Mrz 112020
 

… und seine Selbstermächtigung: Enno Stahls gesammelte Essays »Diskursdisko«

Vor bald sieben Jahren legte Enno Stahl mit »Diskurspogo« (2013) eine Sammlung von Essays vor, die sich mit Spielarten populärer und subversiver Gegenwartsliteratur befassen. Im jetzt veröffentlichten »Diskursdisko« weitet und schärft sich zugleich der Blick; ersteres, indem der Autor länger in die Literaturgeschichte zurückgreift, bis zur Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, letzteres, indem sein Konzept eines Analytischen Realismus im ersten Teil des Bands systemischen Charakter erhält. Maßgeblich bei all dem bleibt ein soziologischer Zugriff, der sich sträubt, Literatur ohne gesellschaftliche Voraussetzungen und politische Folgen zu betrachten. Dieser Ansatz hat in sich, dass Probleme um Handwerk und Genre, eigentlich Ästhetisches also, kürzer kommen als jedenfalls nötig. Andererseits kann kein Theoriewerk – gleich welches, zu gleich welchem Thema – alles leisten. Was also leistet »Diskursdisko«? Continue reading »

Nov 132019
 

Der Zusammenhang von Kinderdichtung, Poesie und Realismus

in der Epik eines Dramatikers

Der Dramatiker heißt Hacks, und er war einer. Alles darüber hinaus tat er bloß nebenbei. Er schrieb für die Aufführung und für Erwachsene; das Epische lag ihm so wenig[1] wie das Kindliche. Dass er dennoch nicht unterließ, Kinderliteratur (und vorrangig epische (und vorrangig erstklassige)) zu schreiben, hat Ordnung, aber eine hintergründige. Nichts widersetzt sich energischer der Ordnung als ein Kinderzimmer. Ich würde daher gern etwas aufräumen. Continue reading »

Mai 282019
 

Zur politischen Intention des Märchens »Liebkind im Vogelnest«[i]

Der junge Mann heißt Leberecht, das Mädchen Liebkind, der Hund heißt Kasper. Wir haben, wie so oft bei Hacks, eine Dreiteilung. Und wie ebenfalls üblich bedeutet diese hier wieder was Eigenes. Selten hat Hacks dieselbe ideelle Konstruktion zweimal verwendet, so dass man seine Werke nicht nach stets demselben Schema deuten kann. Auch »Liebkind« lockt den routinierten Hacks-Leser ein wenig auf die falsche Spur. Einiges erkennt man sogleich, doch dann schaut man wieder hin und sieht, es geht noch um mehr. Continue reading »

Okt 012018
 

»The Man Who Killed Don Quixote«

Die langwierige Entstehungsgeschichte dieses Films hat uns immerhin einen Unfall erspart: den ursprünglich geplanten Johnny Depp in der Rolle des Ritters von der traurigen Gestalt. Vielleicht musste sich das alles so hinziehen, ehe Terry Gilliam den Film mit Jonathan Pryce und Adam Driver besetzen konnte, die sich so organisch in die Handlung einpassen, als ob das alles schon immer für sie arrangiert war. Continue reading »

Sep 192018
 

Naturalistisches Kino: »Utøya 22. Juli«

Ein elaboriertes Filmwerk, das ein so ernstes wie toxisches Thema mit raffinierter Kameraarbeit angeht, mit intensiven Toneffekten und einer schier unglaublichen Leistung seiner Hauptdarstellerin Andrea Berntzen, deren Spiel sich am frühvollendeten Genie von Saoirse Ronan und Dakota Fanning messen kann, musste nicht scheitern. Voraussetzung war, dass Regisseur Erik Poppe beim Zugriff auf den Stoff ein ähnliches Taktgefühl wahrt wie in der ästhetischen Umsetzung. »Utøya 22. Juli« ist ein Höhepunkt des naturalistischen Kinos. In diesem Lob steckt ein Tadel, oder umgekehrt. Es kommt vor, dass einer scheitert, weil er alles richtig gemacht hat. Continue reading »

Sep 072018
 

Kunst, Spektakel und Revolution No. 6

[Rezension]

