Aug 142020
 

Das Glatteis ist ihr einziger Triumph. Zum xten neuesten Satirestreit

Cancel Culture ist schon jetzt das Klemmwort des Jahres. Verwendet von Leuten, die eigentlich Zensur meinen, aber gerade noch erinnern, was das Wort bedeutet: dass ein Staat seine Macht nutzt, einen Künstler nicht vorkommen zu lassen. Lisa Eckhart, leider, kommt vor und kann sich äußern. Nur nicht überall. Eben das stört sie und ihresgleichen. Sie werden nicht zu jeder Party eingeladen. Dürfen nicht in jeder Zeitung schreiben. Nicht jeden Satz sagen, ohne dann doch mal die Wut zu ernten, die sie brauchen. Continue reading »

Jun 062020
 

Kritik an Fake News leidet am selben Webfehler wie ihr Gegenstand

Als die Redaktion mich fragte, was mir zu Rezo einfalle, stand ich erstmal auf dem Schlauch. Und damit sind wir schon mittendrin. Rezo würde diesen Rezzo-Witz nicht verstehen, während ich nicht einmal weiß, dass man seinen Namen anders ausspricht, und überhaupt aus dem, was Influencer bei Youtube so dahinreden, selten schlau werde. Das liegt vielleicht an der hektischen Sprechweise dieser Leute und gewiss an den behandelten Problemen, die für mich meist gar keine sind. Bei Rezos aktuellem Video (»Die Zerstörung der Presse«) ist das etwas anders. Hier nimmt er sich ein hinlänglich bekanntes Thema vor, das schwierige Verhältnis von Medien und Wahrheit. Continue reading »

Apr 152020
 

Haltungen in der Corona-Krise

Es brauchte keine zwei Wochen Lockdown, bis das Sterben von Mitmenschen für verhandelbar erklärt wurde. Natürlich gleitend. Man wird ja noch fragen dürfen, ob man fragen darf … Man wird ja noch fragen dürfen … Man wird ja noch sagen dürfen. In den USA hat sich in diesen zwei Wochen die Zahl der Todesfälle vervierzehnfacht (von 1.200 auf 16.700), in Deutschland verzehnfacht (von 260 auf 2.600). Aber schön, dass wir das alles so offen diskutieren. Continue reading »

Okt 182019
 

»Born in Evin«

Vorm Hintergrund erst des Wissens, wie entscheidend der frühkindliche Abschnitt für die Entwicklung jeder Persönlichkeit ist, erhält dieser Film seine Tragweite. Ungemein persönlich tritt er auf, gleichwohl exemplarisch. Maryam Zaree – Regisseurin, Autorin, Protagonistin – wurde als Kind inhaftierter Dissidenten 1983 im Evin-Gefängnis nahe Teheran geboren und verbrachte dort die ersten Jahre ihres Lebens. Heute arbeitet sie als Schauspielerin in der Bundesrepublik und findet, da kaum jemand mit ihr über diese Jahre reden will, für angezeigt, ein solches Reden zu erzwingen. Ich denke, so muss man diesen Film fassen. Als letztes Mittel eines Menschen, sein Recht auf Wissen durchzusetzen. Continue reading »

Sep 202019
 

Der Irrsinn dieser Tage lässt sich in einen Satz fassen: Die Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot-Fraktion und die Das-Boot-ist-voll-Fraktion werfen sich gegenseitig ihre Dummheiten an den Kopf und begründen in der gemeinsamen Annahme, dass ein Drittes nicht gegeben sei, ihre furchtbare Doppelherrschaft über alles andere. Continue reading »

Feb 202019
 

»Vice – Der zweite Mann«

Es beginnt 1950 in Wyoming, wo die Welt nicht heil, aber noch in Ordnung war. Der Landarbeiter Dick Cheney gerät betrunken in eine Polizeikontrolle. Es ist der Moment, in dem sich sein Leben ändert. Seine Frau Lynne stellt ihn vor die Wahl: Entweder mache er was aus sich, oder sie werde ihn verlassen. So lernt er bei Donald Rumsfeld das Handwerk einer Politik ohne Inhalt. Ein halbes Dutzend Wahlperioden später erkennt er in George W. Bush einen gut zu führenden Frontmann, hinter dem er als Schattenpräsident das Land regieren kann. Dick trifft auf Doof, das ist die Lesart.

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Feb 072019
 

»Drachenzähmen leicht gemacht 3: Die geheime Welt«

Die unbestreitbare Schönheit dieses Films konzediert, scheint nicht verkehrt, anstelle einer Rezension die gesamte Reihe in Blick zu nehmen. Dean DeBlois selbst gibt an, dass er mit den drei Filmen eine übergreifende Story erzählen will. Gelungen ist ihm viel mehr als das. »Drachenzähmen« zeichnet, vielleicht unwillentlich, ein Sittenbild dieser Epoche. Im Kunstwerk decken sich Absicht und Ergebnis nie ganz. Erzähler packen die Welt oft intuitiv und könnten es nicht begrifflich machen. Zum anderen folgen sie der Logik des Erzählens, wodurch sie unvermeidlich Bedeutung herstellen. »In der Kunst«, schreibt Peter Hacks, »verändern Sachverhalte ihr Wesen; sie hören auf zu sein und fangen an zu bedeuten.« Wie Literatur übersetzt Film Strukturen der Wirklichkeit in Ideenstrukturen. Die Frage ist nicht, ob, sondern wie gut er das tut.

