Mai 282019
 

Zur politischen Intention des Märchens »Liebkind im Vogelnest«[i]

Der junge Mann heißt Leberecht, das Mädchen Liebkind, der Hund heißt Kasper. Wir haben, wie so oft bei Hacks, eine Dreiteilung. Und wie ebenfalls üblich bedeutet diese hier wieder was Eigenes. Selten hat Hacks dieselbe ideelle Konstruktion zweimal verwendet, so dass man seine Werke nicht nach stets demselben Schema deuten kann. Auch »Liebkind« lockt den routinierten Hacks-Leser ein wenig auf die falsche Spur. Einiges erkennt man sogleich, doch dann schaut man wieder hin und sieht, es geht noch um mehr.

Das Thema des Märchens hängt fest an seiner Entstehungszeit.[ii] Ich muss das begründen, denn eine Tagung, auf der es um das Verhältnis Hacksens zur Revolution gehen soll, bringt – wir haben es gehört – hauptsächlich Vorträge hervor, die sich mit seinem Begriff der Revolution oder dem praktischen Verhältnis zum historischen Vorgang beschäftigen. Revolution wird hier verstanden als Akt der Umwälzung von einer Formation zur nächsten. Davon ist »Liebkind« und ist die Lage, in der es geschrieben wurde, weit entfernt. Der Sozialismus als gesellschaftliche Struktur war um 1984 fest etabliert und lange schon Tatsache. Ich verstehe also den Begriff der Revolution hier etwas anders. Thema des Märchens ist die Notwendigkeit einer Restauration der Revolution, aber nicht in dem Sinne, dass eine Umwälzung zum Sozialismus hin noch angegangen werden müsste, sondern im Sinne einer Gegen-Gegen-Revolution, einer Wiedergewinnung derjenigen Tendenz, die in der sozialistischen Gesellschaft als einmal angedachte liege, nämlich der kontinuierlichen Überwindung und Überschreitung der kapitalistischen Gesellschaft in Form einer Gestaltung nach innen und eines nicht nachlassenden Kampfs nach innen sowie gegen außen.

Meine Behauptung ist, dass in dem Märchen drei Schichten übereinanderliegen. Einmal wird über die Raumstruktur und die Lebensverhältnisse der Figuren der zur Entstehungszeit des Märchens gegenwärtige Kampf der Systeme mit sozialistischer und kapitalistischer Produktionsweise idealtypisch dargestellt. Keine kleine Sache, die man da in diesem Buch für die Kleinen liest, dennoch für Hacks ein gewöhnliches Verfahren.[iii] Zweitens wird aber dieses Verhältnis als krisenhaft geschildet. Es steht nicht gut um den großen Garten; das sozialistische Verhältnis droht besiegt zu werden. Auf der dritten Ebene wird die Frage verhandelt, wie dieser Lage begegnet werden soll. Die entfaltete Gesellschaft muss sich in ihre Kampfform verengen, das Postrevolutionäre, um ein Wort von Hacks zu gebrauchen, wieder zum Revolutionären werden. In diesem Zusammenhang hat die Verstoßung Liebkinds durch Leberecht sowie ihre Rückkehr als Georg einen genauen Sinn.

Ich möchte diese drei Ebenen nacheinander durchsprechen; so, scheint mir, lässt sich die Anlage des Märchens am ehesten luzid machen. Es versteht sich, dass damit nicht seine ganze Fülle durchleuchtet werden kann, weil das Tagungsthema – Hacksens Begriff von Revolution – einen unvermeidlichen Filter ausmacht, der andere Beziehungen in den Hintergrund treten lässt. Das Verhältnis der Geschlechter z.B. oder gleich die Frage nach der Natur der Liebe, beides verbunden in der Überlegung, wie Mädchen und wie Jungen lieben; die psychoanalytische Komponente in der Trias Liebkind–Kasper–Leberecht (die ich kurz streifen werde) und natürlich das philosophische Element in Form eines Hacksschen Dauerthemas: Individuum zwischen Ideal und Wirklichkeit, d.h. Liebkinds Notwendigkeit, ein Anderer zu werden, um dieselbe bleiben zu können.

