Apr 192012
 

 

 Was Grass und seine Grassenheimer umtreibt

 

Wovon man nicht schweigen kann, darüber muß man sprechen.

Grass (Wittgenstein-Kritiker)

Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal: Fresse halten.

Wittgenstein (Grass-Kritiker)

 

Warum schweige ich?, fragt, heterologisch um Aufmerksamkeit heischend, der nie stille Schnauzbart des Literaten Grass. Man blickt die Zeitungsseite hinunter auf die folgenden 68 Zeilen und fragt sich unweigerlich: Ja, warum bloß schweigt er nicht? Aber so ist er, der Günter, der Grass; es reicht ihm nicht, die Menschheit seinen Absonderungen auszusetzen, er muß sie auch noch mit der Frage belästigen, warum er tut, was er offenkundig nicht tut. Andererseits scheinen viele ihren Geschmack daran zu finden. Die Pose des Tabubrechers, des einsamen Mahners, der gegen einen mächtigen Konsens ficht, macht Eindruck bei denen, die gute Gründe stets nur als Einschränkung ihres freien Willens erleben. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Tabu, gegen das man anzurennen vorgibt, tatsächlich existiert. Wahn braucht Anlässe, keine Gründe. Und so konnte man seit Ausbruch des absonderlichen Gebildes »Was gesagt werden muß«1 das seltsame Phänomen erleben, daß Günter Grass nunmehr endgültig und vollends zu dem herabgesunken ist, was Hegel einen »Heerführer der Seichtigkeit« genannt hat, und daß eine Heerschar der Seichten ihm beisprang in einer nicht enden wollenden Flut von Kommentaren, Ein- und Beiträgen auf den Plattformen des Web 2.0: jenen zahllosen Blogs, Foren, sozialen Netzwerken sowie den Kommentarspalten von Onlineportalen und Video-Plattformen. An all diesen Orten war und ist diese Heerschar bei weitem in der Mehrheit2 und richtet sich zornig gegen jeden grasskritischen Kommentar, dabei einerseits ihre Kritik gegen Israel ausbreitend und andererseits die Behauptung aufstellend, Kritik gegen Israel zu üben sei hierzulande nicht möglich. Heterologen bis zum Horizont, und ich frage mich, was das wohl für ein Gefühl ist, nicht zu leiden unter dem, woran man leidet.

Die Angelegenheit hat diese zwei Seiten: den individuellen und den kollektiven Wahnsinn, den Helden also und sein Gefolge. Der Held ist hierbei der weniger interessante Teil. Für mich ohnehin nicht, da ich erst vor ein paar Monaten Abschließendes zu Grass gesagt habe3, und ich finde, daß sich vorliegender Fall auf schönste in mein zeitiges Urteil eingliedert.4 In den seelischen Untiefen des Literaten herumzustochern ist immerhin Frank Schirrmacher gelungen, der Grassens Elaborat, als handle es sich um Humpty Dumpty, erst zerlegt und, des Grauens ansichtig, findet, daß es keinen Grund gibt, es wieder zusammenzusetzen.5 Man wundert sich zwar, daß Schirrmacher das, was Grass schreibt, für Sprache hält, für gute sogar, aber die zwei wesentlichen Motive des Verfassers hat er benannt: Grass unternimmt eine Verschiebung der Täter-Opfer-Konfiguration, in der er persönlich feststeckt; Israel, das stellvertretend für das Judentum steht, wird ein geplanter Völkermord unterstellt, während er selbst, der SS-Veteran Grass, sich der nunmehr vom Staate Israel befreiten Opferseite zugesellt, indem er, der seine »Herkunft« als Makel benennt, sich nun auch ein bißchen als Opfer fühlen darf. Am Ende stehen sechs Millionen ermordete Juden, 80 Millionen bald ermordete Iraner und Günter Grass auf der einen Seite, und steht der Staat Israel neben Nazideutschland auf der anderen. Schirrmachers abschließende Worte fassen den individuellen Wahn ebenso zusammen, wie sie – geäußert wohlgemerkt vor dem Einsetzen der folgenden Debatte – den kollektiven vorwegnehmen: »Gern hätte [Grass], dass jetzt die Debatte entsteht, ob man als Deutscher Israel denn kritisieren dürfe. Die Debatte aber müsste darum geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen, nur damit ein fünfundachtzigjähriger Mann seinen Frieden mit der eigenen Biographie machen kann.«

Was den Autor und seine Jubelperser vor allem verbindet, ist das eigenwillige Verhältnis zur Wirklichkeit. Ich rede schon gar nicht vom nebensächlichen Unsinn, der sich in den schmierigen Zeilen findet. Vom romantischen Wahn etwa einer »internationalen Instanz« – man fragt sich, aufgrund welcher Macht eine solche Instanz existieren könnte und was ihre Neutralität garantiert –, die Israel und den Iran gemeinsam zu beaufsichtigen habe. Oder von der Behauptung, die gelieferten U-Boote, deren Zweck bekanntlich ist, eine Rückschlagskapazität aufrecht zu halten, dienten einem atomaren Erstschlag. Und ebenso wenig vom Argument, die Existenz einer Atombombe im Iran sei nicht bewiesen, was nie einer abgestritten hat, da es der israelischen Regierung ja gerade darum geht, daß eine Atombombe im Iran gar nicht erst in die Existenz tritt. Ginge es allein um Derartiges, man könnte die Äußerungen getrost zu den Akten legen. Mangelnde Kenntnisse haben den in seiner Vorstellung längst zum Praeceptor Germaniae aufgestiegenen Grass noch nie gehindert, seine politischen Urteile in die Welt zu blasen. Das Gedicht hat, abgesehen vom besagten akzidentiellen Unsinn und dem bei Grass üblichen Geraune, das der Verundeutlichung dient und gedankliche Tiefe simulieren soll, einen argumentativen Kern, der es zu dem macht, was es ist. Dieser Kern wirkt wie eine Giftkapsel, aber wie eine, die tötet, wenn man sie nicht knackt. Man muß, bevor man den Kern aufbricht, das Gedicht ganz entkleiden und in dieser seiner ganzen Wahrheit dem Leser vor die Augen bringen: Israel versucht mittels eines atomaren Erstschlags das iranische Volk zu vernichten, während die iranische Regierung keinerlei Absichten hegt, Israel zu vernichten.

Das ist, was Grass sagt, und hätte er es so deutlich gesagt, wäre ihm wohl weniger Unterstützung zuteil geworden. Oder auch nicht; schließlich ist die Menge derer, die sowohl zur politischen Wirklichkeit ein schwieriges Verhältnis haben als auch keinen deutschen Satz verstehen können, kaum zufällig so groß.6 Zu den gängigsten Wahnvorstellungen über den Nahen Osten gehört die Einschätzung, daß die Beendigung des Konfliktes allein in Israels Hand liege, und wer immer heute die Formel »Grass hat recht«7 in die Welt setzt, sollte sich darüber bewußt sein, daß er damit jeder Aussage, die das Gedicht trifft, zustimmt. Vor allem erklärt er damit sowohl die Behauptung für richtig, Israel strebe die Vernichtung des iranischen Volks an, als auch die, daß der Iran keinerlei Vernichtungsabsichten gegen Israel hege. Die Absurdität ist doppelt, denn schließlich ist es nicht Israel, das dem Iran mit Vernichtung droht8, sondern der Iran tut das kontinuierlich und seit über dreißig Jahren mit Israel.9 Die Grassenheimer wissen zwei Dinge ganz genau: Wenn der Iran Israel die Vernichtung ankündigt, ist das entweder falsch verstanden worden oder aber eine leere Drohung (am besten, beides zugleich); wenn Israel dem Iran eine Bombardierung androht, ist das nicht nur unter allen Umständen keine leere Drohung (Drohung als politisches Mittel also auszuschließen), sondern bereits gleichermaßen verwerflich, als wenn die Bombardierung schon in die Tat umgesetzt worden wäre. Ich will hier, wie gesagt, nicht entscheiden, wessen Drohungen wie ernst zu nehmen sind, es geht mir um falsche Denkarten. Es ist das alte und bewährte Muster des Antizionismus, das sich darin zu erkennen gibt: Die Taten und Absichten Israels werden grundsätzlich frei erfunden, übertrieben oder außerhalb jedes kausalen Kontexts gestellt, während die Taten und Absichten seiner Gegner grundsätzlich ignoriert, untertrieben oder durch Umstände entschuldigt werden. Das übliche Messen mit zweierlei Maß, dem nur verfällt, wer sein Urteil schon lange vor Ansicht des Gegenstandes, den er zu beurteilen vorgibt, gefällt hat.

