Sep 072018
 

Kunst, Spektakel und Revolution No. 6

[Rezension]

Theater Realität Realismus – ein Subjekt, ein Objekt und deren Beziehung. Nur nicht die Beziehung schlechthin, sondern sie ist hier zugleich Forderung. Denn ebenso wie jedes andere Subjekt kann Theater gar nicht anders als sich auf Wirklichkeit zu beziehen. Der Realismus aber regelt, auf welche Weise dieser Bezug herzustellen sei, indem er die Forderung aufstellt, dass ein Erfassen oder Abbilden oder Widerspiegeln der Realität unbedingtes Kunstziel sei. Es gibt adäquates und weniger adäquates Abbilden. Durch den Realismus wird die Realität zum Maßstab. Zum Maßstab allerdings der Erkenntnis, nicht zwingend auch zum Maßstab politischer Norm. Ein Werk kann einen intimen Komplex einer Zeit empfindlich anrühren und so viel Realismus befördern, dass es selbst zum Politikum wird, und kann sich dennoch, grundsätzlich, affirmativ zur eigenen Zeit verhalten. Das vernichtende Urteil der »Heiligen Johanna« und das profunde Einverständnis von »Adam und Eva« trennt mehr als es eint, gleichwohl wird man beide Werke nicht anders denn realistisch nennen können. Um diesen Komplex, der sich nach verschiedenen Seiten konkret ausspitzen lässt, kreisen die 9 Beiträge dieses Heftes, das auf eine Konferenz zurückgeht, die am 22. und 23. Juli 2016 in Berlin stattfand, organisiert von der Arbeitsgruppe Kunst und Politik, und in das es leider nicht alle dort gehaltenen Vorträge geschafft haben.

Man kann wohl sagen, dass den Beiträgen im Ensemble gelingt, die klassischen Probleme des Realismusbegriffs (Implikationen bezüglich Kritik oder politischer Praxis, Verhältnis zum Naturalismus, zum Phantastischen, zu den Gattungsregeln usw.) umfassend luzide zu machen, und das ist ein Verdienst unter Zeitumständen, worin bereits ein Verdienst ist, den Begriff des Realismus überhaupt zu handhaben. Darin sowie im Versammeln zweier elementarer, sich widersprechender Grundströmungen des Kommunismus – deren Unmöglichkeit, einander weiterzuhelfen, hier fassbar dokumentiert ist – liegt die Leistung und der Wert dieser Publikation.

Am Anfang der Konferenz stand, wie ihr Leiter Jakob Hayner berichtet, eine »Unzufriedenheit, was den Zustand des politischen Theaters betrifft« (12). Das Theater von heute bewege sich »irgendwo zwischen einer belanglosen Beschaulichkeit […] und einer Art kritischen Kritik«, wobei »eine bestimmte akademische linke Kritik an vielen Theatern sehr hofiert wird – eine Kritik, die auch einen bestimmten politischen Anspruch hat« (ebd.). Es fällt leicht zu identifizieren, was hier gemeint ist: jener zutiefst affirmative Kunstbetrieb, der sein Desinteresse an Fragen des Klassenkampfs in einem Dauergeplauder über Migration und Rassismus, Geschlechter und Minderheiten, Globalisierung, Umweltschutz und Digitalisierung verbirgt. Inklusion tritt an die Stelle des Befreiungskampfs. Dass man keines dieser Problem ohne Rücksicht auf die kapitalistische Wirklichkeit verhandeln kann (auch wenn sie sich nie ganz in dieser Beziehung erschöpfen und nicht mit dem scheußlichen Ausdruck Nebenwidersprüche belegt werden sollten), dürfte der Hintergrund sein, aus dem Hayner jener affirmativen Art der Politisierung attestiert, dass sie »in gewisser Weise an der Oberfläche bleibt« (ebd.).

Damit ist der Schnitt benannt zwischen der gegenwärtig dominierenden Form von Gesellschaftskritik und der Notwendigkeit (sowie dem Anliegen des Heftes), über Realismus zu reden. Hayner bringt ganz nebenbei eine Definition des Realismus in Anschlag, die in ihrer Kompaktheit schon ganz und gar treffend ist. Er spricht von »Materialangemessenheit« (13), und das kann eigentlich bloß zweierlei bedeuten: Realismus ist ein Anspruch, der außerhalb des Kunstwerks liegt, und er lässt sich nicht durch ein Arsenal erlaubter Mittel bestimmen, die von einer Schar nicht-erlaubter Mittel abzugrenzen wären. Das Heft, sagte ich, versammelt Autoren mit tiefen Differenzen. Das hier markiert eine davon. Unlustig, das ganze Heft nachzuerzählen, möchte ich anhand herausgegriffener Beiträge den Linien folgen, die durch diese Differenzen gezeichnet werden.

