue, der witzige, der durchaus nicht servile. Opportunismus ist Verrat, Opportunismus ist Fall. Es kann nur Opportunist sein, wer einmal Idealist gewesen ist. Erst dort, wo eine politische Idee verwirklicht werden soll, wo einer was will, das über das Bestehende hinausweist, geht von Opportunismus zu sprechen. Keine Destruktion ohne Konstruktion. Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, sagt Helmut Schmidt und trifft damit auf verdrehte Weise. Wer Visionen hat, hat immerhin noch einen Grund, den Arzt aufzusuchen; wer keine Visionen hat, braucht nicht deswegen nicht zum Arzte zu gehen, weil er etwa gesünder wäre, sondern er kann sich den Besuch schenken, weil er schon lange tot ist, ehe er stirbt. Continue reading »

Dez 182016
 

Ein Klassiker mittlerweile ist auch die Klage darüber, wie sehr die Titanic sich doch verändert habe. Mitunter wird dieser Stoßseufzer der beengten Seele begleitet von der etwas scheinheiligen Frage, ob Satire vielleicht doch nicht alles dürfe, oder von derselben Intention, nur noch verdruckster, nämlich der Aussage, dass Satire ganz gewiss alles dürfe, sich jedoch disqualifiziere, wo sie gewisse Geschmacksgrenzen sprengt oder dumm ist oder ungerecht oder einfach zufällig irgendwas lächerlich macht, was der vorgeblich kategorische Kritiker persönlich gern hat.  Continue reading »

Dez 072016
 

Der linke Flügel des rechten Rands der nicht-linken Liberalen in Deutschland hat jetzt ein Autorenblog ins Leben gerufen, das uns als »Salonkolumnisten« fortan sicher noch ganz mächtig beschäftigen wird. Der Kalauer im Titel ist so schlecht, dass er von mir sein könnte. Immerhin. Ihr Manifest scheint dagegen ernstgemeint zu sein. Ist aber genau so lustig. Continue reading »

Okt 262016
 

Über den eisernen Satz einer hölzernen Lady.

Das innerste Bekenntnis des Thatcherimus

 

Margaret Thatcher dürfte gewusst haben, was folgt, als sie am 23. September 1987 jenen Satz sprach, der eine Woche später im »Woman’s Own« publiziert wurde.[1] Derart wider das Offensichtliche redet man nicht, außer um der Wirkung willen. Es steht damit nicht anders als mit dem Gebrabbel des greisen Grass oder den aparten Thesen Sarrazins. Gerade Unzureichendes taugt zum innersten Bekenntnis. Der wahre Held fühlt seinen Mut erst dann, wenn er es nicht bloß mit dem Gegner, sondern auch mit der ganzen Wirklichkeit aufnimmt. Continue reading »