Nov 142018
 

»Die andere Seite von allem«

Im Zentrum von Belgrad gibt es eine Wohnzimmertür, die seit 70 Jahren verschlossen ist. Auf der anderen Seite wohnen fremde Nachbarn, auf dieser Srbijanka Turajlić, deren Eltern vor 1945 noch die gesamte Wohnung gehörte. Im Zuge der Verstaatlichung wurde die Fläche geteilt; statt einer konnten nun vier Familien dort leben. Bürgertum und Proletariat, sagt Srbijanka, hatten zuvor in Belgrad praktisch keine Berührung. Mit der Teilung der Wohnung, lässt sich sagen, hat man die Teilung der Klassen angegriffen.

»Die andere Seite von allem« spielt, nicht zuletzt des Trailers wegen, mit der Erwartung des Zuschauers, es werde um Räume als Metapher für Politisches gehen. Gewiss ist die verschlossene Tür irgendwie so gemeint, aber Mila Turajlić, Tochter von Srbijanka und Regisseurin des Films, arbeitet wenig damit. Wir sehen vielmehr ein biographisches Interview, das immerhin exemplarisch ist für die jüngere Geschichte Jugoslawiens.

Mila bleibt im Hintergrund, nicht nur wenn Srbijanka redet. Man hört sie fragen, widersprechen, kommentieren, aber in dem Raum, um den es gehen soll, kommt sie nicht vor. Die ruhige Kameraführung flankiert das. Die Stimmung ist überlegt, retrospektiv, resignativ. Als ob Serbien keine Zukunft hat und eigentlich alles schon geschehen ist.

Während des Sozialismus lebt Srbijanka als moderate Antikommunistin, in den Neunzigern wird sie zur prominenten Gegnerin Miloševićs, an dessen Sturz im Oktober 2000 sie sich beteiligt. Heute sagt sie: »Falls ich wirklich Freiheit gewonnen habe – und schauen wir das Land an, in dem wir leben –, dann ist das die schlechteste Arbeit, die ich in meinem Leben geleistet habe.« Und sie erzählt, dass sie am Tag des Aufstands fassungslos beobachte, wie die Demokratie damit beginnt, dass die Menschenmenge offensichtlichen Plündereien zujubelt. Srbijanka verkörpert die generische Ratlosigkeit der Bürgerrechtler, die eine Gesellschaftsform herbeiriefen, aber mit deren Eigenschaften nicht glücklich werden. Was hatten sie erwartet, einen humanen Kapitalismus? Nichtmal die liberale Version gibt es überall; sie bleibt der Gewinnerseite des Weltmarkts vorbehalten.

Srbijankas Melancholie bezieht sich nicht auf den Verlust des Sozialismus, sondern auf den Jugoslawiens. Seit 1987 gab es im Land eigentlich bloß nur noch die Wahl zwischen nationalistischen Separatisten und einer Fraktion, die sich dem Zugriff des westlichen Imperialismus bereitstellte. Die kommunistische Idee einer nationalen Einheit verschiedener Völker hatte keine Mehrheit mehr. Wie verhält man sich in dieser Lage? Ihr Dilemma liegt darin, dass sie Jugoslawien erhalten und den Sozialismus beseitigen wollte, der jedoch die Bedingung für den Vielvölkerstaat war. Exemplarisch zudem ist ihre Fixierung auf Milošević, in dem sie den Schuldigen ausmacht. Sie klammert den kroatischen Nationalismus ebenso aus wie die Aktivitäten des deutschen Außenministeriums. Der geopolitische Hintergrund jener Forcierung des Separatismus durch die USA und spätere EU-Staaten – als Beseitigen unsicherer Variablen nahe der angedachten EU-Zone – bleibt unbehandelt.

Denn die Filmemacherin konzentriert sich ganz auf ihre Hauptperson, mit der sie sich politisch einig weiß. Die persönlichen Grenzen werden nicht anschaulich gemacht, obgleich sie unvermeidlich anschaulich werden. Keine Gegenrede oder die Biographie der Anderen konterkariert sie. Die Möglichkeit, eine polymorphe Fabel zu erzählen, bliebt ungenutzt, und das macht den Film bloß authentisch, aber nicht wahr.

»Die andere Seite von allem – Eine politische Geistergeschichte« [»Druga strana svega«]
Serbien, Frankreich, Qatar 2017
Regie: Mila Turajlić
Darsteller: Srbijanka Turajlić
Länge: 104 Minuten
Starttermin: 15. November 2018

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in: ND v. 14. November 2018.

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