Okt 072020
 

Ergänzungen zu einer befugten Kritik

Opportunisten haben keine Grundsätze. Na gut, einen doch. Marx tat uns den Gefallen, ihn mal zu formulieren: »Those are my principles, and if you donʼt like them – well I have others« (Groucho natürlich, nicht Karl). Indessen muss dieser eine Grundsatz, der dann doch vorhanden ist, bei Strafe der Unglaubwürdigkeit verleugnet werden. Der Opportunist bekennt sich fortwährend zu Dingen, an die er nicht glaubt, zu der einen Sache aber, an die er glaubt, darf er sich nicht bekennen. Und was für die Gegenwart gilt, gilt auch für die Vergangenheit: Das Umdeuten der eigenen Biographie wird dann folgerichtig. Der orthodoxe Opportunist will schon immer genau das vertreten haben, dem er sich grad eben erst unterworfen hat. Continue reading »

Aug 142020
 

Das Glatteis ist ihr einziger Triumph. Zum xten neuesten Satirestreit

Cancel Culture ist schon jetzt das Klemmwort des Jahres. Verwendet von Leuten, die eigentlich Zensur meinen, aber gerade noch erinnern, was das Wort bedeutet: dass ein Staat seine Macht nutzt, einen Künstler nicht vorkommen zu lassen. Lisa Eckhart, leider, kommt vor und kann sich äußern. Nur nicht überall. Eben das stört sie und ihresgleichen. Sie werden nicht zu jeder Party eingeladen. Dürfen nicht in jeder Zeitung schreiben. Nicht jeden Satz sagen, ohne dann doch mal die Wut zu ernten, die sie brauchen. Continue reading »

Jun 062020
 

Kritik an Fake News leidet am selben Webfehler wie ihr Gegenstand

Als die Redaktion mich fragte, was mir zu Rezo einfalle, stand ich erstmal auf dem Schlauch. Und damit sind wir schon mittendrin. Rezo würde diesen Rezzo-Witz nicht verstehen, während ich nicht einmal weiß, dass man seinen Namen anders ausspricht, und überhaupt aus dem, was Influencer bei Youtube so dahinreden, selten schlau werde. Das liegt vielleicht an der hektischen Sprechweise dieser Leute und gewiss an den behandelten Problemen, die für mich meist gar keine sind. Bei Rezos aktuellem Video (»Die Zerstörung der Presse«) ist das etwas anders. Hier nimmt er sich ein hinlänglich bekanntes Thema vor, das schwierige Verhältnis von Medien und Wahrheit. Continue reading »

Apr 152020
 

Haltungen in der Corona-Krise

Es brauchte keine zwei Wochen Lockdown, bis das Sterben von Mitmenschen für verhandelbar erklärt wurde. Natürlich gleitend. Man wird ja noch fragen dürfen, ob man fragen darf … Man wird ja noch fragen dürfen … Man wird ja noch sagen dürfen. In den USA hat sich in diesen zwei Wochen die Zahl der Todesfälle vervierzehnfacht (von 1.200 auf 16.700), in Deutschland verzehnfacht (von 260 auf 2.600). Aber schön, dass wir das alles so offen diskutieren. Continue reading »

Feb 182020
 

»Bombshell«

Wie Adam McKay ist Jay Roach den seltsamen Weg von der seichten Komödie zum Politdrama gegangen. Und wie bei dem bleibt dieses Herkommen in den späten Filmen spürbar. McKay arbeitet mit Durchbrechen der 4. Wand, Voiceover, Mockumentarystil und Archivmaterial. Roach bewahrt den fiktionalen Charakter mehr, doch beider Politfilme haben gemein, dass flottes, oft irritierend-arhythmisches Pacing sowie ein Übergewicht an Diktion das Komödienhafte erhält und so eine eigentümlich neue Sorte Politdrama etabliert, die sich von dem, was etwa Oliver Stone, George Clooney oder Jason Reitman tun, unterscheidet. Continue reading »

Feb 082020
 

Geschichte wiederholt sich nicht nicht – Ein paar Takte zu Thüringen

Wer untot ist, ist noch nicht tot. Aber er lebt auch nicht mehr, und wer nicht lebt, tut besser daran, gleich ganz weg zu sein. Wenn er dann auch nichts ausrichtet, es entsteht zumindest Platz für Befugteres. Die Linke hatte den Zustand ihrer Untöte erreicht, seit sie begann, sich die Sorgen der Mitte zu machen. Ich will sie gar nicht tot, ich will sie wieder lebend. Wie reanimiert man einen Zombie? Continue reading »

Nov 152019
 

Das Übel um Sahra Wagenknecht begann lange vor ihrer neurotischen Jagd auf dusslige Wählerstimmen, die die Linke in einer Zeit, da rechterseits noch keine selbstbewusste Kraft etabliert war, ohnehin immer nur geborgt hatte. Es begann Ende der Neunziger Jahre, als Wagenknecht den Leninismus entsorgt und die kommunistische Opposition innerhalb der PDL zerschlagen hat. An deren Stelle trat zunächst ein diffuser Antiimperialismus und schließlich ein nach rechts offener Populismus. Immer stramm mit der Zeit, denn wo Schröder und Chirac 2003 den Antiamerikanismus nutzbar machten, durfte man den Anschluss genau so wenig verpasst haben wie 2015 beim Ruck nach rechts, der bis heute das Denken und die politischen Zuordnungen verwirrt.

