Okt 302020
 

Zu »The Americans«, letzte Staffel

»The Americans« ist eine elegant und mit unwahrscheinlichem Sinn für Details inszenierte Serie, zudem über Staffeln hinweg so erzählt, das sich kaum je die fürs Serien-Genre üblichen Effekte von Abnutzung, Retardation und sturer Langweile einstellen. Gewiss, im Laufe der Zeit übernahm das visuell Schöne die Vorherrschaft gegenüber dem Konzept, den visuell authentisch Eindruck der Achtziger zu inszenieren; es sah dann manchmal einfach zu gut aus. Damit lässt sich leben, weil der Eindruck einer fremden Zeit doch immer erhalten blieb. Continue reading »

Okt 202020
 

»Viele meinen, der Künstler müsse sich immer mitteilen, wie es ihm ums Gemüt sei. Die anderen wieder leugnen das gar nicht, mögen indessen nicht einsehen, wieso dieser richtige Satz den Künstler hindere, gelegentlich einen Blick in die ersten Abschnitte von ›Was tun?‹ zu werfen. Gewiß ist die Vorstellung, man könne die Vorzüge des Sozialismus mit den paar noch übrigen Vorzügen des Imperialismus verbinden, angenehm. Aber sie ist, zur gegenwärtigen Zeit, eine ungebildete Vorstellung. Es ist der Wunsch nach einem schokoladenen Leninismus, und ein Lenin, der aus Schokolade wäre, würde schnell schmelzen. […]
Wolf Biermann ist nicht so gut, wie man annimmt. Ich erwähne das nicht zum erstenmal, und ich würde es hier nicht wiederholen, wenn es ihn nicht erklärte. Biermann übernahm sich. Und in je höherem Maße er sich übernahm, desto mehr bedurfte seine Kunst, neben dem Gedicht und der Gitarre, des Skandals.«
(Die Weltbühne 49/1976)

Wer wissen will, was den Namen Cancel Culture wirklich verdient, der schaue auf Hacks. 1976, als er seinen treffenden & bis heute maßgeblichen Text über Biermann schrieb, haben zwei Theaterbetriebe – der der DDR und der der BRD – seine Stücke nahezu flächendeckend blockiert. Nicht ein einzelner Veranstalter, ein einzelner Verlag, ein einzelner Sender (wie heute bei Sarrazin, Steimle, Jebsen, Eckhart, Maron und den anderen Langweilern), sondern mehr oder weniger alle. Continue reading »

Okt 072020
 

Ergänzungen zu einer befugten Kritik

Opportunisten haben keine Grundsätze. Na gut, einen doch. Marx tat uns den Gefallen, ihn mal zu formulieren: »Those are my principles, and if you donʼt like them – well I have others« (Groucho natürlich, nicht Karl). Indessen muss dieser eine Grundsatz, der dann doch vorhanden ist, bei Strafe der Unglaubwürdigkeit verleugnet werden. Der Opportunist bekennt sich fortwährend zu Dingen, an die er nicht glaubt, zu der einen Sache aber, an die er glaubt, darf er sich nicht bekennen. Und was für die Gegenwart gilt, gilt auch für die Vergangenheit: Das Umdeuten der eigenen Biographie wird dann folgerichtig. Der orthodoxe Opportunist will schon immer genau das vertreten haben, dem er sich grad eben erst unterworfen hat. Continue reading »

Apr 152020
 

Haltungen in der Corona-Krise

Es brauchte keine zwei Wochen Lockdown, bis das Sterben von Mitmenschen für verhandelbar erklärt wurde. Natürlich gleitend. Man wird ja noch fragen dürfen, ob man fragen darf … Man wird ja noch fragen dürfen … Man wird ja noch sagen dürfen. In den USA hat sich in diesen zwei Wochen die Zahl der Todesfälle vervierzehnfacht (von 1.200 auf 16.700), in Deutschland verzehnfacht (von 260 auf 2.600). Aber schön, dass wir das alles so offen diskutieren. Continue reading »

Apr 042020
 

Der Virologe als Influencer: Zum Corona-Podcast des Mediziners Christian Drosten

Im Februar noch hätte ich »Drosten« für eine Pluralform gehalten. Für das also, was fällig würde, wenn Wiglaf und Annette sich trotz Kontaktverbot im Dichterhimmel treffen. Aber jetzt kommt er, ganz in weiß, der Viruskundler, gefragt vor allen, zu allem gefragt. Muss wissen, vorauswissen, immer richtig liegen. Man lauscht ihm. Die einen, um zu folgen, die andern, weil sie warten, dass er einen Fehler macht. Jedes Adverb kann ihm zum Verhängnis werden. Christian Drosten bleibt dran, philibustert weiter, solange jemand redet, ist die Menschheit noch da. Continue reading »

Mrz 212020
 

Neoliberalismus mit anderen Mitteln: Zur politischen Seite der Pandemie

Deklarieren von Zuständigkeit beginnt gern mit dem Erklären von Unzuständigkeit. Man schickt den Vorbehalt voraus, damit er im folgenden nicht mehr störe. »Ich bin kein Virologe, aber …« Der Biologieunterricht ist lang her, ein paar populärwissenschaftliche Texte helfen dürftig aus. Bloß, was soll man denn machen? Wenn alle betroffen sind, geht es auch alle an. Die Pandemie hat ihre politische Seite. Continue reading »