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Nov 142018
 

»Die andere Seite von allem«

Im Zentrum von Belgrad gibt es eine Wohnzimmertür, die seit 70 Jahren verschlossen ist. Auf der anderen Seite wohnen fremde Nachbarn, auf dieser Srbijanka Turajlić, deren Eltern vor 1945 noch die gesamte Wohnung gehörte. Im Zuge der Verstaatlichung wurde die Fläche geteilt; statt einer konnten nun vier Familien dort leben. Bürgertum und Proletariat, sagt Srbijanka, hatten zuvor in Belgrad praktisch keine Berührung. Mit der Teilung der Wohnung, lässt sich sagen, hat man die Teilung der Klassen angegriffen. Continue reading »

Okt 182018
 

»Der Vorname«

Im Grunde ist jeder Vorname ein Skandal. Gewiss kann er im Gegensatz zum Familiennamen frei bestimmt werden, aber nie vom Betroffenen selbst. Der Familienname schafft wenigstens eine Art Gemeinschaft des Leidens, der Vorname gerät zum Machtgriff, der gnadenlos Weichen stellt. Wer sein Kind etwa Adolf nennt, sollte gleich auch das Geld für den Analytiker zurücklegen. An dieser Idee hängt sich die Komödie »Der Vorname« (Le Prénom) auf, die 2010 von Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière geschrieben und 2012 von ihnen verfilmt wurde. Sechs Jahre später befand Sönke Wortmann, dass es hievon ein deutsches Remake geben müsse. Sechs Jahre, das ist die kleinste Einheit deutschen Taktgefühls, denn so lange hat der Zweite Weltkrieg gedauert. Continue reading »

Sep 222018
 

Es gibt eine Sache an Merkel, die dann doch zu loben wäre. In ihrer Position kann sie nichts anderes sein als eine Charaktermaske, die die Logik der kapitalistischen Gesellschaft bei Strafe des eignen Untergangs exekutieren muss, und so wie sich das Wertgesetz überhaupt erst durch die Abweichung des Preises vom Wert durchsetzen kann, ist die individuelle Aktion im Regieren bloß die Gelegenheit zur Korrektur durch die unerbittliche Logik des Kapitals. Merkel oszilliert sozusagen um diese Logik. Continue reading »

Jun 162018
 

Dem Fußball scheint Ähnliches zu blühen wie Apple, Sushi oder Netflix. Er läuft nach wie vor, und irgendwie auch ganz gut, doch das symbolische Kapital schwindet. Längst hat sich Verdrossenheit unter die Begeisterung gemischt, ist das Mythische im Alltäglichen ertrunken und der Reiz verloren, mehr darin zu sehen als darin ist. Die Fahnen, diese elenden, sind heute dünner gesät denn je, und während die WM vor 8 Jahren allgegenwärtig war, ist das einzige, was sich heute noch aufdrängt, das bierselige Antlitz Thomas Müllers beim Rewe. Continue reading »

Mrz 282018
 

»Vor uns das Meer« ist eine Parabel auf den gesellschaftlichen Charakter der Lüge

Die Schwächen dieses Films wären weniger ärgerlich, wenn er nicht so gut wäre. Das beginnt beim deutschen Titel, in dem der Schlüsselcharakter des originalen »The Mercy« missachtet wird, der mit »Begnadigung« oder »Erbarmen« gut übertragbar war. Das setzt sich fort bei der größerenteils schwachen Besetzung. Und reicht bis zum Drehbuch, dessen Anlage so grandios wie seine Ausführung synthetisch ist. Continue reading »

Mrz 232018
 

In »Die stille Revolution« versuchen es Kapitalismus und New Age noch einmal miteinander

Vögel zwitschern, weites Waldland, norddeutsche Gezeiten, Füße im Watt. Diese Dokumentation über den Wandel der Arbeitswelt beginnt mit Bildern, die denkbar weit von dem liegen, was menschliche Arbeit ausmacht. Ist das schon Vergangenheit oder noch Zukunft? Wir sehen die Geschichte des Unternehmers Bodo Janssen, der eines Tages von seinen Angestellten gemocht werden wollte. Er krempelt seine Firma um, und seither sind alle glücklich. Continue reading »

Mrz 222018
 

Mehr als ein Biopic: »I, Tonya« zeichnet eine hintergründige Karikatur des Amerikanischen Traums

Filmische Biographien müssen enttäuschen. Sie provozieren die Erwartung, getreu zu erzählen, wie es war, und langweilen, wenn sie das tun, weil das Ende doch immer schon bekannt ist. Jeglicher Film über Jesus wird dessen Tod am Kreuz zeigen, jeder Film über Tonya Harding den Hergang des Attentats auf Nancy Kerrigan erzählen. Also kommt es hier mehr noch als in der reinen Fiktion darauf an, wie die Sache erzählt wird. Was immer sich sonst für oder gegen »I, Tonya« vorbringen ließe, dieses Problem hat der Film exzellent gelöst. Continue reading »

Jan 052018
 

Manchmal, wenn eine Sache so blöd ist, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, mache ich einen Witz. Das ist meine Art, mit den Augen zu rollen. Manchmal ist eine Sache so blöd, dass mir nichtmal ein Witz einfällt. In dem Manuskript, das ich gerade lektoriere, steht das Wort »Neger«. Das Protokoll von Word 2016 markiert vermeintliche Rechtschreibfehler mit rot gepunkteten Linien und vermeintliche Fehler der Grammatik mit durchgezogenen blauen. Hier unter besagtem Wort sehe ich zum ersten Mal eine braun gepunktete Linie und dürfte etwa ausgesehen haben wie Pete Sampras vorm Aufschlag, als ich das Wort mit der rechten Taste anclickte: »Neutrale Sprache« & »Sie sollten den Ausdruck ersetzen«. Continue reading »