Okt 202020
 

»Viele meinen, der Künstler müsse sich immer mitteilen, wie es ihm ums Gemüt sei. Die anderen wieder leugnen das gar nicht, mögen indessen nicht einsehen, wieso dieser richtige Satz den Künstler hindere, gelegentlich einen Blick in die ersten Abschnitte von ›Was tun?‹ zu werfen. Gewiß ist die Vorstellung, man könne die Vorzüge des Sozialismus mit den paar noch übrigen Vorzügen des Imperialismus verbinden, angenehm. Aber sie ist, zur gegenwärtigen Zeit, eine ungebildete Vorstellung. Es ist der Wunsch nach einem schokoladenen Leninismus, und ein Lenin, der aus Schokolade wäre, würde schnell schmelzen. […]
Wolf Biermann ist nicht so gut, wie man annimmt. Ich erwähne das nicht zum erstenmal, und ich würde es hier nicht wiederholen, wenn es ihn nicht erklärte. Biermann übernahm sich. Und in je höherem Maße er sich übernahm, desto mehr bedurfte seine Kunst, neben dem Gedicht und der Gitarre, des Skandals.«
(Die Weltbühne 49/1976)

Wer wissen will, was den Namen Cancel Culture wirklich verdient, der schaue auf Hacks. 1976, als er seinen treffenden & bis heute maßgeblichen Text über Biermann schrieb, haben zwei Theaterbetriebe – der der DDR und der der BRD – seine Stücke nahezu flächendeckend blockiert. Nicht ein einzelner Veranstalter, ein einzelner Verlag, ein einzelner Sender (wie heute bei Sarrazin, Steimle, Jebsen, Eckhart, Maron und den anderen Langweilern), sondern mehr oder weniger alle. Continue reading »

Jun 062020
 

Kritik an Fake News leidet am selben Webfehler wie ihr Gegenstand

Als die Redaktion mich fragte, was mir zu Rezo einfalle, stand ich erstmal auf dem Schlauch. Und damit sind wir schon mittendrin. Rezo würde diesen Rezzo-Witz nicht verstehen, während ich nicht einmal weiß, dass man seinen Namen anders ausspricht, und überhaupt aus dem, was Influencer bei Youtube so dahinreden, selten schlau werde. Das liegt vielleicht an der hektischen Sprechweise dieser Leute und gewiss an den behandelten Problemen, die für mich meist gar keine sind. Bei Rezos aktuellem Video (»Die Zerstörung der Presse«) ist das etwas anders. Hier nimmt er sich ein hinlänglich bekanntes Thema vor, das schwierige Verhältnis von Medien und Wahrheit. Continue reading »

Nov 132019
 

Der Zusammenhang von Kinderdichtung, Poesie und Realismus

in der Epik eines Dramatikers

Der Dramatiker heißt Hacks, und er war einer. Alles darüber hinaus tat er bloß nebenbei. Er schrieb für die Aufführung und für Erwachsene; das Epische lag ihm so wenig[1] wie das Kindliche. Dass er dennoch nicht unterließ, Kinderliteratur (und vorrangig epische (und vorrangig erstklassige)) zu schreiben, hat Ordnung, aber eine hintergründige. Nichts widersetzt sich energischer der Ordnung als ein Kinderzimmer. Ich würde daher gern etwas aufräumen. Continue reading »

Sep 072018
 

Kunst, Spektakel und Revolution No. 6

[Rezension]

Theater Realität Realismus – ein Subjekt, ein Objekt und deren Beziehung. Nur nicht die Beziehung schlechthin, sondern sie ist hier zugleich Forderung. Denn ebenso wie jedes andere Subjekt kann Theater gar nicht anders als sich auf Wirklichkeit zu beziehen. Der Realismus aber regelt, auf welche Weise dieser Bezug herzustellen sei, indem er die Forderung aufstellt, dass ein Erfassen oder Abbilden oder Widerspiegeln der Realität unbedingtes Kunstziel sei. Es gibt adäquates und weniger adäquates Abbilden. Durch den Realismus wird die Realität zum Maßstab. Zum Maßstab allerdings der Erkenntnis, nicht zwingend auch zum Maßstab politischer Norm. Ein Werk kann einen intimen Komplex einer Zeit empfindlich anrühren und so viel Realismus befördern, dass es selbst zum Politikum wird, und kann sich dennoch, grundsätzlich, affirmativ zur eigenen Zeit verhalten. Das vernichtende Urteil der »Heiligen Johanna« und das profunde Einverständnis von »Adam und Eva« trennt mehr als es eint, gleichwohl wird man beide Werke nicht anders denn realistisch nennen können. Um diesen Komplex, der sich nach verschiedenen Seiten konkret ausspitzen lässt, kreisen die 9 Beiträge dieses Heftes, das auf eine Konferenz zurückgeht, die am 22. und 23. Juli 2016 in Berlin stattfand, organisiert von der Arbeitsgruppe Kunst und Politik, und in das es leider nicht alle dort gehaltenen Vorträge geschafft haben. Continue reading »