Ich bin mir nicht sicher, wie ergiebig es ist, sich über das, was dieser Art Urteilsbildung zugrunde liegt, Gedanken zu machen. Auch das Irrationale ist nicht anders als mit rationalen Mitteln auf den Begriff zu bringen, aber es entzieht sich ab einem gewissen Grad der Genauigkeit dem begrifflichen Zugriff. Von den drei Quellen und Bestandteilen des Antizionismus – Unkenntnis, Denkschwäche und seelische Schieflage – trifft man in Grassens Gedicht jede wieder. Selbst wenn Grass die nötigen Kenntnisse hätte, hätte er nicht die Fähigkeit, sein Wissen in eine gedankliche Ordnung zu bringen, und selbst wenn er das könnte, stünde ihm immer noch sein biographisch bedingter Schuldkomplex im Weg, der ihn zwingt, ganze Weltprozesse auf sich persönlich zu beziehen. Ich meine aber, daß in der Kritik, die dem Gedicht in den letzten Tagen durch die schreibende Klasse zuteil geworden ist, die Betrachtung der Punkte eins und drei gegenüber der des zweiten Punkts einen zu großen Raum eingenommen hat. Gewiß ist es wichtig, auf Grassens Kenntnislosigkeit und seine psychologische Motivierung hinzuweisen, aber geistig gefaßt ist das Gedicht der stöhnende Ausdruck intellektueller Unzulänglichkeit, ein Kapitulieren vor der Anstrengung des Denkens. Die Lage zwischen dem Iran und Israel ist nicht weniger kompliziert, als der gesamte Nahostkonflikt es ist. Grass, ausgestattet mit dem, was Eike Geisel die »Moralität von Debilen« genannt hat, rebelliert nicht gegen die Weltlage, sondern gegen ihre Kompliziertheit. Er muß diese runterbrechen auf die einfache Formel, daß die Gefährdung des Weltfriedens (was immer er unter dieser schwammigen Vokabel versteht) allein von Israel ausgehe. Ich sage ja nicht, daß ausschließlich Experten eine Meinung zum Thema haben sollen, ich meine nur, daß auch ein Laie sich etwas Mühe beim Urteilen geben sollte. Man muß weder Experte in geostrategischen Fragen sein noch geheimdienstliche Erkenntnisse besitzen, um die gegenwärtige Lage zumindest in ihren Grundzügen zu verstehen. Israel wird bedroht von einem Staat, der möglicherweise den Bau einer Atombombe anstrebt.10 Das eröffnet ein Feld von Möglichkeiten, die in toto erfaßt haben sollte, wer den Anspruch hat, über die Lage zu urteilen. Die Vernichtungsdrohungen gegen Israel sind Tatsache, Spielraum für Interpretationen läßt allenfalls die Frage, wie ernst sie gemeint sind.

Möglich scheinen mir sechs Szenarien, und das sind schon mal fünf mehr, als Günter Grass eingefallen sind: (1) Der Iran will die Bombe, um sie zur Vernichtung Israels einzusetzen. (2) Der Iran will Israel mit anderen Mitteln vernichten, aber unter dem Schutz der Bombe. (3) Der Iran will die Bombe, beabsichtigt aber nicht, Israel zu vernichten. (4) Der Iran will die Bombe nicht, beabsichtigt aber dennoch, Israel zu vernichten. (5) Der Iran will weder die Bombe, noch will er Israel vernichten. (6) Der Iran beabsichtigt, mittels kontinuierlicher Streuung von Drohungen und zweideutigem Verhalten in seinem Atomprogramm, Israel zu einem Militärschlag zu provozieren.11 Das sind die Möglichkeiten, die sich, soweit ich sehe, einem nüchtern urteilenden Außenstehenden ergeben können. Wenn Grass nun von der einen Möglichkeit, der fünften, so ganz und gar überzeugt ist, hat er entweder Zugang zum iranischen oder israelischen Geheimdienst und dadurch ein Wissen, das ihm gestattet, die übrigen Möglichkeiten auszuschließen, oder er hat getan, was er meistens tut: erst geschrieben, dann gedacht. Einfacher, aber nicht weniger aporetisch verhält es sich mit den Handlungsmöglichkeiten Israels: Das Land hat die Möglichkeit, es drauf ankommen zu lassen, sprich: die Vernichtungsdrohungen des Iran nicht ernst zu nehmen, was natürlich absurd wäre. Also muß es handeln, aber weder ein Embargo noch Diplomatie noch ein Militärschlag können den Iran letztlich daran hindern, seine Absichten umzusetzen, wenn er denn entschlossen dazu ist. Zudem bewirkte jede Maßnahme gegen den Iran auf dem Schlachtfeld des Geistes, das in heutiger Zeit mindestens gleichberechtigt neben dem politisch-juristischen und dem militärischen steht, das Gegenteil dessen, was sie bewirken soll. Bereits jetzt ist die Stimmung so hysterisch, als wäre der Militärschlag nicht nur angedroht, sondern schon ausgeführt worden. Mit einem Wort: Israel hat die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die allesamt nichts taugen.

Grass, sagte ich, rebelliert gegen die Kompliziertheit der Weltlage. Der Angst vor den militärischen und ökologischen Folgen eines Bombenangriffs stünde die Angst vor der Irrationalität der iranischen Regierung entgegen, von der nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sie das, was sie ankündigt, nicht auch umsetzen will. Aber Ängste sind wie die Töpfer bei Hesiod: Sie dulden einander nicht gern. So steht denn der hundsgemeine Menschenverstand vor der Wahl, entweder die Atombombe des Iran oder die Bombardierung durch Israel zu fürchten, und so entscheiden sich israelsolidarische Bellizisten und antiisraelische Friedensfreunde für das je andere. Die einen fürchten die Bombe und drücken die verheerenden Folgen der Bomben aus dem Bewußtsein, die anderen fürchten die Bomben und verdrängen die Gefahr der Bombe. Sie allesamt sind Kinder des Dr. Seltsam, die lernten, entweder die Bombe oder die Bomben zu lieben. Es ist nicht einfach ein Fehler, wenn in Grassens Gedicht die Gefahr, die vom Iran ausgeht, heruntergespielt wird. Dieses Herunterspielen ermöglicht Grass erst, zum Konflikt eine klare Stellung zu beziehen. Ein ratloser Grass ist im Plan des Grasschen Universums nicht vorgesehen. Gerade, daß die Lage weder theoretisch mit abschließender Sicherheit beurteilt werden kann (weil die Informationen fehlen, weil die Absichten beider Staaten im Dunkel bleiben) noch, was hieraus folgt, eine praktikable Lösung in Sicht ist, führt dazu, daß man sich die Lage so lange zurechtsieht, bis sie den störenden Charakter der Unlösbarkeit verloren hat. Grassens Gedicht ist der Ausdruck einer Flucht in den Begriff. Der unter Ausschluß der Wirklichkeit gewonnene Begriff hat zwar seine Eigenschaft verloren, die Welt erfassen zu können, aber immerhin bietet er in einer kalten und weiten Welt, wenn schon keine Wärme, so doch wenigstens Halt. Wo Begriffe nicht mehr der Erkenntnis dienen, sondern dem Seelenfrieden, beginnt Ideologie und hört das Nachdenken auf, und die simpelste Form der Simplifikation ist die einseitige Schuldzuweisung.12 Ich habe den Vorgang schon einmal beschrieben: »Das schlichte Licht vermag nicht, einen Komplex von Widersprüchen als gesamten zu beleuchten und über seine sinnvolle Weiterentwicklung nachzudenken; so richtet es sich darauf, innerhalb des Komplexes Punkte zu finden, an die es sich halten kann. Die Haltung läßt sich auch einfacher ausdrücken: Ein guter Linker« – aber die Grassenheimer finden sich in allen politischen Lagern – »versucht stets die Frage zu beantworten, wer der Gute ist.«13 Noch einfacher hat Volker Pispers es ausgedrückt: »Wenn man weiß, wer der Böse ist, hat der Tag Struktur.«