Theater Realität Realismus – ein Subjekt, ein Objekt und deren Beziehung. Nur nicht die Beziehung schlechthin, sondern sie ist hier zugleich Forderung. Denn ebenso wie jedes andere Subjekt kann Theater gar nicht anders als sich auf Wirklichkeit zu beziehen. Der Realismus aber regelt, auf welche Weise dieser Bezug herzustellen sei, indem er die Forderung aufstellt, dass ein Erfassen oder Abbilden oder Widerspiegeln der Realität unbedingtes Kunstziel sei. Es gibt adäquates und weniger adäquates Abbilden. Durch den Realismus wird die Realität zum Maßstab. Zum Maßstab allerdings der Erkenntnis, nicht zwingend auch zum Maßstab politischer Norm. Ein Werk kann einen intimen Komplex einer Zeit empfindlich anrühren und so viel Realismus befördern, dass es selbst zum Politikum wird, und kann sich dennoch, grundsätzlich, affirmativ zur eigenen Zeit verhalten. Das vernichtende Urteil der »Heiligen Johanna« und das profunde Einverständnis von »Adam und Eva« trennt mehr als es eint, gleichwohl wird man beide Werke nicht anders denn realistisch nennen können. Um diesen Komplex, der sich nach verschiedenen Seiten konkret ausspitzen lässt, kreisen die 9 Beiträge dieses Heftes, das auf eine Konferenz zurückgeht, die am 22. und 23. Juli 2016 in Berlin stattfand, organisiert von der Arbeitsgruppe Kunst und Politik, und in das es leider nicht alle dort gehaltenen Vorträge geschafft haben. Continue reading »

Mrz 212018
 

Wozu braucht man einen Hacks? Zum 90. Geburtstag eines abwesenden Dichters

Über den sollte Raoul Peck mal einen Film machen, sage ich in einem jener Momente, worin es schon aus Gründen der Uhrzeit bloß noch um die Punchline geht. ›Le jeune Hacks‹, da klingelt was. Saxophon in Schwabing, Party in der Berliner ›Möwe‹, Sex, Cognac, Verbote durch Adenauer und Ulbricht. Während der Abspann läuft, darf geweint werden: Was ist bloß aus dem Mann geworden? Continue reading »

Mrz 092018
 

In »Mollyʼs Game« führt Aaron Sorkin Regie, wie sie im Drehbuch steht

Die Geschichte ist echt. Doch wen interessiert das schon? Molly Bloom selbst gewiss, und dann vielleicht noch Aristoteles. Wir kommen drauf zurück.

Ursprünglich ist Molly Leistungssportlerin im Freestyle Ski, aber sie kann aufgrund einer Verletzung die Karriere nicht fortsetzen. Also studiert sie Jura und gerät um 2004 in die High-Stakes-Pokerszene von Los Angeles. Sie gibt das Studium auf, verdient viel Geld, erlernt das Geschäft. Von Konkurrenten verdrängt macht sie Continue reading »

Feb 152018
 

»Alles Geld der Welt« bringt den Entführungsfall Getty auf die Leinwand

Wohl seit Beginn der Neunziger leidet Ridley Scott am Ruf, nie wieder auf das Niveau seiner frühen Streiche »Alien« (1979) und »Blade Runner« (1982) gelangt zu sein. Dieser Ruf ist ebenso ungerecht wie berechtigt. Ungerecht, weil seither ein halbes Dutzend weiterer Scott-Filme durchaus gutes Kino waren und mit dem »Marsianer« (2015), wie ich glaube, ein Werk gelungen ist, das jedem Vergleich standhielte. Berechtigt jedoch, weil der frühe Scott eine ästhetische Linie markiert hatte, die er seit langem verlassen hat. Scott ist heute mehr Könner als Künstler. Was er anpackt, wird was, und selbst, wenn er Mist baut, bleibt er noch genießbar. Aber es fehlt zu oft die besondere Idee der Gestaltung, die die Bilder nicht bloß schönmacht, sondern selbst zur Mitteilung werden lässt. Es fehlt der Stil. Continue reading »