Lukas Holfeld benutzt das historische Verhältnis avantgardistischer und realistischer Kunstströmungen als Linse, in der eine Menge eben jener Facetten und also Widersprüche aufscheint, die den Realismusbegriff ausmachen. Sein Beitrag steht daher zu Recht am Anfang der Publikation. Ausgiebiger behandelt werden darin zwei Fragen, nämlich die nach dem Verhältnis von Realismus und politischer Praxis (was den Widerspruch zwischen Avantgardismus und Realismus selbst bezeigt) sowie die nach dem Verhältnis des Künstlers zur objektiven Realität.

Holfeld bringt den Avantgardismus in Zusammenhang mit der Krise des Subjekts im imperialistischen Zeitalter: »Der Dichter sieht sich selbst in Frage gestellt« und kann »keine großen Erzählungen mehr liefern. Da das Subjekt der Kunst beschädigt ist, ist eine genaue Unterscheidung zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wirklichkeit nicht mehr möglich« (7). Das stimmt, denke ich, wenn man es als Erklärung für das ja in der Tat nicht zu übersehende Aufkommen einer spätbürgerlichen Literatur hernimmt, die sich fast ausschließlich noch mit Subjektfragen beschäftigt. Von der anderen Seite her wirft es die Frage auf, ob ein Verflechten von Imagination und Wirklichkeit, von Traum und Wahrnehmung realen Geschehens in einer Erzählung, einem Drama oder einem Film als solches schon unfähig macht, realistische Kunst zu produzieren. Holfeld weist darauf hin, dass »[d]iese Position [das Ineinanderübergehen von Traum und Wirklichkeit – F.B.] nicht notwendig Bestandteil des avantgardistischen Versuchs« (9) sei. Das ist, meine ich, zu defensiv gedacht. Realismus lässt sich nicht auf der Stoffebene ermitteln, sondern allein auf der der Bedeutung. Weder schließt er das Phantastische (als in der poetischen Welt Wirkliches, in unserer Welt Unwirkliches) noch die Traumerzählung (als sowohl in der poetischen als auch in unserer Welt Unwirkliches) aus. Das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit kann als Verhältnis von Utopie und Realität verstanden werden, Welten erschaffende Phantasie eine Metapher für künstlerische Arbeit oder politische Gestaltung sein, ein innerer Monolog dazu dienen, einen realen Prozess zu vertiefen und zu reflektieren, oder dazu, Elemente zu etablieren, die danach in Handlungen (also Wirkliches) umschlagen. Die Frage ist nicht, ob geträumt wird, sondern die nach dem Inhalt des Traums. Wie verallgemeinerbar ist der, wie relevant für die Fragen der Zeit, wieviel lässt sich daraus über das Werden des Menschlichen entnehmen? Ich halte für sinnvoll, zum mindesten einen inneren und einen äußeren Realismus zu unterscheiden, in welchem Verhältnis letzterer durch strenge Gegenständlichkeit gekennzeichnet ist, während der innere Realismus das Verhältnis von Subjekt und Objekt selbst, und zwar auf realistische Weise, zum Thema macht. Das öffnet ein Feld, das sich zwischen dem Musenanruf bei Homer, den Hexen in »Macbeth«, Don Quixotes Einbildungen, den Sittengemälden Balzacs, dem Was-wäre-wenn von Utopie oder Dystopie und allerlei inneren Reisen, Imaginationen, Träumen bei Thomas Mann, Proust, Bierce, Sendak oder Jostein Gaarder aufzieht und in dessen kaum absteckbarer Weite die Frage des Realismus konkret, nach dem jeweils erzielten Resultat zu beantworten wäre.