Das Halten der Mitte ist kein schwieriger Vorgang. Was man dazu können muß, ist, ein Problem von allen Seiten zu betrachten, mithin, das gehört zusammen, die eigene Position einer Reflexion zu unterziehen. Es ist der Mangel an Reflexion, also der Mangel an Überprüfung des eigenen Denkens, der das Kennzeichen fast aller Spielarten des Irrationalismus ist. Es gibt nichts Traurigeres als Leute, die von ihren Haltungen regiert werden. Haltungen nimmt man ein, das ist ein bewußter Akt. Aber der Mangel an Bewußtheit führt dazu, daß viele in ihren Haltungen gefangen sind, statt diese souverän zu handhaben. Und das führt dann ganz folgerichtig zu jenem berüchtigten Doublethink, das der (auch nicht immer nüchterne) George Orwell brillant beschrieben hat. Auf das hier behandelte Thema bezogen scheinen mir die meisten Kommentatoren daran zu scheitern, das Entweder-Oder zu überwinden. Wenn sie sich gegen den Antisemitismus formieren, verlieren sie zumeist die Fähigkeit, Distanz gegenüber der israelischen Politik zu halten. Wenn sie Distanz gegenüber der israelischen Politik gewinnen, werden sie blind für den Antisemitismus. Man kann sehr wohl gegen die Bombardierung des Iran sein14, aber es ist eines, eine bestimmte Politik abzulehnen, weil man sie für falsch hält; ein anderes ist es, die Handlungen eines Landes, das ungeachtet seiner zahlreichen Anmaßungen und Fehler von seinem Anbeginn einen Existenzkampf gegen seine Umgebung führt, a priori als grundlose Aggression hinzustellen.

Das Bedürfnis nach der einfachen Lösung erklärt jedoch nur, warum es möglich ist, daß ein Günter Grass derart an der Realität vorbeigehende Behauptungen aufstellen und dafür einen solch breiten Beifall erhalten kann. Es erklärt nicht, daß es immer dieselbe Adresse ist, gegen die sich das einseitige Bestreben richtet. Die Frage, ob Grass ein Antisemit ist, ist völlig unerheblich, wie überhaupt die Verwendung dieser Vokabel aufgrund der Aufregung, die sie verursacht, in den meisten Fällen kaum hilfreich ist. Ich halte für möglich, daß Grass keine Abscheu gegen Juden empfindet und sich in ihm beim Gedanken daran, daß Israel zu existieren fortfahren will, durchaus nicht alles zusammenzieht. Das unterschiede ihn vom größeren Teil seiner neu gewonnenen Verehrer. Aber man kennt Grassens schwieriges Verhältnis zur eigenen Biographie, man kennt das Motiv der Schuldabwehr, das in seinem Spätwerk zentrale Bedeutung erlangt hat. Da ist ein Unwille, das Gefühl des Belästigtseins von der deutschen Schuld an Krieg und Völkermord. Dieses Empfinden ist nicht allein Eigentum der ehemaligen Flakhelfer und Kinder aus NSDAP-treuen Haushalten15, mögen sie nun Grass, Walser oder Gauck heißen. Es überträgt sich auf die Kinder und Enkel, die, wenn auch nicht mehr so intensiv, sich gleichfalls darin unwohl fühlen, häufig mit der deutschen Schuld konfrontiert zu sein. Dennoch denke ich, daß die Schuldabwehr nur eine besondere Spielart einer allgemeineren Disposition ist, denn sie erklärt weder, warum die wahnhafte Fixierung auf Israel kein spezifisch deutsches, sondern zum mindesten ein europäisches Problem ist, noch erklärt sie, warum der Wahn mit den Jahrzehnten und dem Heranwachsen jüngerer Generationen eher stärker als schwächer geworden ist. Der anwachsende Wahn wiederum erklärt sich nicht aus den Handlungen der israelischen Regierung, die er dankbar zum Anlaß nimmt, sich zu entfalten. Handelte es sich nicht um Wahn, sondern um eine vielleicht einfältige, aber doch natürliche Reaktion auf die Vorgänge in Nahost, wäre höchstens die Dämonisierung Israels, nicht aber die analoge Entschuldigung der arabischen Seite erklärbar. Pazifisten sind selten kluge Leute, aber wenigstens behandeln sie in ihrer Einfalt alle Parteien eines Krieges gleich. Wo hingegen durchweg zwei Maßstäbe angelegt werden – für die eine Seite ein sehr hoher, für die andere Seite ein sehr niedriger –, dort waltet Methode.