Jan 142018
 

In dieser Woche kommt mit »Your Name« (»Kimi no na wa«) ein Meisterwerk in die deutschen Kinos

Taki, ein Schüler aus Tokyo, wacht eines morgens im Körper der gleichaltrigen Mitsuha auf, die in der Kleinstadt Itomori lebt. Mitsuha passiert dasselbe mit Taki. Im Rhythmus von Erwachen und Schlafen wechseln die beiden ihre Körper. Auf die Art erfahren sie voneinander, ohne sich zu begegnen. Es beginnt ein kompliziertes Spiel der Kommunikation und Interaktion zweier Menschen und ihrer Leben. »Sie laufen zusammen, sie nehmen Form an, sie verdrehen und verfilzen sich, werden manchmal wieder aufgeknüpft, getrennt und neu verwoben.« Mit diesen Worten beschreibt Hitoha, Mitsuhas Großmutter, die Kunst des Kumihimo, und es ist zugleich die Handlung von »Your Name«, auf ihren knappsten Ausdruck gebracht. Continue reading »

Aug 072017
 

Erste Überlegungen zu Sorrentinos »The Young Pope«

Und plötzlich ist da dieser junge Papst, der als Waisenkind aufgewachsen ist, die Eltern aber nicht verloren hat, sondern von ihnen verstoßen wurde, der die Liebe folglich im Leeren sucht, während er zugleich Liebe zurückweist, der als Mensch mit steter Ironie und eher modern auftritt, in seiner Kirchenpolitik aber das genaue Gegenteil ist, der eine Fluppe nach der nächsten raucht, ganz so, als wolle er im aufsteigenden weißen Rauch immer wieder den siegreichen Moment des Konklaves festhalten. Warum ist das alles so gut, so gut gedreht, so gut erzählt, warum beschäftigt es einen so nachhaltig?

Der Teufel weiß es und kann es nicht begründen. Gott kann es begründen, weiß es aber nicht. Von den ganz weltlichen Dingen nämlich Continue reading »

Jun 242017
 

»Meta Morfoss« & das Motiv der Metamophose in den Überlieferungen[i]

 

Der Name

Die Geschichte handelt von einem Mädchen, das die Fähigkeit besitzt, seine Gestalt zu wechseln, von den Schwierigkeiten, die die Gesellschaft damit hat, sowie darüber, auf welche Weise beide, das Mädchen und alle anderen, damit leben können. Der Name des Mädchens ist derselbe wie der des Märchens: Meta Morfoss.

Es bedarf keiner besonderen Ausbildung, ihn zu entschlüsseln. Ebenso wenig täte hier ein fundierter Zugriff auf Ovids »Metamorphosen« Not. Abgesehen vom Titel selbst enthält die Erzählung, soweit ich sehe, keine spezifischen Anspielungen auf diesen antiken Katalog, zumal die Differenzen zwischen Meta und den Gestalten Ovids recht groß sind. Mitgedacht werden als Hintergrund kann das Werk Continue reading »

Mai 082017
 

Vor fünf Jahren starb der Zeichner und Kinderbuchautor Maurice Sendak

Künste können nicht miteinander. Wo zwei sich treffen, muss eine regieren. Was aber fängt jemand an, der beides ist, Maler und Poet? Biographisch bleibt bei Maurice Sendak kein Zweifel: Er hat manchmal gedichtet und immer gemalt. Die Poesie begleitet ihn eine Weile, dann nicht mehr. In den letzten 30 Jahren schreibt er zwei Bücher, eins davon selbst. Continue reading »

Feb 222017
 

 

Villeneuves »Arrival«

Wer breitbeinig flaniert, lädt dazu ein, dass man ihm in die Kniekehlen tritt. »Arrival«, dieser Film über die Sprache, das Universum und den ganzen Rest, scheint viel zu wollen. Daher darf man auch mehr von ihm wollen. Indessen ist, wer nicht vorhat, ihn wie einen gewöhnlichen Film zu behandeln, gezwungen anzugeben, wie er Filme gewöhnlich behandelt. Continue reading »