Okt 162019
 

»Mit Dolchen sprechen – Der literarische Hass-Effekt«

In Rostands »Cyrano« kann der leicht kränkbare, von Gefühlen der Minderwertigkeit getriebene Titelheld beim Duell das Reden nicht lassen. Ein Satz begleitet den Kampf, zugleich die Arbeit des Degens spiegelnd und deren Abschluss ankündigend: »Denn beim letzten Verse stech ich«. Karl Heinz Bohrer behandelt Rostands Schauspiel in seinem Buch »Mit Dolchen sprechen« nicht, doch der Titel erinnert stark an das szenische Motiv und will auf dieselbe Dialektik von Handlung und Sprache hinaus. Hier liegt eine Untersuchung über den »Hass-Effekt« vor, indessen nicht über Hass als solchen, nicht über Folgen und Gründe der Niedertracht. Die Studie taxiert die Hass-Rede als Element poetischer Literatur.

In der kurzen Einleitung wird der Begriff in diesem Sinne zugeschnitten. Es gehe, schreibt Bohrer, weniger um Hass als Impuls politischer Kämpfe oder als Moment psychologischer Identifikation, sondern darum, »wie der Affekt der Person zum Effekt der Sprache transzendiert« (8). Wie Sprache sich durch Hass steigert und die Phantasie freisetzt, wird damit fürs Verständnis eines Werkes wichtiger als die Überlegung, welche Inhalte es befördere. Und der Autor ist hier ganz prononciert: »Nicht Ideen« machen den »Rang« der Literatur aus, »sondern der Effekt ihrer den Affekt auslösenden Sprache« (42). »Es heißt«, heißt es ferner, »Shakespeare oder Hamlet philosophierten für uns. Aber das ist nicht das, was uns anzieht« (92). Wie schön, dass er das für uns alle gleich mitentschieden hat.

Die Hass-Rede steht hier als Mittel für den Effekt. Doch der Effekt ist, sofern Dichtung mehr will als bloß wirken, kein Zweck, er ist selbst ein Mittel. Eine Poetik, die davon absieht, muss leer bleiben. Ausgeblendet scheint ferner, dass zwischen der Sprache und dem Ideengehalt eines Werks wenigstens noch die Fabel liegt – jenes Geflecht aus Figuren, die Identifikation ermöglichen, und Handlung, die Langeweile vertreibt. Es ist nie nur die Sprache, die bleibt, wenn man von den Ideen nicht reden will. Zudem ist einfach unmöglich, das Inhaltliche auszublenden. Immer wieder muss der Autor in seinen Auslegungen folglich auf politische Zusammenhänge kommen, ohne die die Hass-Reden gar nicht nachvollziehbar wären. Da allerdings der gesellschaftliche Charakter der Werke vom Anfang weg ausgeklammert wurde, bleiben die Bemerkungen seicht. Über die Epoche des elisabethanischen Absolutismus weiß Bohrer substantiell zu sagen, dass sie ganz schön grausam war (19). Oder sie werden vollends absurd. Das Aufkommen der faschistischen Hetze in der deutschen Publizistik erklärt er mit der Abwesenheit von Hass-Reden in der früheren deutschen Dichtung (44).

Auch in methodologischer Hinsicht gibt die Studie sich bescheiden. Eine Einführung, die das Kategoriale und Terminologische ordnet, fehlt. Was eigentlich ist Hass? Was unterscheidet ihn vom Zorn? Ist er Impuls oder Disposition? Wo liegt die Differenz zur Abneigung? Gibt es begründeten Hass? Bohrer hangelt sich von Werk zu Werk, durchaus mit scharfem Blick und gutem Gespür, aber man kann nicht sagen, dass in diesem Buch eine Systematik des Hass-Effekts oder eine Leitidee herausgearbeitet würde. Wir sehen Wissenschaft ohne Theorie; der Wert liegt immer nur in der einzelnen Beobachtung. Dort allerdings vermag der Autor die Langeweile zu vertreiben, und wer die untersuchten Werke liebt (oder verachtet), wird gedankliches Vergnügen haben. Bohrer findet auch stets griffige Formeln: Glaubhaftmachen von Gefühlen (Shakespeare, Milton), satirische Zuspitzung zum Zwecke der Moral (Swift), Denkimpuls (Wagner, Baudelaire), Selbstzweck (Strindberg) etc. (329).

Im Aufbau ist die Studie nachvollziehbar, doch undeklariert. Der erste Abschnitt befasst sich mit Werken der klassischen Weltliteratur, der zweite gruppiert die romantische Internationale, der dritte moderne Literatur. So bleibt verständlich, warum auf die ausführliche Abhandlung antiker Werke verzichtet wurde, obgleich, wie Bohrer erwähnt, die abendländische Literatur mit dem griechischen Wort für Zorn beginnt: Menin aeide thea peleiadeo Achileos, obgleich, was Bohrer nicht erwähnt, Homer den Namen Odysseus als »der den Hass kennt« deutet. Die Konzentration auf die Neuzeit macht eine übergreifende Entwicklung von der Klassik bis zur Jetztzeit sichtbar, die sich an vielen Motiven und eben auch am Wandel der Hass-Rede nachzeichnen lässt: eine Zunahme von Nichtigkeit, ein Raumgreifen des Nur-Subjektiven. Wo einst der Affekt im Zusammenhang der Weltbetrachtung ein Motor sein konnte, wird er heute selbst zum metaphysischen Prinzip, das sich als Ersatz eines echten Weltbilds feilbietet. Am Ende steht eine Literatur, die überhaupt nichts mehr sein will als bloß Stimmung.

Der Punkt, an dem diese Gesamtentwicklung ihren größten Sprung macht, liegt bei der Romantik, wo der sittliche Charakter politischer Gewalt geleugnet und deren generelle Sinnlosigkeit behauptet wird, was Bohrer an der Sache noch herausarbeitet, um anschließend (und wenig überzeugend) Hegels Kritik am Vorwalten der niederträchtigen Empfindungen bei Kleist zurückzuweisen (210). Wie der Autor überhaupt seltsam lustlos bleibt, sobald es darum geht, die Qualität der betrachteten Werke gegeneinander zu bestimmen. Selbst an Houellebecq, den ein sinnentleertes Sinnsuchen treibt, weil er nicht begreift, dass die Leere der Welt nicht Eigenschaft derselben, sondern Problem seines Zugriffs auf sie ist, findet Bohrer noch manches, das sich rühmen lässt. Spätestens hier am Ende dieses dicken Buchs versteht man, dass das Einschrumpfen der Klassiker im ersten Kapitel (Marlowe, Shakespeare, Milton, Swift) zu irgendwie bloß bürgerlichen Schriftstellern ohne Begriff ihrer Zeit zwar Unsinn war, doch Methode hatte.

Alles muss, so scheint es, sein Recht behalten, alles ist ganz schön verschieden. – Es gibt keinen Gedanken, der mehr Indifferenz befördert als gerade der. Diese in vielen Stellen ungemein scharfsinnige und, was die Feinmechanik der Literatur betrifft, wertvolle Studie zieht den Leser so nah an das Phänomen der Hass-Rede, dass früher oder später nichts am Platze bleibt als Gleichgültigkeit.

Karl Heinz Bohrer
MIT DOLCHEN SPRECHEN
Der literarische Hasseffekt
Berlin (Suhrkamp) 2019
494 S., gebunden
ISBN 978-3-518-42881-8

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in: junge Welt v.  16. Oktober 2019.

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