Jene allgemeine Disposition, von der ich rede, ist der Opferneid. Ein Wort, das so merkwürdig klingt, wie die Haltung ist, die es bezeichnet. Es meint jenes Gefühl der Zurückgesetztheit gegenüber Gruppen, denen aufgrund ihrer besonders tragischen Geschichte besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Das Gefühl kann als positive Form der Schuldabwehr auftreten, aber ebenso gut auch autonom. Man braucht kein Nachfahre von Tätern zu sein, um sich gegen die Nachfahren der Opfer zurückgesetzt zu fühlen. Aus diesem Grund vor allem ist der heutige Unwille gegen Israel und die als »Israellobby« gebrannten Juden außerhalb Israels kein spezifisch deutsches Problem. Die Haltung zieht sich mindestens durch ganz Europa, und sie unterscheidet sich von früheren Formen der Abneigung. Man hat nichts gegen Juden als solche und, soweit es die bürgerliche Mitte betrifft, auch nichts gegen die Existenz Israels. Aber man nimmt es dem Staat und den jüdischen Gemeinden in der Welt übel, daß sie aus ihrer besonderen Geschichte politische Vorteile ziehen. Es spielt dabei keine Rolle, wie viele Juden oder Israelis das tatsächlich tun; es reicht hin, wenn es einige tun. Es ist das Verfahren eines jeden kollektivbezogenen Ressentiments – ob es sich gegen Araber, Juden, Intellektuelle oder Hartz-IV-Empfänger richtet –, vom Einzelnen auf die ganze Gruppe hochzurechnen. Die Gruppe hat somit keine Chance, dem vernichtenden Urteil zu entfliehen, da in jedem Volk, jeder Klasse, mithin in jeder politischen Richtung Klugheit und Dummheit, Gemeinsinn und Eigennutz, Stärke und Schwäche zu finden ist und somit jede Gruppe immer Mitglieder haben wird, die dem Vorurteil über die Gruppe gerecht werden. Der Opferneid beruht eben darauf: auf einem Vorurteil, das, wie jedes Vorurteil, immer irgendwelche Einzelbelege heranziehen kann, um sich dann gegen das Ganze zu richten. Und wie jedes Vorurteil sublimiert es sich vom niederen Beweggrund zur idealischen Überzeugung: Es drückt zugleich den Wunsch aus, selbst in einer solch vorteilhaften Lage zu sein, als auch die Überzeugung, mit dieser Lage bedachter umgehen zu können. Es führt ein gerader Weg vom Unwillen gegen den Nimbus der Schoa-Überlebenden zu jenem heute mit Blick auf den Nahen Osten so oft geäußerten Satz, gerade die Juden sollten es aufgrund ihrer Geschichte doch besser wissen. Anstatt zu fragen, ob es nicht zwangsläufig ist, daß ein Volk, das auf eine beispiellos grausame Geschichte der Verfolgtheit zurückblicken kann, nicht nur mehr Wachsamkeit und Mißtrauen, sondern auch eine gewisse Anzahl von Individuen hervorbringt, die die Geschichte geschäftsmäßig nutzen, wird den Juden insgesamt (d.h. soweit sie sich nicht vom Zionismus lossagen) vorgeworfen, daß sie durch ihr wehrhaftes und geschäftstüchtiges Verhalten den Antisemitismus in der Welt befördern. Wie selbstverständlich wird erwartet, daß sie den moralischen Bonus, der ihnen durch ihre Tragödie an den Leib gebunden wurde, nicht nutzen. Und wie selbstverständlich wird der Umstand, daß einige von ihnen es dennoch tun, dem ganzen Volk zur Last gelegt. Der Ärger über den moralischen Vorteil, der zu politischen Zwecken genutzt wird, trifft sich mit der Enttäuschung über ein Volk, das des Verbrechens schuldig ist, durch Auschwitz nicht makellos geworden zu sein.

Wenn Sie das für irrsinnig halten, liegt das daran, daß es irrsinnig ist. Zu beachten bleibt dabei allerdings, daß der Opferneid eine irrationale Figur, also schwerer zu fassen ist als solche Denkformen, die sich klar zu erkennen geben und von Reflexion begleitet sind. So, läßt Fassbinder seinen Judenhasser Hans von Gluck sagen, denkt es in mir. Wenn diejenigen zwar, die unter dieser Disposition leiden, in der Regel nicht zu denen gehören, die ihr Denken zu überprüfen pflegen, so rät ihnen wenigstens ein politischer Instinkt, mit dem, was sie eigentlich umtreibt, hinterm Berg zu halten.16 Man kommt hier unweigerlich an einen Punkt, an dem man keine wirklichen Nachweise führen kann. Aber daß mein Nachbar mich nicht in seinen unaufgeräumten Keller läßt, ändert nichts daran, daß es bis in den 3. Stock nach Schimmel riecht. Irrsinn hat die Angewohnheit, sich zu verraten; durch den Ton, der angeschlagen wird, durch eine unbedachte Analogie, durch aberwitzige Urteile, eine unwirsche Reaktion, in der er herausplatzt usf. Wie etwa der Kommunalpolitiker Kevin Barth, der sich darüber beklagte, als Antisemit zu gelten, weil er die »die israelische kackpolitik und den juden an sich unsympathisch« finde.17 Wie auch der Politjournalist Klaus Steiniger, der im Stile pennälerhafter Schlaubergerei den Begriff des Antisemitismus umdeutete, bis er der jüdischen Seite selbst Antismemitismus vorwerfen konnte.18 Oder der Popideologe Ken Jebsen, der einen geplanten Völkermord gegen die Palästinenser herbeiphantasierte und über die Israelis schrieb: »Das Volk ohne Raum, das auserwählte Volk, agiert mittels Mossad, der sich, welche Ironie auch, mit SS schreibt, mit den Methoden der Nazis.«19 Oder jener traurig-berühmte Publizist, der juristisch gegen den Vorwurf des Antisemitismus vorging und seine saubere Gesinnung allen Ernstes mit Äußerungen wie dieser zu belegen versuchte: »Die Verbrechen an den Juden haben ein Recht auf einen angemessenen Platz in der Geschichte. Sie haben ein Recht darauf, dass man an sie denkt und sich ihrer als Warnung erinnert – auch als Warnung vor Verbrechen der Juden. Denn sonst wäre das Opfer Millionen jüdischer Menschen völlig umsonst gewesen.«20 Oder schließlich ein bekannter Philologe, der, in Rage über einen meiner Texte, an mich schrieb: »Die Juden werden erst Ruhe finden und der Welt bringen können, wenn sie von ihrer Sonderrolle runterkommen und sich für ein ordinäres Volk halten wie andere Völker auch.«

Sie, ich, jeder – ausgenommen Grass und seine Anhänger – weiß: Es geht nicht um Grass, sondern um die Stimmung, die er ausdrückt und bedient. In meiner oben erwähnten Erledigung hatte ich geschrieben: »Grass gehört zu der Sorte Schriftsteller, die Stimmungen nicht erzeugt, sondern aufnimmt und verbreitet.« Da hatte ich schon vermutet, daß er sich irgendwann lautstark gegen Israel äußern wird, und als er es dann getan hat, war meine nächste Vermutung, daß wir eine Sarrazin-Welle erleben werden. Die haben wir nun. Die Frage, ob ein schlechter Lyriker ein Antisemit, ein Idiot oder beides ist, geht, ich sagte es schon, an der Sache vorbei. Grass ist etwas viel schlimmeres: eine vermeintliche Person von Rang, die einer Bewegung von Narren den Stichwortgeber macht und die ohnehin schon im Halbgaren siedelnden Neurosen dieser Bewegung, die mit dem Herzen weiß, wo sie mit dem Kopf denken sollte, mit halbgarer Nahrung versorgt. Die letzten zwei Jahre haben eindrucksvoll belegt, daß breite Schichten der Bevölkerung bereit sind, von jeglichen Tatsachen und Argumenten abzusehen, sobald es gegen Ausländer und Unterschichten (Sarrazin), Intellektuelle (Guttenberg)21 oder Juden (Grass) geht. Da steckt ein tiefer Unwille gegen das Andere im Mob, und das Web 2.0 ist die Plattform, in der sich diese irrationale Stimmung äußern und ihre Dynamik entfalten kann. Es kann daher mit Fug der widerlichste Öffentlichkeitsraum der Weltgeschichte genannt werden. Weder die Agora noch der Buchdruck noch die Zeitung, ja nicht einmal Hör- und Fernsehfunk haben den Un- und Wahnsinn in so hoher Dichte und in solchem Ausmaß befördert. Und nichts hat je mit solch synergetischer Dynamik dafür sorgt, daß Wahn den Wahn noch steigert. Kein Medium ist als solches schlecht, aber es gibt durchaus Medien, die sich mehr als andere zum Verbreiten des Unsinns eignen. Das nämlich ist das Web 2.0: ein viel zu groß geratener Leserbrief. Hier ist der Ort, wo Wahnsinn und Narrheit einander Gute Nacht sagen und der vormals bloß in seinen TV-Kasten hineinschimpfende Durchschnittsbürger endlich seine Macht fühlt, weil er merkt, daß er nicht allein ist. Hier ziehen die digitalen Rackets einmal im Quartal los, um ihren unstillen Helden Beihilfe bei deren Unverschämtheiten zu leisten. Der Schwachsinn wird zur materiellen Gewalt, sobald er die Massen ergreift. Das Web 2.0 hat aus der schweigenden Mehrheit eine schreibende gemacht.