Ausklammern desgleichen will ich Fragen der Form, auch wenn sie von einiger Wichtigkeit sind. Die Überlegung etwa, ob »Liebkind« überhaupt ein Roman genannt werden kann, wie der Paratext es tut.[iv] Die auffällige Ansammlung von Stellen ohne weiteren Bezug zur Fabel sowie das ziemlich verplätscherte Ende der Erzählung, was nach Zeilenschinderei riecht und eigentlich untypisch für Hacksens literarisches Temperament ist, wären gesondert zu diskutieren. So knapp es irgend geht, will ich die Doxographie halten und setze die gut dokumentierte Menge der Äußerungen von Hacks über Kunst und Politik sowie Kunst und Revolution als mehr oder weniger bekannt voraus.

Die Skizze, die ich im Hinterkopf halte, wäre grob die, dass Hacks zu Beginn der sechziger Jahre zwischen den Attributen revolutionär und sozialistisch zu unterscheiden beginnt, in dem Sinne, dass er den Sozialismus als reich entfaltete gesellschaftliche Struktur mit inneren Widersprüchen und Bewegungsformen auffasst. Ästhetisch wird damit die Emanzipation von Aufklärung und Didaktik zur Voraussetzung des klassischen Anspruchs. In der späten Phase des Sozialismus reagiert Hacks auf die bemerkliche Krise, indem er sich mit dem Erfordernis einer notwendigen Radikalisierung und damit wiederum Verengung des Sozialismus, mit dem Wiedergewinnen von Kampfformen in den Lebensformen also, beschäftigt. Er findet darauf keine eindeutige Antwort, doch immer scheint es irgendwie darum zu gehen, Wehrhaftigkeit durch Kampfform wiederzuerlangen, ohne den Reichtum der Lebensform ganz zu verlieren. Vorgezeichnet bereits 1971 durch Numas »[…] in nichtigen Dingen Freiheit, / In wichtigen Wissenschaft« (SD, 152) steht ein Jahrzehnt später »Barby« (1982) als ungewöhnlich schwermütiges Stück an eben der Stelle, wo sich auch das zwei weitere Jahre später geschriebene »Liebkind im Vogelnest« (1984) befindet. Beide handeln von der (notwendigen) Rückkehr des Revolutionären und den (möglichen) Verlusten, die damit verbunden wären. »Meine Feinde«, sagt Barby, »haben nichts zu lachen. Aber verloren sind, die mich lieben.« (HW VI, 320)

 

Die Fabel

Ich habe kurz den Stoff vorzustellen, den ich verarbeiten will. Die Handlung des Kinderromans »Liebkind im Vogelnest« geht, Episoden und Feinstruktur der einzelnen Szenen beiseite, etwa so:

Liebkind wohnt mit ihrem Freund Leberecht und dem Hund Kasper im großen Garten, der sich in drei kleinere unterteilt: den französischen, den englischen, den Gemüsegarten, und von einem Gartengott regiert wird. Eines Tages verschwindet der Gartengott, weil er es satthat, sich nicht auf seine Untertanen verlassen zu können. Sein Verschwinden wird von der feindlichen Nachbarin, der Fee Grilla mit ihrem unordentlichen Garten Sudelgard, als Möglichkeit betrachtet, den großen Garten zu übernehmen. Leberecht erkennt als einziger die Gefahr und gerät in die Position des Regenten. Er beschließt allerdings, sich von Liebkind zu trennen, da persönliche Rücksichten im Kampf um die Existenz eher hinderlich sind. Liebkind kehrt darauf als Gärtnerjunge Georg verkleidet in den Garten zurück. Sie wird Leberechts wichtigste Verbündete im Kampf gegen Grilla. Leberechts Strategie hat zwei Teile. Zum einen muss der Garten wieder von innen gestärkt, das Unkraut gejätet, das Gras geschnitten, das Gemüse gepflegt werden. Zum anderen muss man Grilla direkt bekämpfen und ihre Expansion zurückdrängen. Beim Versuch, das erste anzugehen, bemerkt Leberecht den verheerenden Zustand des englischen Gartens, der als Teil des großen Gartens an das Reich der Fee grenzt. Er verabredet sich mit Grilla zum Zweikampf. Liebkind/Georg bemerkt derweil, dass Leberecht in einen Hinterhalt gelockt werden soll. Beim Versuch, diesem Hinterhalt selbst aufzulauern, gerät sie in Gefangenschaft, wodurch sich jedoch Leberechts Weg zum Zweikampf mit Grilla ebnet. Er schlägt sie schließlich, so dass ihr nur die Flucht bleibt. Zu dieser Stunde erscheint der Gartengott wieder. Es stellt sich heraus, dass er seine Flucht fingiert hat, um seine Untertanen zur eigenen Initiative zu bewegen, und er beauftragt Kasper, nach Liebkind/Georg zu suchen, wodurch sie schließlich befreit und in Sicherheit gebracht wird. Bei den Friedensverhandlungen muss Grilla sich verpflichten, die Grenzen zum Großen Garten nicht mehr zu überschreiten. Auf Leberecht fällt derweil Schwermut. Er trauert um den Verlust von Liebkind, deren Liebe er für den Kampf um den Garten geopfert hat. Da hört er ihre Stimme aus dem Vogelnest, ihrer Wohnung. Er erfährt von ihr, dass sie als Georg die ganze Zeit an seiner Seite war. Die beiden finden wieder zusammen, wobei Leberecht bemerkt, dass Liebkind ihm nicht bloß die Liebste, sondern auch ein Freund sein kann.

