Jun 282018
 

»Love, Simon«

Es ist schwieriger geworden, eine leidlich interessante Coming-out-Handlung zu erzählen. Der Schikaneur aus dem Footballteam, der verstockte Nachbar mit militärischem Hintergrund, die Mutter mit konservativem Familienbild, der Mitläufer, der seine eigene Homosexualität unterdrückt – die Klischees treffen noch von Fall zu Fall, doch Homophobie ist heute nicht mehr manifest. Die Zeit der Heugabeln und brennenden Kreuze ist vorbei. »Love, Simon« unternimmt also den Versuch, ein Coming-out zu erzählen für eine Gesellschaft, die Homosexualität weitgehend akzeptiert hat. Es geht damit eher um die Hintertüren, durch die sich aus dem gesellschaftlichen Konsens gestoßene Vorurteile ins Verhalten zurückschleichen. Continue reading »

Jun 222018
 

Dominic Cookes Verfilmung von Ian McEwans »Am Strand«

Dieser Film erzählt im Grunde nicht mehr als die Geschichte eines Beischlafs. Florence und Edward befinden sich am Tag ihrer Hochzeit, im englischen Sommer 1962, in einem Hotel, das entlegen auf dem Kies des Chesil Beach steht. Sie versuchen einander näher zu kommen, doch in den entscheidenden Momenten blockt Florence immer wieder ab. Rückblenden unterbrechen das Geschehen, machen die Beklemmung etwas verständlicher. Die Handlung steuert auf einen Crash; als der passiert, folgt die Erzählung Edwards weiterem Leben, das mit größerwerdenden Sprüngen gen Zukunft angerissen wird. Continue reading »

Jun 142018
 

»Das ist erst der Anfang«, ein traurig schlechter Film um ein paar Senioren

Manche Filme will man nicht mal verreißen. Wenn selbst das nämlich noch mehr Arbeit wäre als im betreffenden Film steckt. »Das ist erst der Anfang« dauert 90 Minuten, und das ist keine schöne Zeit. Ich will sie zurück, denn ich hätte sie auch verdösen können. Phlegmatische Inszenierung, mittelmäßiges Schauspiel, frivolseinsollende Dialoge und eine Kulisse, bei der man buchstäblich die Pappe auf der Zunge schmeckt, können trotz aller Miserabilität nicht verbergen, dass das Übel bereits im Drehbuch selbst liegt. Falls es denn eins gab. Continue reading »

Jun 072018
 

»Goodbye Christopher Robin« erzählt die Geschichte hinter der Geschichte von »Winnie-the-Pooh«

Der Reiz eines Making-of-Films liegt in der Spannung zwischen Werk und Entstehung. Die Geschichte hinter der Geschichte muss irritieren, oder sie bleibt banal. Bei »Shakespeare in Love« (1998) ist es das fehlende biographische Material, das den Einfall gestattet, Shakespeare habe sich die Ideen für »Romeo und Julia« aus seiner Umgebung geholt. »Miss Potter« (2006) erzählt brav die Entstehung von »Peter Rabbit« herunter, und mehr nicht. »Ed Wood« (1994) und »The Disaster Artist« (2017) sind bereits durch die Wahl ihrer Subjekte boshaft, während sich »Hitchcock« (2012) und »Genius« (2016) tatsächlich mühen, einen komplizierten Künstler hinter einem komplizierten Werk zu zeigen. Continue reading »

Mai 312018
 

»Hostiles« erinnert an das Erbe der amerikanischen Kolonialgeschichte

Wenn schon der Film überhaupt von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt ist wie kein Genre je, so kann der Western als reiner Ausdruck davon genommen werden. Sein Setting ist die idealisierte Geographie des frühen Kapitalismus: die unterentwickelte Staatlichkeit, der Vorrang des noch nicht kodifizierten Rechts, das egozentrische Handeln als höchstes gemeinsames Gut, die unerbittliche Expansion, bei der Hinterland und Frontier verschwimmen, die absolute Grenze des Pazifik, nach der bloß noch intensive Reproduktion möglich sein wird – alle diese Elemente sind im Western zum Naturzustand verklärt. Hier siedle ich und kann nicht anders. Continue reading »