Die strukturelle Ähnlichkeit der Debatten um Grass und Sarrazin liegt aber auch in der Art, in der die Protagonisten die von ihnen geförderte Stimmung aufnehmen. Beide, Grass und Sarrazin, sahen sich sehr schnell einem Chor von Fachleuten und Meinungsmachern gegenüber, die die vorgetragenen Thesen nach allen Regeln der Kunst widerlegten. Das geschah parallel und kaum abhängig vom Chor der Empörten. Sarrazin und Grass hätten, wäre ihnen eine Art Verhältnis zur Wirklichkeit, mithin zu sich selbst, eigen, einräumen müssen, daß sie mit Halb- und Unwahrheiten gearbeitet hatten. Beide taten das nicht und erklärten sogar, daß niemand sich überhaupt inhaltlich mit ihnen auseinander gesetzt habe.22 Beide bauten darauf, daß es ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Debatte auf Tatsachen und Argumente überhaupt nicht mehr ankam. Während Sie also einerseits deklarierten, inhaltlich unangefochten zu sein, traten sie andererseits die Flucht aus dem Inhalt an. Beide brachten Vokabeln wie Tabu, Gleichschaltung, Zensur ins Spiel. Es ist das Ende einer jeden Diskussion, wenn sie zu der Frage übergeht, ob gesagt und diskutiert werden darf, was in ihr gesagt und diskutiert wird.

Günter Grass war zu dieser Flucht aus dem Inhalt bereits angetreten, bevor die Diskussion überhaupt begonnen hatte. In seinem Gedicht spricht er von »belastende(r) Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt ›Antisemitismus‹ ist geläufig.« Das ist, als ob Galilei in seinem »Dialog über die beiden Weltsysteme« geschrieben hätte, man solle nicht vergessen, ihn auf den Scheiterhaufen zu führen. Durch besagte Passage hat Grass die Auseinandersetzung mit dem Gedicht a priori in bestimmte Bahnen gelenkt und denen, die seine Position zu verteidigen entschlossen sind, ein Universalargument an die Hand gegeben, das sie davon befreit, sich inhaltlich zu behaupten.23 Als der Punkt erreicht war, an dem deutlich wurde, wie wenig haltbar die Position ist, hieß es bei Sarrazin: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Der adäquate Ausdruck in der Grass-Debatte lautet jetzt: Man kann Israel hierzulande nicht kritisieren. Dieser Gedanke wurde schnell zur Parole; kaum noch ein Kommentar, der ohne ihn auskommt.

Es verhält sich damit wie mit anderen modernen Mythen, etwa dem von der Apartheid in Israel. Das Verdikt erhält seine Wirklichkeit dadurch, daß es zur festen Formel wird. Der Umstand, daß es wenig bis gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, wird auf die Art kompensiert. Kritik z.B. an Israels militärischen Vergeltungsaktionen, seiner Siedlungspolitik oder der Besatzung überhaupt findet, ausgenommen die Erzeugnisse des Springer-Verlags, in jeder überregionalen deutschen Zeitung statt. Regelmäßig, ausgiebig, ohne Rücksicht. Um das wahrzunehmen, muß man nichts weiter tun als es – nunja: wahrnehmen. Die Irren des Web 2.0 aber ficht das nicht an; sie beten weiter ihre Überzeugung herunter, daß Kritik an Israel nicht möglich sei, ganz so, als sei ihr eigenes Treiben nicht selbst die leibhaftige Widerlegung ihrer These. Bei diesem Grad an Unbewußtheit wundert es denn auch nicht, daß kaum einer der Verteidiger des Günter Grass zur Kenntnis nahm, daß Grass nicht für seine politische Stoßrichtung – die Warnung vor einem Bombenangriff gegen den Iran – kritisiert wurde, sondern weil seine Aussagen an den wirklichen Verhältnissen vollends vorbeigegangen, frappant einseitig und mit Ressentiments beladen sind. Wenn Grass sich nun als Opfer einer Art Inquisition sieht, verlangt er im Grunde einen Gesellschaftszustand, in dem das Sagen der Unwahrheit unwidersprochen bleiben muß (zumindest, soweit es Günter Grass ist, der die Unwahrheit ausspricht). Wenn ich heute die Behauptung aufstellte, daß die Erde eine Scheibe sei, und daraus die Forderung ableitete, daß die Schiffahrt über den Pazifik eingestellt werden müsse, wäre mir nicht nur die Feindschaft des Schiffereiwesens sicher, sondern auch der Spott der Astronomen, und ich könnte mich nicht, nur weil die Physiker über mich lachen, als Verfolgten der Schiffahrt-Lobby hinstellen, ohne noch mehr Gelächter zu ernten. Wenn Grass will, daß man ihn nicht angreift, sollte er aufhören, solchen Unsinn zu schreiben. Aber ich fürchte, 60 Jahre Antikommunismus, Judenknacks und literarische Schaumschlägerei haben im Seelenhaushalt ihre Spuren hinterlassen.

Der Gedanke: Kritik an Israel ist in Deutschland nicht möglich hat einen siamesischen Zwilling: Kritik an Israel ist nicht antisemitisch. In welchem Kopf immer der eine der beiden wohnt, dort findet sich auch der andere, weswegen man letzteren in den Diskussionen des Web 2.0 etwa genauso häufig antrifft wie ersteren. Es ist anzunehmen, daß dieser Gedanke injektiv gemeint ist. Anders ergibt er schon vom Sprechort her keinen Sinn. Wer ihn äußert, meint nicht, daß es möglich ist, eine Kritik an Israel zu üben, die nicht antisemitisch ist – eine Aussage, die, soweit ich sehe, noch nie jemand bestritten hat –, sondern er meint, daß sobald Kritik an Israel geübt wird, Antisemitismus als Motiv ausgeschlossen werden muß. Abneigung gegen Israel und Abneigung gegen Juden sind in dieser Vorstellung zwei Bewußtseinsformen, die sich ausschließen.24 Die beiden Zwillinge dienen in Situationen, wo auf sachlich falschen Prämissen beruhende, einseitige und/oder fanatische Kritik an Israel geübt wird, als Deflektor: Durch ihre Einführung soll die Diskussion vom Wie, um das es geht, auf das Ob verlagert werden. Wir kennen, wie gesagt, das Muster aus der Sarrazin-Debatte: Wenn eine Position inhaltlich nicht haltbar ist, lenken die Verfechter dieser Position die Diskussion auf das berüchtigte Das wird man doch wohl noch sagen dürfen um. Es wird nicht nur eine Zensur imaginiert, die überhaupt nicht stattfindet – weder Sarrazin und seine Fans noch Grass und die seinen wurden unterdrückt, zensiert oder ähnliches25 –, es wird damit auch eine fatale Gleichsetzung vorgenommen: Die Frage, ob die Kritik berechtigt ist, wird bewußt aus der Gleichung gestrichen. Grassens Anhänger setzen: Israelkritik = Israelkritik. Der Inhalt wird zur Nebensache. Auch das platte Denken kann – wir kennen das Phänomen aus Abdera und Leontinoi – gewieft sein, solange es nicht darum geht, Erkenntnisse zu gewinnen, sondern bloß darum, seine Auffassungen durchzudrücken. Die praktischen Konsequenzen jenes Zwillings-Gedankens liegen somit auf der Hand: Was Grass erfahren hat, war keine Zensur, sondern einfach Gegenwind. Dieser Gegenwind – Menschen, die ihrerseits Kritik üben – ist genau das, was die Kritiker jenes vermeintlichen Verbots meinen, wenn sie davon reden, daß man Israel nicht kritisieren dürfe. Ich sage es deutlicher: Diese Leute wollen Kritik üben an einem Gegenstand und sind empört, wenn nun andere Menschen Kritik an ihrer Kritik üben. Sie gerieren sich als Verfechter der freien Meinungsäußerung, aber eben zu genau dem Zweck, jede Meinungsäußerung, die gegen sie gerichtet ist, zu unterdrücken.