 

Erste Erzählung: Der Raum

Der erste Schritt, in der Tat, ist allemal ein Stolpern. Als ich »Liebkind« zum ersten Mal mit den Augen eines Erwachsenen las – das mag jetzt 20 Jahre her sein –, fand ich sogleich die Raumstruktur des großen Gartens aufschlussreich. Ein französischer, ein englischer und Gemüsegarten. Da klingelte es. Natürlich dachte ich an Lenins »Drei Quellen und Bestandteile des Marxismus«[v], worin französischer Sozialismus, englische Ökonomie und deutsche Philosophie als drei Elemente des marxistischen Zugriffs behauptet werden, und war das auch nicht ganz dasselbe, irgendwie schien es damit zu tun haben. Hacks, meinte ich, habe mit der räumlichen Struktur der Erzählung eine innere Architektur der sozialistischen Gesellschaft beabsichtigt. Die Zuordnung des Englischen als Metapher für Reichtum, Vielfalt, also Ökonomie und Produktivkräfte, sowie des Französischen für Gesittung, Politik, also Staat und Vergesellschaftung, das schien mir intuitiv zu passen – obgleich ich damals noch nicht wusste, dass Hacks tatsächlich auch selbst mit diesen Zuordnungen gearbeitet hat.[vi] Die Zuschreibung funktioniert, das nur am Rande, auch kulturell, insofern sich ja feststellen lässt, dass die französische Tradition ästhetisch – vom Gartenbau bis zum Drama – mehr zur Formstrenge und die englische eher zur Vielfalt neigt.

Nicht aufging die Lesart beim Gemüsegarten. Ließ der sich noch irgendwie als Sinnbild des deutschen Kleinwesens deuten, war der Bezug zum Deutschen Idealismus etwas schwieriger. Vor allem aber störte: Er, nicht der englische Garten, ist für den wirtschaftlichen Betrieb in »Liebkind« zuständig. So gefällig und tradiert also die Zuschreibungen: französisch=politisch & englisch=ökonomisch waren, das konnte es nicht sein.