Mai 262018
 

»Ein Leben« zeigt die Kollision von Wahrheit und gesellschaftlicher Rücksicht

»Das Leben«, so lautet der Satz, in dem Stéphane Brizés Verfilmung von Maupassants großem Roman »Une Vie« schließlich erstarrt, »ist nie so gut oder schlecht, wie man glaubt.« Jeanne, eine junge Adlige, kehrt nach Jahren klösterlicher Erziehung auf den Landsitz ihrer Eltern zurück. Sie heiratet unglücklich; ihr Mann Julien, der sie betrügt, wird vom eifersüchtigen Nachbarn umgebracht. Jeannes Vater stand ihr bloß zaghaft bei, ihr Sohn Paul verlässt sie gen England, wo er eine Prostituierte heiratet und sich in allerlei desaströse Geschäfte involviert. Von einem Leben der Lügen und Zweideutigkeiten gezeichnet, beginnt Jeanne an der Ehrlichkeit seiner Nachrichten zu zweifeln, bis sie einen unumstößlichen Beweis erhält. Es sind nicht die Ereignisse, die einen hieran packen, es ist das Innere der Heldin. Diese Innerlichkeit gibt den Schlüssel, diesen Film zu verstehen – sein Schauspiel, seine Diktion, seine Erzählform, seine bildästhetischen Mittel. Continue reading »

Mai 172018
 

Die Dokumentation »The Cleaners« wirft Licht auf eine Schattenindustrie

Als Saul Ascher 1818 seine »Idee einer Preßfreiheit und Censurordnung« vorlegte, war er von einer wohlbekannten Zerrissenheit befallen, die Freiheit zwar zu wollen, nicht aber die damit gegebene Möglichkeit zu Verleumdung und Aggression. Sein Vorschlag lautete, dass Zensur nie den Inhalt, sondern die Form anzutasten habe. Jeder sage, was er will, doch man sorge, dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Ascher wollte also trennen, was sich praktisch nicht trennen lässt. Wer ein Medium für das Gute öffnet, öffnet es auch fürs Schlechte, und wenn schon im täglichen Betrieb beides stets ineinandergreift, so scheint erst recht unmöglich, dies Chaos in ein allgemeines Handlungsgesetz zu überführen. An eben dieser Schnittstelle setzt exakte 200 Jahre und 1 Internet später die Dokumentation »The Cleaners« an. Continue reading »

Mai 102018
 

»Der Buchladen der Florence Green« von Isabel Coixet

Eine weibliche Stimme berichtet, Jahrzehnte zurückblickend, von den Begebenheiten um die Buchhändlerin Florence Green: »Sie sagte mir mal: Wenn wir eine Geschichte lesen, bewohnen wir sie. Der Einband eines Buchs ist wie ein Dach und vier Wände.« Die Sprecherin zitiert die Heldin des Films, die ihrerseits den Schriftsteller John Berger zitiert, der sich seinerseits auf Diderots theatralische Theorie bezieht. Diese Intertextualität der dritten Stufe ist mehr als bloß Fanservice für das mutmaßlich bibliophile Publikum des Films. Jene vier Wände bedeuten das Wesen von Fiktion überhaupt, die nur dort bestehen kann, wo sie sich selbst verleugnet, und das Denken in Zitaten scheint die natürliche Ausdrucksform einer Leseratte, die von Buch zu Buch kommt, es zwar bewohnen, aber nie ganz besitzen kann. Continue reading »

Mai 032018
 

»Sherlock Gnomes«

Als vor sieben Jahren mit »Gnomeo und Julia« die charmante Adaption eines klassischen Stoffs in die Kinos gelangte, drängte sich der Gedanke an eine Fortsetzung nicht gerade auf. Der Film war rund und abgeschlossen, auch wenn sein Thema gute 20 Jahre zu spät kam. Ähnlich unzureichend wie in Petersens »Enemy Mine« wurde der Kalte Krieg von der sittlichen Differenz der kriegführenden Systeme befreit und als sinnlose Feindschaft zweier nebeneinander liegender Gärten vorgestellt, die ihre kombativen Aktionen ebenso gut unterlassen könnten. Gleichwohl hatte man hier eine Art Zugriff auf die Welt. Mit »Sherlock Gnomes« erscheint jetzt eine Fortsetzung, die sich in ihrem Bestreben, bloß zu unterhalten, harmlos gibt. Continue reading »