Von dieser Frage nach dem rein theoretischen Status des Realismusbegriffs abgesehen ist gewiss zutreffend, dass eine zunehmende Unsicherheit über die Realität zu einem Schwund realistischer Haltung und schließlich zu einer Kompensation dieses Schwunds durch Aktionismus führt. »Die Kunst«, fasst Holfeld das innere Bekenntnis des Avantgardismus zusammen, »soll nicht mehr Wirklichkeit darstellen, sondern soll reinste Wirklichkeit sein« (7). Es komme dem Avantgardismus darauf an, »Wirklichkeit unmittelbar zu bearbeiten oder eine unmittelbare Haltung zu ihr zu sein« (9), während im Realismus die Kunst Wirklichkeit »repräsentiert« und das »in der Form der Widerspiegelung« auch soll (ebd.). Auf den Schultern dieser Bestimmung nimmt Holfeld eine Zuordnung vor, die, auch wenn sie am wirren Stoff der Einzelfälle zahlreiche Gegenbespiele hat, gedanklich konsistent und mit aristotelischem Vokabular als im Umriss (typô) gültig zu bezeichnen wäre. (Von ein paar Leuten, heißt das, die das Unvereinbare als vereinbar denken, sollte man sich das Vergnügen einer gut gefundenen Kongruenz nicht nehmen lassen.) In der realistischen Position, schreibt Holfeld also, schwinge meist »eine konservative, bewahrende Haltung« (9) mit. »Es dürfte kein Zufall sein, dass die realistische Position oftmals von Kommunisten vertreten wird, die einer Vorstellung von Staatssozialismus anhängen […], während die avantgardistische Position oftmals mit föderalistischen, dezentralen Organisationsmodellen verbunden ist« (10).

Die eigenartig tautologische Wortbildung »Staatssozialismus« einmal beiseitegelassen, trifft der Gedanke so tief, dass er praktisch alles Restliche am Begriff des Realismus unter sich ordnet. Dass Realismus für Kommunisten so interessant ist, liegt daran, dass sie im Gegensatz zu Leftcoms und anderen Gegnern von Staatlichkeit ihre Utopie nicht allein aus der Kritik entwickeln müssen, sondern bereits einen Stoff haben, an dem sie modellhaft werden können. Dieser Stoff ist die stattgehabte Geschichte des Sozialismus, deren Erfahrungen (und das meint nicht bloß die Erfahrung ihrer Niederlage) im Denken aufgehoben werden können. Wem die Realität schon wieder Angebote machen kann, der ist in der Lage, schon wieder Realismus zu denken. Wer auch heute, im Jahr 2018, sich stellt, als seien wir noch im Jahr 1848, da die Idee einer Gesellschaft jenseits kapitalistischer Verhältnisse ein bloßes Abstraktum war und nur sein konnte, wer die Erfahrungen des realen Sozialismus entweder verwirft oder ignoriert, kann konsequenterweise wenig mit dem Konzept des Realismus anfangen, weil er dessen konservative Tendenz nicht einzuordnen vermag. Es ist das Kennzeichen der Leftcoms, dass sie zwischen einem Konservatismus, der sich auf sozialistische Verhältnisse bezieht, und einem, der sich auf die kapitalistische Gegenwart bezieht, nicht unterscheiden können.

Es geht also, für uns im deutschsprachigen Raum, um die Frage, ob eine DDR stattgefunden hat. Dieser Gegensatz, den Lukas Holfeld präzis formuliert – und in dem er, wenn ich ihn richtig verstehe, eine mittlere Position einnehmen will –, ist nun nicht nur bezeichnend für das Verhältnis von Avantgardismus und Realismus, er zieht sich durch das Heft selbst. Deutlich wird das etwa am Beitrag »Against Facts?« von Tina Turnheim, der mir in vielen Punkten, und insbesondere im letzten Abschnitt, durchaus in den Kram passt. Dennoch ist der primäre Begriff, der den gesamten Aufsatz strukturiert und einfärbt, exemplarisch für eine Haltung, die Zukunft bloß als Negation des Bestehenden denken möchte. Turnheim stellt, Brechts Fatzer-Fragment aufgreifend, einen »Realismus der Möglichkeit« dem »Kapitalistischen Realismus« entgegen (22) und versteht darunter die Differenz zwischen dem, »was möglich ist«, und dem, »was möglich sein könnte« (ebd.). Letzteres ist tatsächlich eine folgenreiche Differenz, die auf nichts Geringeres als den Gegensatz von Sozialreform und Revolution abzielt. Es geht darum, ob politisches Denken in der Kunst allein am Vorhandenen sich abarbeitet oder im utopischen Griff darüber hinausgeht. Nur kann (und muss) dieser Griff über den Kapitalismus hinaus heute schon mehr sein als bloß utopisch, da mit dem einmal vorhandenen Sozialismus sozialistische Realität bereits in der Welt war, wozu (oder wenigstens: wogegen) sich jener Griff zu verhalten hätte. Jene Gegenwelt dessen, was möglich sein könnte, in Differenz zu dem, was im Rahmen des Vorhandenen möglich ist, kann in dieser blanken Unschuld heute gar nicht mehr hergestellt werden. What has been seen cannot be unseen. Einer Vorstellung, die jene Naivität vorsätzlich wiederherstellen will, korrespondiert folgerichtig, dass Wirklichkeit und kapitalistische Wirklichkeit schlechtweg identifiziert werden.