Was es sein könnte, fiel mir, glaube ich, etwa 10 Jahre später ein, als ich über »Die Gräfin Pappel« schrieb. Dort gibt es jene drei Welten, in denen der Held Philibert nacheinander sein Exil verbringt: die Rieseninsel, die Oase Schönschein und den Berg Teltow. Nach meiner Deutung stehen die drei für Sphären des Sozialismus, wie Hacks ihn begriffen hat; die Insel für die politische, die Oase für die ästhetische, der Berg für die wirtschaftliche.[vii] Im Gedicht »Die Elbe« taucht die Triade ebenfalls auf: »Wenn erst die Anspruchslosen jeder Richtung / Das Zwergenmaß in Wirtschaft und Partei, / Mit einem einzig letzten Feind, der Dichtung, / Sich einig werden, wie zu leben sei […]« (HW I, 207). Und da eine Dreiheit auch einen dreifachen Beleg verdient, verweise ich noch auf eine Äußerung, die Hacks 1988 an der Akademie der Künste ausgab, wonach er zwischen Gesittung, Kultur und Zivilisation unterscheide.[viii] Mit Gesittung meinte er das Politische, mit Zivilisation das Wirtschaftlich-Technische und mit Kultur – etwas allgemeiner noch – nicht bloß die Kunst, sondern den gesamten Sektor des geistigen Zusammenlebens. In eben diesem Sinne möchte ich auch die drei Gärten im großen Garten interpretieren, worin Leberecht und Liebkind wohnen. Der englische Garten wäre demnach jener Bereich des kulturellen und geistigen Lebens, und Hacks hat einige Hinweise im Text hinterlassen, die regelrecht darauf abzuzielen scheinen, den Leser in Richtung dieses Verständnisses zu stoßen.

Beginnen wir aber mit der allgemeinen Weltordnung. Der Erzählung nach liegen der große Garten und der Garten Sudelgard direkt nebeneinander. Der Distrikt des großen Gartens, der unmittelbar an Sudelgard grenzt, ist der englische Garten. Ich will mich nicht länger als nötig bei der autobiographischen Komponente aufhalten, die zwar lustig, aber doch nicht allzu interessant fürs Verständnis ist. Hacksens Sommerwohnsitz, die Fenne, südlich von Berlin gelegen, hatte in der Tat einen Nachbargarten, der, wie man erzählt, etwas weniger gepflegt war. Und wie der große Garten im Märchen, so hat auch die Fenne einen französischen Garten, in dessen Mitte ein Gartengott (der berühmte bronzene von Salow[ix]) steht, und einen englischen, östlich der drei Gebäude gelegen und grenzend an das Nachbargrundstück. Der Einfall zu »Liebkind« scheint Hacks demnach auf der Fenne oder in Erinnerung an sie gekommen zu sein, und wenn man einmal dort war, hat man beim Lesen ein etwas bestimmteres, plastischeres Bild vor Augen.

Das Gepräge des großen Gartens ist ohne das Verhältnis zum feindlichen Nachbargarten kaum zu verstehen. Die Kollision beider Einrichtungen bestimmt oder beeinflusst fast jede Einzelheit. Der Erzähler nimmt klar Partei und lässt an Sudelgard kein gutes Haar[x], was nach den Maßgaben der »Maßgaben« in der dramatischen Gattung ein Makel wäre, im Kinderbuch jedoch als Tugend betrachtet wird.[xi] Eine tiefe sittliche Differenz trennt beide Staatswesen voneinander. Im großen Garten herrscht Ordnung, im Garten Sudelgard Natur. Jener wird überwiegend von größeren Organismen bewohnt – Säugern, Vögeln, Lurchtieren und Schlangen – und wenigen Insekten, dieser ausschließlich von Insekten.

Das Bild steht nun, so viel scheint nach dem Einsatz klar, für den welthistorischen Konflikt der beiden gesellschaftlichen Systeme, in dessen Zeit auch die Entstehung des Märchens fällt. Es herrscht Kalter Krieg, und Hacks deutet den Kampf der Systeme, worin jeweils sozialistische oder kapitalistische Produktionsweise vorherrschen, als Konflikt zwischen Ordnung und Natur, wobei nicht schwerfällt, darin das Gegeneinander von Plan und Markt zu erkennen. So ist denn auch Sudelgard »in einem ungepflegten Zustand«, während im großen Garten »alles glücklich und nach der Vernunft« (11) geht.[xii]

Die so beschriebene Ordnung des großen Gartens wird allerdings direkt mit der Prosperität verknüpft, während das Tierreich von Sudelgard, auch Kerfistan genannt, als parasitär und schädlich erscheint. Ist schon das Insekt in der Perspektive des Gärtners selten mehr als ein Schädling, fällt auf, dass in der Beschreibung Sudelgards Insektenarten fehlen, die als nützlich oder etwas weniger schädlich gelten. Es wimmelt von Milben, Käfern, Blattläusen und Grillen – Bienen, Hummeln oder auch bloß Wespen[xiii] gibt es nicht.