Apr 262018
 

»A Beautiful Day« ist ein echter Film noir und reiner Stil

Das ist einer dieser Filme, von denen man schon vorher genug hat. Dann sieht man hin und kann nicht mehr genug bekommen. Vorurteile sind ja ganz nützliche Filter, manchmal, und hier fällt die Einordnung leicht: Harter Mann, kleines Mädchen – ein Thema, so abgegriffen und ausgepresst, dass allein die Aufzählung der betreffenden Titel die Seite hier füllen könnte. Der an der Wirklichkeit beschmutzte Mann – ein Auftragsmörder, Gangster, Geheimagent – trifft auf die Reinheit des kindlichen Mädchens; Sexualität schwingt mit und soll es auch, aber sie ist verboten. Indem er das Mädchen rettet und sexuell zurückhaltend bleibt, ergreift er die Chance, es spät im Leben noch einmal anders zu machen. Nicht selten opfert er sich am Ende, was in die Logik passt. Regression ist der Kadaver der Utopie, und totgeritten ist das Sujet schon lange. Continue reading »

Apr 192018
 

»Roman J. Israel, Esq.« kann sich nicht entscheiden,

ob er Gerichtsdrama, Charakterstudie oder Thriller sein will

Ein langes Arbeitsleben hat Roman J. Israel als stiller Partner in der Kanzlei seines Freundes William Jackson verbracht. Nach außen trat er nie in Erscheinung. Er, der den Gerichtssaal als »Butchery« bezeichnet, ist der Mann fürs Schriftliche, leistet die substantielle Vorarbeit am Gesetzestext, entwickelt Strategien, verfasst Anträge und Plädoyers. Als sein Partner stirbt, ist er gezwungen, sich eine neue Stelle zu suchen. Er bewirbt sich bei Maya Alston, die eine politische Agentur leitet; erfolglos, denn sein Sozialverhalten kann mit seiner sozialen Haltung nicht schritthalten. Also muss er, der linksliberale Idealist, in der Kanzlei von George Pierce anheuern, einem geschäftstüchtigen Anwalt, der ebenfalls einmal Jacksons Schüler war. Roman mag ihn nicht und fragt, was ihn eigentlich von dem Auto unterscheide, das er fährt. Continue reading »

Apr 052018
 

»Film Stars Donʼt Die in Liverpool«

Gloria Grahame, seit dem Auftritt in Capras Schmonzette »Itʼs a Wonderful Life« (1946) als große Schauspielerin bekannt, kommt im letzten Jahr ihres Lebens (1981) nach Liverpool. Dort wohnt die Familie ihres deutlich jüngeren Geliebten Peter Turner, auf dessen Erinnerungen der Film beruht. Man muss allerdings die frühen Achtziger erinnern, um das Gefälle zu bemessen von Hollywood nach Liverpool, wohin vielleicht mal ein Meistertitel, sonst aber gar nichts kam. Continue reading »

Mrz 282018
 

»Vor uns das Meer« ist eine Parabel auf den gesellschaftlichen Charakter der Lüge

Die Schwächen dieses Films wären weniger ärgerlich, wenn er nicht so gut wäre. Das beginnt beim deutschen Titel, in dem der Schlüsselcharakter des originalen »The Mercy« missachtet wird, der mit »Begnadigung« oder »Erbarmen« gut übertragbar war. Das setzt sich fort bei der größerenteils schwachen Besetzung. Und reicht bis zum Drehbuch, dessen Anlage so grandios wie seine Ausführung synthetisch ist. Continue reading »

Mrz 232018
 

In »Die stille Revolution« versuchen es Kapitalismus und New Age noch einmal miteinander

Vögel zwitschern, weites Waldland, norddeutsche Gezeiten, Füße im Watt. Diese Dokumentation über den Wandel der Arbeitswelt beginnt mit Bildern, die denkbar weit von dem liegen, was menschliche Arbeit ausmacht. Ist das schon Vergangenheit oder noch Zukunft? Wir sehen die Geschichte des Unternehmers Bodo Janssen, der eines Tages von seinen Angestellten gemocht werden wollte. Er krempelt seine Firma um, und seither sind alle glücklich. Continue reading »

Mrz 222018
 

Mehr als ein Biopic: »I, Tonya« zeichnet eine hintergründige Karikatur des Amerikanischen Traums

Filmische Biographien müssen enttäuschen. Sie provozieren die Erwartung, getreu zu erzählen, wie es war, und langweilen, wenn sie das tun, weil das Ende doch immer schon bekannt ist. Jeglicher Film über Jesus wird dessen Tod am Kreuz zeigen, jeder Film über Tonya Harding den Hergang des Attentats auf Nancy Kerrigan erzählen. Also kommt es hier mehr noch als in der reinen Fiktion darauf an, wie die Sache erzählt wird. Was immer sich sonst für oder gegen »I, Tonya« vorbringen ließe, dieses Problem hat der Film exzellent gelöst. Continue reading »