Mai 172018
 

Die Dokumentation »The Cleaners« wirft Licht auf eine Schattenindustrie

Als Saul Ascher 1818 seine »Idee einer Preßfreiheit und Censurordnung« vorlegte, war er von einer wohlbekannten Zerrissenheit befallen, die Freiheit zwar zu wollen, nicht aber die damit gegebene Möglichkeit zu Verleumdung und Aggression. Sein Vorschlag lautete, dass Zensur nie den Inhalt, sondern die Form anzutasten habe. Jeder sage, was er will, doch man sorge, dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Ascher wollte also trennen, was sich praktisch nicht trennen lässt. Wer ein Medium für das Gute öffnet, öffnet es auch fürs Schlechte, und wenn schon im täglichen Betrieb beides stets ineinandergreift, so scheint erst recht unmöglich, dies Chaos in ein allgemeines Handlungsgesetz zu überführen. An eben dieser Schnittstelle setzt exakte 200 Jahre und 1 Internet später die Dokumentation »The Cleaners« an. Continue reading »

Mrz 212018
 

Wozu braucht man einen Hacks? Zum 90. Geburtstag eines abwesenden Dichters

Über den sollte Raoul Peck mal einen Film machen, sage ich in einem jener Momente, worin es schon aus Gründen der Uhrzeit bloß noch um die Punchline geht. ›Le jeune Hacks‹, da klingelt was. Saxophon in Schwabing, Party in der Berliner ›Möwe‹, Sex, Cognac, Verbote durch Adenauer und Ulbricht. Während der Abspann läuft, darf geweint werden: Was ist bloß aus dem Mann geworden? Continue reading »

Jan 052018
 

Manchmal, wenn eine Sache so blöd ist, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, mache ich einen Witz. Das ist meine Art, mit den Augen zu rollen. Manchmal ist eine Sache so blöd, dass mir nichtmal ein Witz einfällt. In dem Manuskript, das ich gerade lektoriere, steht das Wort »Neger«. Das Protokoll von Word 2016 markiert vermeintliche Rechtschreibfehler mit rot gepunkteten Linien und vermeintliche Fehler der Grammatik mit durchgezogenen blauen. Hier unter besagtem Wort sehe ich zum ersten Mal eine braun gepunktete Linie und dürfte etwa ausgesehen haben wie Pete Sampras vorm Aufschlag, als ich das Wort mit der rechten Taste anclickte: »Neutrale Sprache« & »Sie sollten den Ausdruck ersetzen«. Continue reading »

Mai 082017
 

Vor fünf Jahren starb der Zeichner und Kinderbuchautor Maurice Sendak

Künste können nicht miteinander. Wo zwei sich treffen, muss eine regieren. Was aber fängt jemand an, der beides ist, Maler und Poet? Biographisch bleibt bei Maurice Sendak kein Zweifel: Er hat manchmal gedichtet und immer gemalt. Die Poesie begleitet ihn eine Weile, dann nicht mehr. In den letzten 30 Jahren schreibt er zwei Bücher, eins davon selbst. Continue reading »

Jan 182016
 

Fangen wir doch gleich mal mit einer Behauptung an, die wirklich unter allem Niveau ist: Schreiben ist nichts anderes als in die Länge gezogenes Herumprotzen. Es sind zugegeben viele Gründe denkbar, aus denen einer einen Text veröffentlicht. Er kann was beweisen wollen oder etwas bewegen, einen Komplex seelisch verarbeiten oder Leute zum Nachdenken bringen; er kann solchen, die er nicht leiden kann, einen mitgeben, oder sich schlicht Klarheit über eine Sache verschaffen. Das alles sind Variablen, die Angeberei ist die Konstante. Warum aber schreiben dann viele, die schreiben, öfter als sie sollten, schlechter als sie könnten? Hier liegt ein Widerspruch, nicht wahr? Wenn, wer schreibt, das immer auch tut, um sich öffentlich herzuzeigen – und wir rein psychologische Gründe schlechten Schreibens wie bloße Faulheit etwa oder Selbsthass als zufällige ausschließen –, dann muss der Umstand, dass so viele Schreibende so oft so schlecht schreiben, handgreifliche Gründe haben. Solche, die sich ihnen von außen auferlegen. Continue reading »

Mrz 282015
 

Mauern haben Vorzüge. Sie spenden Schatten, geben allerlei Moosen eine Heimat, gewähren Staaten Schutz vor Feinden, schirmen Siedler gegen ihre Nachbarn ab. Vor allem aber gibt es ohne sie keine Mauerblümchen. In der Tundra fühlte sich nicht mal ein Veilchen klein. Ich rede, wie Sie unschwer bemerkt haben, vom Buchmarkt. Continue reading »

Jul 112013
 

»Der Stern ging vor einiger Zeit der Frage nach, wie viel Schriftsteller denn nun verdienen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Durchschnittlich waren es 955 Euro brutto monatlich. Das Einkommen eines Buchhändlers wurde dagegen mit immerhin 1700 Euro brutto angegeben.« (Tanja Dückers: Autoren am Rande des Existenzminimums)

Nun, es gibt ja auch nicht annähernd so viele Buchhändler wie Schriftsteller. Und vor allem nicht so viele schlechte. Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem niedrigen Durchschnittsverdienst der Autoren und dem Umstand, daß es heute so viele Autoren gibt.