In dieser Beziehung löst das Märchen sich von seiner offenbar intendierten Deutung, denn es fällt schwer, den Kapitalismus im Verhältnis zum Sozialismus als weniger prosperierend zu erinnern. Man kann darin wiederum eine für Kinderliteratur typische (und von Hacks, wie schon erwähnt, geforderte) Vereinfachung sehen, oder eine etwas verunglückte Verbildlichung des Umstands, dass Kapital selbst nicht produktiv ist. Es bedarf nämlich erst der Arbeit, ohne die es nicht sein kann, die ohne es aber schon. In diesem Fall müsste jedoch der produzierte Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft, jene »ungeheure Warensammlung«[xiv], auf der Seite des liederlichen Gartens irgend in Erscheinung treten. Das tut er nicht, und vielmehr wird gegen Ende der Geschichte mitgeteilt, dass Grilla, die Herrscherin von Sudelgard, des im großen Garten produzierten Reichtums bedürftig ist, weil ihr Garten selbst kaum welchen herstellt (82). Sie führt nicht Krieg, weil sie will, sondern weil sie muss. Man könnte auch das im Deutungszusammenhang irgendwie retten, indem man etwa ins Feld führte, dass die kapitalistische Gesellschaft ihre inneren Widersprüche immer bloß durch Expansion lösen kann – das war und ist vom ersten Weltkrieg bis zur Ausdehnung der EU gen Ukraine nicht anders –, nur auch dann scheint das Verhältnis im Märchen nicht gut abgebildet.

Beide Gärten werden in ihren Herrscherfiguren hypostasiert. Der Gartengott und die Fee Grilla stehen ihrem Handeln und ihrer Ideologie nach denkbar gegensätzlich, obgleich sie in ihrer politischen Stellung ähnlich sind. Das wirft zunächst für Sudelgard das Problem auf, dass Ordnung zwar nicht herrschen soll, doch Herrschaft vorhanden ist. Die Unordnung entsteht demnach durch aktive Herrschaft bzw. vorsätzliches Unterlassen. In diese Scharte scheint auch eine leicht erkennbare Karikatur der parlamentarischen Demokratie zu fallen, die der Autor den Vertreter der Blattläuse während der Anbahnung des Krieges sprechen lässt: »Es gibt […] schwarze, rötliche und grüne Blattläuse. Die schwarzen sind natürlich für den Feldzug, aber die rötlichen und die grünen legen Wert darauf, daß man sie bittet« (29). Die partikularen Differenzen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sollen demnach bloßer Schein sein, und es fällt schwer, den Unterschied beider Gärten anhand ihrer rechtlichen und staatlichen Verhältnisse zu bemerken. Die Differenz einer Gesellschaftsordnung, in der Repräsentation und politische Macht zusammenfallen, und einer, in der die als invisible hand[xv] mystifizierte Bewegungslogik der Gesellschaft sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzt, also den Gegensatz zwischen Plan und Markt, sozialistischem Absolutismus und bürgerlicher Partikularität, DDR und BRD wird so in der Gestalt nicht abgebildet, sondern erscheint erst im Denken und Handeln der beiden Herrscher. »Das nenne ich Zwang«, sagt Grilla. »Ich nenne es Ordnung«, entgegnet der Gott. »Und wo bleibt die Freiheit«, fragt sie. »Bei Ihnen«, entgegnet er (81). Grilla redet von den »Kräfte[n] der unberührten Natur« (69), nennt ihren Unkraut-Krieg »Ansprüche, welche die Natur erhebt« (80) und gibt ihren Strategen gegenüber an, im großen Garten »etwas Ursprünglichkeit und Urwüchsigkeit wiedereinzuführen« (29).