Aus dieser weltanschaulichen Verengung folgt ästhetisch die Liquidation des Realismus, und zwar auf dem Weg seiner Ausweitung. Indem aus dem Bereich der Zukunft (Kommunismus/Sozialismus) einmal vorhandene Realität (Sozialismus) vollständig abgezogen wird, gerät die politische Idee so sehr ins Abstrakte, dass die freie Beschäftigung mit ihr schon wieder als Realismus ausgegeben werden kann. Damit beraubt man nicht bloß die Kunst ihres notwendig utopischen Charakters und nimmt der Utopie ihre unvermeidlich subjektiven Anteile – Ein solcher Realismus sähe sich auch der Pflicht enthoben, weiterhin auf Realität bezogen zu sein, was die Frage aufwirft, wozu dann überhaupt noch ein Begriff wie Realismus nötig sei. So wichtig das ist, was hinter dem Gedanken eines »Realismus der Möglichkeit« steht – nämlich dass auch realistische Kunst ohne utopischen Gehalt platt bleiben muss und Utopie ein Motor insbesondere dramatischer und theatralischer Kunst sei –, so wichtig bleibt die Forderung, dass man die Utopie nicht liquidiere, indem man sie zur Realität erklärt, wie auch die Realität nicht kille, indem man sie zur Utopie degradiert.

Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die Beiträge von Jens Mehrle und Kai Köhler, deren Denken davon geprägt ist, dass sie den historischen Sozialismus als Stoff voraussetzen, also zumindest schon mal nicht in den Aporien der kapitalistischen Welt hängenbleiben. Wer über diese Aporien hinausgegangen ist, mag noch Irrtümer produzieren, aber es wären fortgeschrittene Irrtümer. Gleichwohl beraubt man, zurückgezogen auf diese sublime Position, die eigenen Worte ihrer Reichweite, insbesondere in einer Zeit, worin die Erinnerung an die konkreten Potentiale einer sozialistischen Gesellschaft ausgetrieben oder durch dämonisierende Deutung abgekürzt sind. Was fängt man, fragt Mehrle, auf dem Höhepunkt des imperialistischen Zeitalters mit Kunst der DDR, mit sozialistischer Kunst, also etwa mit den Dramen von Peter Hacks an? Die Frage hat Gewicht, denn Hacksens Stücke befassen sich mit Problemen, die wir überhaupt erstmal wieder haben müssen. »Sozialistische und klassische Dramen«, antwortet Mehrle, »wären als Gegenentwürfe zur Jetztzeit, als Realität einer höheren Zivilisationsstufe zu begreifen, indem der Unterschied der Verhältnisse nicht eingeebnet, sondern ausgestellt würde« (40).

Auf diesem gesellschaftlichen Verständnis ruht Mehrles ästhetische Auffassung, die sich in diesem Fall als Kritik am verlorenen Zusammenhang von Drama und Theater äußert. Er greift damit ein Thema auf, das den Dramaturgen Hacks seit seinem Münchner Studium bei Arthur Kutscher beschäftigt hat und das sich durch die »Maßgaben der Kunst« desgleichen zieht wie durch die von ihm herausgegebene »Berlinische Dramaturgie«. Hier konzentriert Mehrle sich auf das postdramatische Theater wie das Regietheater als historische Versionen jener Art von Theaterkunst, die vom Drama nichts mehr wissen will. Zu tun mit dem Realismus hat das vor allem deshalb, weil ein Theater, dem der Text allenfalls noch Materialcharakter besitzt, »das Wollen der Dramen mit Eingriffen in die Handlung« entstellt »statt es zu ergründen« und diese damit »ihrer Totalität [beraubt]« (40). In den erwähnten Richtungen treffe sich »eine Unklarheit darüber, was unter einem Drama überhaupt zu verstehen sei«, mit der Gewissheit, »dass es sich um eine historische und überwundene Kunstform« (36) handle. Die Forderung nach Totalität kann nur erfüllt werden, wenn die Gattung Drama nicht zerstört wird, so wie der Sozialismus, lässt sich hinzufügen, seine in ihm ruhenden Potentiale nur durch Entwicklung und nicht durch Liquidation zur Wirklichkeit bringen kann. Realismus von Drama und Theater – Mehrle sagt es nicht wörtlich, aber es lässt sich seinem Text entfolgern – besteht nicht allein durch Wahl und Bewältigung des Themas in beiden Medien, sondern der Zusammenhang zwischen Drama und Theater ist selbst realistisch. So wie ein Drama, das von der Welt nichts wissen will, scheitern muss, wird ein Theater scheitern, das sich nicht mehr fürs Drama interessiert.