Aber was wäre denn die Alternative? Den Zugang zum Markt einschränken könnte allein eine Behörde, und Behörden sind kaum weniger dumm als der Zufall oder der blind wirkende Medienbetrieb. Continue reading »

Dez 012012
 

Ich sage ja nicht, daß es unmöglich ist, daß einer ein Dissident und dennoch ein guter Poet sei. Es ist nur nicht wahrscheinlich. Dem Dissidenten wird internationales Wohlwollen zuteil, den Erfolg erlangt er, weil er für etwas steht. Diese Abkürzung zum Ruhm ist zu verlockend, doch von der Poesie gilt wie von allen anderen Fächern, daß wirklich gut nur ist, wer die Umwege geht. Das gilt natürlich auch für den Staatsdichter, dem der Erfolg national zugesprochen wird wie dem Dissidenten international. Um aber einen Nobelpreis zu erhalten, muß der Staatsdichter schon ein herausragender Dichter sein.

Es passiert folglich selten, daß der Nobelpreis für Literatur aus ästhetischen Gründen vergeben wird. Und noch das zu oft, findet Herta Müller, deren Erfolg ganz offensichtlich nicht durch die Qualität ihres Werks erklärt werden kann. Mo Yan wirkt unter der Schar konformistischer Dissidenten wie ein Rebell, beschämt also Müller, die ihrerseits Liao Yiwu nach seiner Blut-und-Boden-Rede in der Paulskirche umarmt hat, nicht nur durch sein Können, sondern auch durch seine Coolness. Dietmar Dath hat den Fall bearbeitet: Continue reading »

Jul 162012
 

Ich kann keine zehn Jahre alt gewesen sein, als ich mit meinem Vater bei einer sommerlichen Radtour durch den wunderschönen Ort Poritz fuhr. Von einer erhöhten Stelle aus machte die langgezogene Ortsstraße ihrem Namen auch bildhaft alle Ehre. Über sowas konnten wir damals lange lachen. Vorletzten Sommer fuhr ich durch Südfrankreich und näherte mich, wieder von einem erhöhten Standpunkt, dem Ort Gap. Auch der machte seinem Namen alle Ehre. So sann ich jäh, ob da nicht eine Möglichkeit war, das Gap von Gap elegant zu bridgen. Gab es aber nicht; ich mußte hindurch. Und das Lachen war mir auch vergangen.

Mit Löchern im Sommer kann ich nicht umgehen. Wenn es heiß wird, scheint jeder zu schlafen: Keine Veranstaltungen, keine Aufträge, kein Geld. – Keine Themen. Es ist, als hätte die Menschheit sich vorgenommen, zwischen Juni und September nicht auf der Welt zu sein. Man muß nicht Continue reading »

Apr 192012
 

 

 Was Grass und seine Grassenheimer umtreibt

 

Wovon man nicht schweigen kann, darüber muß man sprechen.

Grass (Wittgenstein-Kritiker)

Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal: Fresse halten.

Wittgenstein (Grass-Kritiker)

 

Warum schweige ich?, fragt, heterologisch um Aufmerksamkeit heischend, der nie stille Schnauzbart des Literaten Grass. Man blickt die Zeitungsseite hinunter auf die folgenden 68 Zeilen und fragt sich unweigerlich: Ja, warum bloß schweigt er nicht? Aber so ist er, der Günter, der Grass; es reicht ihm nicht, die Menschheit seinen Absonderungen auszusetzen, er muß sie auch noch mit der Frage belästigen, warum er tut, was er offenkundig nicht tut. Andererseits scheinen viele ihren Geschmack daran zu finden. Die Pose des Tabubrechers, des einsamen Continue reading »

Apr 302010
 

Unlängst habe ich vermocht, mich … – doch ich stocke, indem ich das schreibe. Gestern nämlich kam mir ein Buch eines gewissen Wolf Schneider unter die Nase, Deutsch fürs Leben, das von sich behauptet, ein Lehrgang der höheren deutschen Sprache zu sein und worin sich folgende Regel findet: „Mit Wörtern geizen“. Schreiben Sie, steht da, „also nicht: zu diesem Zeitpunkt, sondern: jetzt“, nicht: „keine Seltenheit“, sondern: „häufig“, nicht: „ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig,“ sondern: „war ziemlich deutlich“ usw. Das Grundprinzip guter Sprache sei, niemals mehr zu schreiben als unbedingt notwendig. Man staunt dann im übrigen, was so alles nicht notwendig ist. Daß diese Regel fischig ist, vermag Continue reading »