Ich persönlich halte übrigens gar nichts von freier Meinungsäußerung. Von mir aus dürfen die alle gern auch mal ruhig sein. Zumal das den Vorteil hätte, daß ich es dann auch sein darf. Es ist die Freiheit zu schweigen, die einem genommen wird, wenn die Welt verrückt spielt. Das, Herrschaften, gilt weißgott nicht allein für die Grassenheimer, die ja nur eine Spielart unter vielen sind. Aber zur Stunde schlechterdings die penetranteste. Was ich meinem Nachbarn übelnehme, ist doch nicht der Schimmel in seinem Keller, sondern daß der Gestank mich zwingt, mich damit zu beschäftigen.

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  1. veröffentlicht im Zentralorgan der antiisraelischen Fraktion der deutschen Bourgeoisie, gemeinhin bekannt unter dem Namen: Süddeutsche Zeitung v. 4. April 2012 – Was es ästhetisch zu dem Gedicht zu sagen gibt, hat Marcel Reich-Ranicki getan: nämlich, daß es keins ist. Wo ein Reim fehlt, sollte zumindest ein Metrum wirksam werden, und wo kein Metrum ist, sollte wenigstens die Wortwahl poetisch sein. Peter Hacks schrieb bereits vor 40 Jahren, Grassens Vers habe so viel Poesie an sich wie das Godesberger Programm, und das einzige, was mich wirklich wundert, ist, warum in Grassens ge- und erbrochenen Zeilen nicht auch noch das Wort »Atomwaffensperrvertrag« vorkommt. []
  2. Die Financial Times Deutschland führt in einer Umfrage 57% Zustimmung für Grass, und 28% halten seine Aussagen immerhin für diskutabel (gesichtet am 19. April 2012). Das deckt sich mit den Umfrageergebnissen der jüngsten Studie zum Antisemitismus in Deutschland, nach der sich eine Mehrheit der Deutschen von der Geschichte ihres Landes belästigt fühlt sowie urteilt, daß Israel einen Vernichtungskrieg gegen die arabischen Bewohner Palästinas führe und die größte Bedrohung für den Weltfrieden sei – Auffassungen, die man sämtlich in Grassens Gedicht wiederfindet. Nach meinem persönlichen Eindruck liegt das Verhältnis von Zustimmung und Kritik an Grass im Web 2.0 bei 3 oder 4 zu 1. []
  3. in: Mittelmaß mit Folgen. Reicher an Material als meine untersuchende Erledigung ist Klaus Bittermanns erledigende Untersuchung: Beim Lutschen des Brühwürfels, in: Jungle World 37/2007. []
  4. Über den aktuellen Fall ist in den letzten Tagen viel Zutreffendes geschrieben worden, freilich auch viel Unsinn. In Inhalt und Haltung herausragend scheinen mir die Stellungnahmen von Tom Segev; vgl. die Interviews im Deutschlandradio am 4. April 2012, bei 3sat (Kulturzeit) am 5. April 2012 und bei Spiegel Online am 8. April 2012. – Nachtrag vom 2. Mai 2012: Gleiches gilt von Kai Köhler: Die Moral, das Ich, die Politik und das Geistlose, in: literaturkritik.de 5/2012. []
  5. Frank Schirrmacher: Was Grass uns sagen will. Eine Erläuterung, in: FAZ v. 4. April 2012. []
  6. Die umwegige und undeutliche Sprechweise des Autors spielt mit den Bedürfnissen des Publikums, das oft schon zufrieden ist, wenn eine Äußerung in die richtige Richtung geht und sich zumeist nicht darum kümmert, wie stimmig das Gesagte ist. Des Helden Gefolge ist die Vereinigungsmenge derjenigen Personen, die die Wirklichkeit sehen, wie sie sie sehen wollen, und derjenigen, die Grassens Gedicht sehen, wie sie es sehen wollen. Wahrscheinlich ist die Schnittmenge beider Teilmengen dennoch hoch, will sagen, es gibt die, die das Gedicht verteidigen, weil sie es nicht verstehen, die, die das Gedicht verteidigen, weil sie es verstehen, und die, die das Gedicht zwar nicht verstehen, es aber auch dann verteidigen würden, wenn sie es verstünden. []
  7. Google zeigt zu dieser Stunde 126.000 Treffer für die Suchanfrage »Grass hat recht« an (gesichtet am 19. April 2012). Das ist zwar, wie bei google üblich, keine Netto-Recherche, aber es zeigt doch an, wie weit diese ad hoc gebildete Formel sich in so kurzer Zeit verbreitet hat. []
  8. Grass spricht davon, daß Israel mittels eines »Erstschlags« das »iranische Volk auslöschen« wolle und daß zu diesem Zweck »allesvernichtende Sprengköpfe« eingesetzt werden würden. Viel deutlicher konnte er nicht werden. Kein besserer Zeuge als seine freie Phantasie scheint ihm verraten zu haben, daß der Plan besteht, Atomwaffen auf den Iran zu werfen, denn es gibt es keine Anzeichen, daß Israel dergleichen vorhat: weder faktisch noch, was Absichtserklärungen betrifft. Es haben nun verschiedene Verteidiger Grassens die Aussage mit dem Hinweis zu retten versucht, das Bombardement eines Atomreaktors sei doch gleichbedeutend mit dem Abwurf einer Atombombe. Abgesehen davon, daß eine Atombombe bei weitem nicht ausreichte, das iranische Volk zu vernichten – aber wen interessieren schon Tatsachen, wenn es darum geht, den Weltfrieden zu retten? –, wäre auch ein konventionelles Bombardement von Atomanlagen nicht annähernd gleichzusetzen mit dem Einsatz einer Atombombe, geschweige denn einem atomaren Flächenbombardement. Selbst die Süddeutsche Zeitung (v. 10. April 2012) hat auf diese Tatsachen hingewiesen und sich so von Grassens These, die auch in seinem Ensemble der Absurditäten noch herausragt, distanziert. – Natürlich wäre das Bombardement eine Atomreaktors, wenn es denn in die Tat umgesetzt wird, ein Kriegsverbrechen ersten Ranges. Aber gerade weil sich das so verhält, hätte eine Bewegung, der es vorrangig darum ginge, einen solchen Angriff zu verhindern, gar nicht nötig, ihn zu einem atomaren Inferno und am Ende gar zu einem Genozid hochzumogeln. Es geht aber nicht darum, ein konkretes politisches Ziel zu errreichen, sondern darum, Hysterie an die Stelle von Gedanken zu setzen, und welches Thema wäre hierzu besser geeignet als der Kreuzpunkt derjenigen beiden Themen, die das bürgerliche Gemüt am meisten aufregen: Israel und Kernspaltung. []
  9. Gemäß ihrer gefühlten Direktive »don’t confuse me with facts« hält die antiisraelische Querfront – oder sollte ich sagen: Querfronde? – bis heute die Legende aufrecht, daß der Iran keine Vernichtungsdrohungen gegen Israel ausstoße und das auch nie getan habe. Als Anathema dient ihr jener berüchtigte Übersetzungsfehler einer im Oktober 2005 gehaltenen Rede Mahmud Ahmadinedschads (vgl. Joshua Teitelbaum: Die iranische Führung in ihren eigenen Worten über die Vernichtung Israels, in: jer-zentrum.org 3. Juli 2008). – Abgesehen davon, daß eine unkorrekte Übersetzung im Angesicht unzähliger weiterer Fälle von Vernichtungsdrohungen bedeutungslos ist, uneingedenk ferner, daß die angeblich so abwegige Phrase »must be wiped of the map« von der IRNA selbst in ganz ähnlicher Form (»wipe Israel away«, IRNA-Meldung v. 26. Oktober 2005) in Umlauf gebracht wurde und, als Zitat einer anderen Rede, noch heute in ebenfalls ganz ähnlicher Form (»will be wiped off the map«, IRNA-Meldung v. 3. Juni 2008) auf der offiziellen Website des iranischen Präsidenten zu finden ist, offenbart sich das ganze Ausmaß des Wunschdenkens, wenn man falsche und korrekte Übersetzung miteinander vergleicht. Israel, so die falsche Übersetzung, solle von der Landkarte gefegt werden. Israel, so die korrekte Übersetzung, solle aus den Seiten der Geschichte getilgt werden. Das, belehren uns die Verteidiger des iranischen Präsidenten, sei ein wesentlicher Unterschied. Man fühlt sich ein wenig, als habe man es mit beschränkten Adepten Milman Parrys zu tun, die einem weismachen wollen, daß die alalkomenische Athene und die helläugige Athene zwei verschiedene Personen seien. Natürlich ist, was Parry die »essential idea« nennt, in beiden Übersetzungen dieselbe. Wenn mir einer mitteilt: Bartels, ich werde dafür sorgen, daß Sie aus den Seiten der Geschichte verschwinden, werde ich mir genauso schnell eine Waffe besorgen, als wenn er mir gesagt hätte: Ich werde Sie von der Landkarte fegen, denn in beiden Fällen ist der Sinn: Ich werde Sie töten. Vom selben Grad der Albernheit ist die Differenzierung zwischen »Israel« und »Regime, das Jerusalem besetzt hält«. Nicht zuletzt, weil der antisemitische Eifer der iranischen Rechtsgelehrten empfiehlt, das Wort Israel zu meiden, sind Begriffe wie »zionistisches Regime«, »kleiner Satan«, »Krebsgeschwür« und was an dergleichen Freundlichkeiten mehr ist, im Sprachgebrauch der iranischen Regierung Synonyme für Israel. Aber auch ohnedies heißt es bei Ahmadinedschad und anderen immer noch häufig genug einfach: Israel. Und selbst wenn man nur über diese eine Rede sprechen will, stellt sich doch die Frage, was das »Regime, das Jerusalem besetzt hält« anderes sein soll als eben Israel. Nicht die Besatzung, sondern das Regime, das besetzt, soll Geschichte werden. – Im übrigen sei darauf verwiesen, daß der wirklich mächtige Mann des Iran, der oberste Rechtsgelehrte Ali Khamenei, Israel regelmäßig als Krebsgeschwür bezeichnet, das ausgebrannt werden müsse. Die jüngste Episode in der kaum noch überschaubaren (vgl. Teitelbaum a.a.O.) Reihe iranischer Vernichtungsdrohungen ist das vor wenigen Wochen veröffentlichte Memorandum des iranischen Politikers Alireza Forqani, in dem über die religiösen Gründe und die technischen Möglichkeiten der Vernichtung Israels gehandelt wird. []