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Okt 182019
 

»Born in Evin«

Vorm Hintergrund erst des Wissens, wie entscheidend der frühkindliche Abschnitt für die Entwicklung jeder Persönlichkeit ist, erhält dieser Film seine Tragweite. Ungemein persönlich tritt er auf, gleichwohl exemplarisch. Maryam Zaree – Regisseurin, Autorin, Protagonistin – wurde als Kind inhaftierter Dissidenten 1983 im Evin-Gefängnis nahe Teheran geboren und verbrachte dort die ersten Jahre ihres Lebens. Heute arbeitet sie als Schauspielerin in der Bundesrepublik und findet, da kaum jemand mit ihr über diese Jahre reden will, für angezeigt, ein solches Reden zu erzwingen. Ich denke, so muss man diesen Film fassen. Als letztes Mittel eines Menschen, sein Recht auf Wissen durchzusetzen. Continue reading »

Okt 162019
 

»Mit Dolchen sprechen – Der literarische Hass-Effekt«

In Rostands »Cyrano« kann der leicht kränkbare, von Gefühlen der Minderwertigkeit getriebene Titelheld beim Duell das Reden nicht lassen. Ein Satz begleitet den Kampf, zugleich die Arbeit des Degens spiegelnd und deren Abschluss ankündigend: »Denn beim letzten Verse stech ich«. Karl Heinz Bohrer behandelt Rostands Schauspiel in seinem Buch »Mit Dolchen sprechen« nicht, doch der Titel erinnert stark an das szenische Motiv und will auf dieselbe Dialektik von Handlung und Sprache hinaus. Hier liegt eine Untersuchung über den »Hass-Effekt« vor, indessen nicht über Hass als solchen, nicht über Folgen und Gründe der Niedertracht. Die Studie taxiert die Hass-Rede als Element poetischer Literatur. Continue reading »

Okt 102019
 

Zur Spaltung der real existierenden Ideologiekritik[1]

Ich kann keine Karikaturen malen. Das mag daran liegen, dass ich überhaupt nicht malen kann. Könnte ichs, brächte ich folgendes aufs Papier: Ein Mann hält vom Podium einer Pressekonferenz eine Phantomzeichnung in die Luft. Die Zeichnung zeigt ein Gesicht, das dem des Mannes aufs Haar gleicht. Darunter in Anführungszeichen: »Wir fahnden nach diesem Mann.« Die Karikatur könnte den Titel »Ideologiekritik« tragen, würde aber auch so, denke ich, nicht verstanden werden. Die Sache allerdings hätte einen Vorteil. Ich könnte jetzt aufhören. Continue reading »

Okt 052019
 

»Skin«

Es scheint retrospektiv fast zwingend, dass Regisseur Guy Nattiv den Stoff um den Neonazi Bryon Widner von der Erzählung weg auf die Bildsprache hin gestaltet hat. Denn nicht der Inhalt, nicht die Erzählung – das titelgebende Motiv der bemalten Haut macht die Besonderheit dieser Biographie. Widner musste seinen Ausstieg aus der Szene ebenso auf der Haut vollziehen wie darunter. Insgesamt 612 Sitzungen waren nötig, die zahllosen Tattoos verschwinden zu lassen, die seinen Körper bis ins Gesicht bedeckten. Dass das Entfernen so schmerzhaft wie das Tätowieren war, kann als lex talionis verstanden werden: die Strafe spiegelt das Vergehen. Continue reading »

Sep 202019
 

Der Irrsinn dieser Tage lässt sich in einen Satz fassen: Die Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot-Fraktion und die Das-Boot-ist-voll-Fraktion werfen sich gegenseitig ihre Dummheiten an den Kopf und begründen in der gemeinsamen Annahme, dass ein Drittes nicht gegeben sei, ihre furchtbare Doppelherrschaft über alles andere. Continue reading »

Jun 292019
 

Ich muss doch noch etwas breit werden heute Abend. Wenn man den ganzen Tag Bücher gesetzt hat, bleibt für die Nacht ein Durst nach Inhalt. Ich entschuldige mich bei allen, besonders bei der Ideologiekritik, die immer so niedlich zusammenzuckt, sobald es um Inhalte geht. Solche Dinge müsste man nicht ausstellen, wenn sie nicht ungemein stellvertretend für Zeit und Zustand der in ihr Verhafteten wären. Statt sich des Umstands zu freuen, dass eine Aktivistin Fidel Castro zitiert, kommentiert ein erklärter Kommunist den Vorgang um Carola Rackete wie folgt: Continue reading »

Mai 282019
 

Zur politischen Intention des Märchens »Liebkind im Vogelnest«[i]

Der junge Mann heißt Leberecht, das Mädchen Liebkind, der Hund heißt Kasper. Wir haben, wie so oft bei Hacks, eine Dreiteilung. Und wie ebenfalls üblich bedeutet diese hier wieder was Eigenes. Selten hat Hacks dieselbe ideelle Konstruktion zweimal verwendet, so dass man seine Werke nicht nach stets demselben Schema deuten kann. Auch »Liebkind« lockt den routinierten Hacks-Leser ein wenig auf die falsche Spur. Einiges erkennt man sogleich, doch dann schaut man wieder hin und sieht, es geht noch um mehr. Continue reading »