Feb 182020
 

»Bombshell«

Wie Adam McKay ist Jay Roach den seltsamen Weg von der seichten Komödie zum Politdrama gegangen. Und wie bei dem bleibt dieses Herkommen in den späten Filmen spürbar. McKay arbeitet mit Durchbrechen der 4. Wand, Voiceover, Mockumentarystil und Archivmaterial. Roach bewahrt den fiktionalen Charakter mehr, doch beider Politfilme haben gemein, dass flottes, oft irritierend-arhythmisches Pacing sowie ein Übergewicht an Diktion das Komödienhafte erhält und so eine eigentümlich neue Sorte Politdrama etabliert, die sich von dem, was etwa Oliver Stone, George Clooney oder Jason Reitman tun, unterscheidet. Continue reading »

Feb 082020
 

Geschichte wiederholt sich nicht nicht – Ein paar Takte zu Thüringen

Wer untot ist, ist noch nicht tot. Aber er lebt auch nicht mehr, und wer nicht lebt, tut besser daran, gleich ganz weg zu sein. Wenn er dann auch nichts ausrichtet, es entsteht zumindest Platz für Befugteres. Die Linke hatte den Zustand ihrer Untöte erreicht, seit sie begann, sich die Sorgen der Mitte zu machen. Ich will sie gar nicht tot, ich will sie wieder lebend. Wie reanimiert man einen Zombie? Continue reading »

Nov 152019
 

Das Übel um Sahra Wagenknecht begann lange vor ihrer neurotischen Jagd auf dusslige Wählerstimmen, die die Linke in einer Zeit, da rechterseits noch keine selbstbewusste Kraft etabliert war, ohnehin immer nur geborgt hatte. Es begann Ende der Neunziger Jahre, als Wagenknecht den Leninismus entsorgt und die kommunistische Opposition innerhalb der PDL zerschlagen hat. An deren Stelle trat zunächst ein diffuser Antiimperialismus und schließlich ein nach rechts offener Populismus. Immer stramm mit der Zeit, denn wo Schröder und Chirac 2003 den Antiamerikanismus nutzbar machten, durfte man den Anschluss genau so wenig verpasst haben wie 2015 beim Ruck nach rechts, der bis heute das Denken und die politischen Zuordnungen verwirrt.

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Nov 092019
 

Der Nation-Begriff der DDR war im Grunde der französische, in dem das Volk aus dem sittlichen Charakter des konstituierten Staats abgeleitet wird (anstatt seinerseits den Staat zu konstituieren). Noch je war der Nationalismus von oben, obgleich nie ganz vernünftig, der der Vernunft sich etwas weniger entgegensetzende. Und er gab – anders als der impulsive, im Widerstand gebildete, notwendig völkische Nationalismus von unten – den Menschen die Möglichkeit, zu ihrem Land aus sittlichen Gründen Ja zu sagen. Continue reading »

Okt 152019
 

Man kommt recht bald dahinter, dass Utopien tatsächlich nicht realisierbar sind, sie aber als Kompass benötigt werden, wenn man mehr als bloß verwalten will. Auch die Magnetnadel zeigt auf einen Punkt hinterm Horizont, der nicht erreichbar ist, doch besser, man folgt ihr als gar keiner Richtung im wahllosen Herumzukreuzen. Continue reading »

Okt 102019
 

Zur Spaltung der real existierenden Ideologiekritik[1]

Ich kann keine Karikaturen malen. Das mag daran liegen, dass ich überhaupt nicht malen kann. Könnte ichs, brächte ich folgendes aufs Papier: Ein Mann hält vom Podium einer Pressekonferenz eine Phantomzeichnung in die Luft. Die Zeichnung zeigt ein Gesicht, das dem des Mannes aufs Haar gleicht. Darunter in Anführungszeichen: »Wir fahnden nach diesem Mann.« Die Karikatur könnte den Titel »Ideologiekritik« tragen, würde aber auch so, denke ich, nicht verstanden werden. Die Sache allerdings hätte einen Vorteil. Ich könnte jetzt aufhören. Continue reading »

Okt 052019
 

»Skin«

Es scheint retrospektiv fast zwingend, dass Regisseur Guy Nattiv den Stoff um den Neonazi Bryon Widner von der Erzählung weg auf die Bildsprache hin gestaltet hat. Denn nicht der Inhalt, nicht die Erzählung – das titelgebende Motiv der bemalten Haut macht die Besonderheit dieser Biographie. Widner musste seinen Ausstieg aus der Szene ebenso auf der Haut vollziehen wie darunter. Insgesamt 612 Sitzungen waren nötig, die zahllosen Tattoos verschwinden zu lassen, die seinen Körper bis ins Gesicht bedeckten. Dass das Entfernen so schmerzhaft wie das Tätowieren war, kann als lex talionis verstanden werden: die Strafe spiegelt das Vergehen. Continue reading »