  10. Die Ende Februar dieses Jahres bekannt gewordenen Einschätzungen der CIA und der IAEO widersprechen sich in der Frage, ob der Iran aktual eine Atombombe entwickeln oder lediglich die technischen Grundlagen schaffen will, die ihm ermöglichen, zu einem späteren Zeitpunkt die Bombe zu bauen. Die Anzeichen sind widersprüchlich, die Einschätzungen folglich auch. Mithin sind CIA und IAEO wie jede andere öffentliche Organisation geleitet von Interessen und also geübt in der Verbreitung von Fehlinformation. Es ist ebenso möglich, daß die CIA Israel unter Druck setzen will, wie, daß interessierte Kreise mittels der IAEO den Iran unter Druck setzen wollen. – Ich habe etwa so viel Lust zu solchen Ausführungen wie Günter Grass zu einem guten Deutsch; ich erwähne es nur deswegen, weil nicht minder interessierte Figuren hierzulande den CIA-Bericht dankbar als Beleg dessen genommen haben, was sie schon immer zu wissen glaubten: daß Israel seitens Iran keine Gefahr drohe. Dabei sind es dieselben Personen, deren Mißtrauen gegen Informationen, die von der CIA gestreut werden, bestens funktioniert, solange es nicht gerade gegen Israel geht. Kein Zweifel, wie sie den CIA-Bericht bewertet haben würden, wenn er den gegenteiligen Inhalt hätte: als Desinformation und Teil der psychologischen Kriegsführung nämlich. Aber auch dann, wenn man ernstlich glaubt, daß Geheimdienste nie, respektive: nur dann lügen, wenn es einem paßt, sollte man doch, da man sich schon auf einen Bericht beruft, genau auf den Inhalt des Berichts achten. Prominentestes Beispiel dieser Verwirrung sind die Gebrüder Augstein. Während Franziska im ZDF ihr Quantum Populismus verstreute, schrieb Jakob in seiner Spiegel-Online-Kolumne ohne weitere Zusätze: »Die Amerikaner gehen davon aus, Teheran habe sein Atomwaffenprogramm im Jahr 2003 eingestellt«. In der New York Times, die als erste über den Vorgang berichtete, hieß es aber: »There is no dispute among American, Israeli and European intelligence officials that Iran has been enriching nuclear fuel and developing some necessary infrastructure to become a nuclear power« (NYT v. 24. Februar 2012). []
  11. Er kann dazu bauen auf die Hypervigilanz der Schoa-Überlebenden, die die Frage ihres Überlebens nicht in die Hände ihrer Feinde legen werden, und auf die Bereitschaft der Weltöffentlichkeit, bei jeder Militäraktion Israels kollektiv den Verstand zu verlieren. Diese sechste Möglichkeit ist wohl die am wenigsten wahrscheinliche, aber gerade eingedenk der Märtyrerideologie nicht ganz ausgeschlossen. Zudem praktizieren Teile der palästinensischen Nationalbewegung seit Jahrzehnten eine ganz ähnliche Strategie, die nicht nur mit fingierte Aufnahmen und Falschmeldungen arbeitet, sondern auch darauf abzielt, mittels Attentaten, Raketenbeschuß und Grenzstürmungen Israel immer wieder zu Vergeltungsaktionen zu provozieren, anläßlich derer die europäischen Freunde des palästinsischen Terrors ihre geübte Entrüstung zeigen können. Einen Krieg, den man militärisch nicht gewinnen kann, psychologisch gewinnen zu wollen, indem man eine Mehrheit der Weltbevölkerung auf seine Seite zieht, scheint mir kein unüberlegter Ansatz zu sein, und mit Blick auf die Stimmung, die sich in Europa gegen Israel artikuliert, muß man zugeben, daß diese Strategie gut funktioniert. []
  12. Freilich gibt es neben der Flucht in den Begriff auch eine Flucht in die Aporie, und die ist auch dann unzureichend, wenn die Weltlage tatsächlich einen aporetischen Charakter besitzt. Wenn z.B., um nicht immerzu vom Iran zu reden, der Betrachter des arabisch-jüdischen Konflikts um Palästina/Israel sich auf die Position zurückzieht, alle Parteien seien gleichermaßen irrsinnig, mag darin die Absicht liegen, die Rechtsgleichheit zwischen beiden Parteien im Streit um das Stück Land zum Ausdruck zu bringen, gegen welche Absicht sich, da sie ehrenwert ist und auf einem zutreffenden Urteil beruht, wenig sagen läßt. Es ist aber eine Sache, auf die Rechtsgleichheit beider Seiten hinzuweisen; eine andere Sache ist, das Verhalten der Seiten im Konflikt, ihre Absichten, ihren Bewußtseinszustand zu beurteilen. Aus dem gleichen Rechtsanspruch folgt nicht, daß beide Parteien ihrem Anspruch im gleichen Maße gerecht werden. []
  13. in: Der ehrbare Opportunismus []
  14. Soweit ich sehe, ist fast jeder, der halbwegs bei Verstand ist, gegen die Bombardierung. Das betrifft auch die meisten von denen, die kein pathologischer Haß gegen Israel umtreibt. Die von diesem Haß Getriebenen wiederum leben in der Vorstellung, daß alle, die ihren Haß nicht teilen, in schönster Eintracht beisammen sind. Es ist die Unfähigkeit, jenseits der Lager zu denken, die zu der Vorstellung führt, daß einer, der die Raserei gegen Israel kritisiert, auch gleich für die Bombardierung des Iran sein, und einer, der Kritik an Israel übt, umgehend auch die Gefahr, die aus dem Iran kommt, verharmlosen müsse. []
  15. Die Psychologie dieser Generation hat Karl Heinz Bohrer beschrieben: Pathetisches Sprechen ohne Scham, in: taz v. 4. November 2006 []
  16. Nur selten äußert einer sein kollektivbezogenes Ressentiment so rundheraus und offen rassistisch wie etwa der Verleger Abraham Melzer, als er erklärte: »Warum sind die Israelis ein so peinlich selbstgerechtes, verlogenes, boshaftes und heuchlerisches Volk? Oder vielleicht sind die Israelis, gar keine Juden mehr, sondern das geworden, was die Feinde der Juden einmal waren«; vgl. Ders.: Kommentar des Monats, in: Palästina-Portal Dezember 2011. []
  17. am 23. Januar 2012 via twitter, siehe: http://www.cicero.de/sites/default/files/pp.png []
  18. Klaus Steiniger: Marx contra Rothschild, in: RotFuchs 164 (September 2011). []
  19. zit. n. http://www.publikative.org/2012/04/12/querfront-gegen-die-endlosung/ []
  20. zit. n. http://www.klick-nach-rechts.de/gegen-rechts/2003/08/wisnewski.htm []
  21. Guttenberg unterscheidet sich darin von Grass und Sarrazin, daß er mehr zur Symbolfigur gemacht wurde, als daß er sich selbst diese Rolle ausgesucht hätte. Aber soweit es die volkstümliche Bewegung selbst betrifft, macht sein Fall keinen Unterschied. Ausgerechnet er, der Aristokrat mit dem Doktortitel, wurde zur Sarah Palin der Bundesrepublik: zum Wahrzeichen volkstümlicher Intelligenzfeindlichkeit. []
  22. Sarrazin schrieb rückblickend: »Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten«, in: FAZ v. 25. Dezember 2010. Grass äußerte wenige Tage nach seiner Publikation: »Was auffällt, ist das Nicht-Einlassen auf die Fakten«. []
  23. Die andere Seite des zugrunde liegenden Kalküls hat Kai Köhler (a.a.O.) in den Worten zusammengefaßt: »Grass’ Suggestion ist perfide, weil sie dem Gegner jeden Weg versperrt: Schweigen die Juden, so überlassen sie ihm das Kampffeld. Protestieren sie hingegen, so bestätigen sie das Vorurteil über den Zwang, den sie angeblich ausüben.« []
  24. Ich war fest entschlossen, aus der ungeheuren Materialfülle, die das Web 2.0 aufbietet, keine Zitate zu bringen. Aber das eine muß ich nun doch bringen; es ist zu schön. In der Kommentarspalte eines (auch das Web 2.0 hat seine Momente) lesenswerten Blogs las ich folgende Aussage: »Der Zionismus hat mit dem Judentum nichts gemeinsames.« Schön auch der Satz, der weiter unten steht: »Wer, wie die Hamas die Kolonialpolitik der israelischen Regierung angreift und bekämpft, begeht kein Antisemitismus.« []
  25. Einflußreiche Demagogen (bei Sarrazin z.B. Henryk Broder und Berthold Kohler, bei Grass u.a. Jakob Augstein und Alfred Grosser) und Lobbyisten (für Sarrazin etwa Hans Olaf Henkel, für Grass z.B. Michael Lüders) sprangen den Protagonisten bei, und die erhielten breitesten Raum, sich in den Medien zu äußern. []