Der Begriff der Totalität erscheint auch bei Kai Köhler. Er stellt die Frage, wie Dramenform und Forderung nach Realismus zusammenhängen. Realismus entsteht nicht als Informationsmenge, sondern liegt ebenso in der Form. Es gehe »nicht um den Versuch, möglichst viel an Wirklichkeit möglichst unvermittelt auf die Bühne zu bringen« (46). Erst der Zusammenhang macht das Material der Wirklichkeit realistisch. Das Kunstwerk muss etwas zu Tage bringen, das sich nicht auch unmittelbar aus der Anschauung der Gesellschaft ergibt, und das geht nur auf spekulativem, Zusammenhang herstellendem Wege. Dieser Zusammenhang aber kann im Zusammenhang der Kunst nur ein ästhetischer sein. Das ordnende Prinzip der Gattung erscheint als einzige Möglichkeit, in der Kunst Inhalt zu ordnen. Das ist weit mehr als bloß die bekannte Kritik am Naturalismus. Hinter der Forderung nach Genreordnung lauert ebenso gut der Gedanke staatlicher Ordnung. »Es ist nicht das scheinbar Unmittelbare, das lebensnahe Detail, das Realität erschließt, und auch nicht das scheinbar Improvisierte, sondern die bewusst gehandhabte Dramenform. Wer sich ästhetisch dem Zufall und der Improvisation ausliefert, wird vom Stoff beherrscht; wer hingegen den Stoff formt, beherrscht ihn« (51). Lenin, wenn er was von Dramatik verstanden hätte, hätte es nicht besser sagen können.

Ich habe von fortgeschrittenen Irrtümern gesprochen, muss also noch liefern. Kein Ansatz ist, keiner könnte je frei sein von Schwachstellen. Die Bindung von Realismus und Gattungsform erweist sich als produktiv, aber sie kann sich auch in die eingangs abgelehnte Vorstellung auswachsen, dass Realismus durch Ausübung und Verzicht bestimmter Stilmittel definierbar sei. Wer Genres bloß als Regeln auffasst, unterläuft ihre komplexe und paradoxe Natur. Gattungs- und Realismusfrage fallen eben nicht einfach zusammen, wie Hacks an einer Stelle meinte (HW XIV, 8) – und an anderen Stellen schon weiter war, etwa wenn er Forderung der Gattung und die der Zeit als unauflösbaren Widerspruch bezeichnet (HW XIV, 11) oder all jene Richtungen, die die Gattung den Forderungen der Zeit opfern – also gerade unterm Argument eines gesteigerten Realismus die ästhetische Form angreifen – im Begriff der Romantik zusammenbringt: »Klassik und Romantik unterscheiden sich wie Josephs Handeln und Pharaos Traum. Beide untersuchen, mit Ernst, das Verhältnis ihrer Zeit zu ihrer Kunst, – aber worauf hin? Jene, inwieweit die Zeit zur Kunst, diese, inwieweit die Kunst zur Zeit paßt« (HW XIII, 133).

Wenn also die sozialistischen Produktionsverhältnisse eine Breite zur Verfügung stellen, auf der Gattung und Realismus (wieder) ein produktives Verhältnis eingehen können, dann folgt auch daraus nicht gleich die Identität beider Prinzipien. Sinnvoller schon scheint, das Verhältnis in vermittelter Einheit festzuhalten: Die realistische Maßgabe ist keine genuin ästhetische, sie kommt von außen, aber es ist gut, dass sie kommt.

Theater Realität Realismus.
Kunst, Spektakel und Revolution N°6.
Hrsg. v. Arbeitsgruppe Kunst und Politik. Hamburg 2017

in: Hacks Jahrbuch 2018. Hrsg. v. Kai Köhler. Berlin (Aurora) 2018 S. 256–263

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