  5 Responses to “Die Anatomie der schreibenden Mehrheit”

  1. […] Bartels schreibt in einer Fußnote seines Artikels „Die Anatomie der schreibenden Mehrheit“ sehr nachvollziehbar zu dem Thema: “Abgesehen davon, daß eine unkorrekte Übersetzung im […]

  2. […] auf dem auch vierzig SS-Gefallene liegen, wollte er 2012 mit seinem antisemitischen Gedicht “Was gesagt werden muss” wieder einmal nicht mehr schweigen. Wieso der Literatur-Nobelpreisträger sein Gedicht nicht […]

  3. […] auf dem auch vierzig SS-Gefallene liegen, wollte er 2012 mit seinem antisemitischen Gedicht “Was gesagt werden muss” wieder einmal nicht mehr schweigen. Wieso der Literatur-Nobelpreisträger sein Gedicht nicht […]

  4. […] „Die letzten zwei Jahre haben eindrucksvoll belegt, daß breite Schichten der Bevölkerung bereit sind, von jeglichen Tatsachen und Argumenten abzusehen, sobald es gegen Ausländer und Unterschichten (Sarrazin), Intellektuelle (Guttenberg) oder Juden (Grass) geht. Da steckt ein tiefer Unwille gegen das Andere im Mob, und das Web 2.0 ist die Plattform, in der sich diese irrationale Stimmung äußern und ihre Dynamik entfalten kann. Es kann daher mit Fug der widerlichste Öffentlichkeitsraum der Weltgeschichte genannt werden. Weder die Agora noch der Buchdruck noch die Zeitung, ja nicht einmal Hör- und Fernsehfunk haben den Un- und Wahnsinn in so hoher Dichte und in solchem Ausmaß befördert. Und nichts hat je mit solch synergetischer Dynamik dafür sorgt, daß Wahn den Wahn noch steigert. Kein Medium ist als solches schlecht, aber es gibt durchaus Medien, die sich mehr als andere zum Verbreiten des Unsinns eignen. Das nämlich ist das Web 2.0: ein viel zu groß geratener Leserbrief. Hier ist der Ort, wo Wahnsinn und Narrheit einander Gute Nacht sagen und der vormals bloß in seinen TV-Kasten hineinschimpfende Durchschnittsbürger endlich seine Macht fühlt, weil er merkt, daß er nicht allein ist. Hier ziehen die digitalen Rackets einmal im Quartal los, um ihren unstillen Helden Beihilfe bei deren Unverschämtheiten zu leisten. Der Schwachsinn wird zur materiellen Gewalt, sobald er die Massen ergreift. Das Web 2.0 hat aus der schweigenden Mehrheit eine schreibende gemacht.“ (Felix Bartels: Die Anatomie der schreibenden Mehrheit) […]

  5. […] 4. April 2012 veröffentlichte der ehemalige SS-Soldat Günter Grass  sein antisemitisches Gedicht “Was gesagt werden muss“. Darin behauptet er unter […]

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