Es passt sodann, dass der Garten Sudelgard als unordentliches und bloß parasitäres Gemeinwesen auch in jeder anderen Hinsicht negativ gezeichnet ist. Grillas Herrschaft ist brutal. Sie kneift ihrem Diplomaten Milbe den Kopf ab (28), befiehlt den Wespen, sich in ihre Degen zu stürzen (69), und ist, wie Leberecht ohne Missbilligung durch den Erzähler mitteilt, »eine durch und durch schädliche Person« (38). Das Leben findet zum größeren Teil unter der Erde statt; das Erdreich ist oftmals hohl. Das macht in Sudelgard nichts, da auf der Oberfläche nur wild-wucherndes Gewächs ist, das ohnehin keinen Nutzen hat und ebenso gut verrotten kann. Es gibt ferner verschiedene Ernährungsweisen: Pflanzenfresser, Fleischfresser, Kannibalen (also Insekten, die Insekten essen). Diese unterschiedlichen Ernährungsweisen »bilden […] die sogenannten Stände« (26). Hacks benutzt ein Wort, das aus seiner Absolutismus- und Romantiktheorie geläufig ist und einen doppelten Charakter trägt: einmal meint ständisch die Zersplitterung der Gesellschaft in unversöhnliche Klassen, zum anderen bedeutet es so viel wie partikular oder subjektiv. Dem Sein folgt das Bewusstsein.

Der große Garten ist in sich nicht minder vielfältig, aber seine Vielfalt ist keine ständische. So erscheint jeder Bürger im absolutistischen Sinn als gleichberechtigter und unmittelbarer Untertan des Gartengotts. »Das große Ganze«, sagt der, »ist mein Beruf« (90). Dieser Leviathan auf seinem Sockel vermag mit seiner umfassenden Macht republikanische Gerechtigkeit zwischen den Einzelnen und Gleichheit vor dem Gesetz herzustellen. Es gibt auch hier noch Unterschiede, Gartenpersonen »von Rang und Einfluß« (16) gegenüber weniger angesehenen. Aber die Vielfalt und die Differenzen in Rang und Wichtigkeit sind nicht unversöhnlich. Die allgemeine Ernährungsweise scheint vegetarisch zu sein. Das Wiesel als das »größte Gartenraubtier« (16) wird zwar erwähnt, und das scheint seine Nähe zur Gesittung Sudelgards andeuten zu sollen, aber es bleibt eine Randerscheinung. Die Tiere kommen friedlich miteinander aus. Die Ordnung auferlegt ihnen einen Zwang, der verhindert, dass sie einander Zwänge auferlegen. Die Gewalt von oben dämmt die Gewalt gegeneinander ein. »Was meinen Garten betrifft«, sagt der Gartengott, »hat jedes seinen Ort, und keiner verdrängt keinen« (81).

So mag in Grillas Vergleich des Gartengotts als »strengen Vater« und ihr selbst als »gütiger Mutter« (20f.) mehr liegen als bloß Propaganda und der offensichtliche Bezug auf beider Geschlecht. Psychoanalytisch unterscheidet sich die Position des Vaters von der der Mutter dadurch, dass der Vater als Verkörperung des Realitätsprinzips dem Kind Erziehung von außen auferlegt, während die Mutter, die das ebenfalls tut, immer auch durch die naturgemäße körperliche Beziehung (Geburt, Stillen) in organischer Bindung zum Kind steht. In diesem Sinne lässt sich auch Grillas »Ich und mein Volk sind eins« (70) verstehen. Wenn die Vater-Mutter-Metapher politisch etwas zu bedeuten hat, dann dies, dass der Gartengott seinem Volk als Fremder gegenübertritt. Nur als Souverän, der den Naturzustand leviathanisch in sich einschließt, kann er jenen Zustand der Gleichheit unter seinen Bürgern herstellen. Grilla dagegen ist Herrscherin und zugleich verwoben mit dem, was sie beherrscht. Ihre Herrschaft ist daher nicht souverän, sondern behemothisch und also terroristisch. Sie selbst ist ja ein Teil der Barbarei, die sie zu beherrschen vorgibt, und kann auch nicht anders. Ihre Abneigung gegen die Herstellung von Ordnung führt nicht zum Vorhandensein von Freiheit, sondern zu einer permanenten Präsenz von Gewalt. Ein Staatswesen, das die Gewalt im rechtlichen Verhältnis meidet, muss diese in der Herrschaftspraxis nachholen.

Wir haben damit, um es noch einmal festzuhalten, zwei Schwachstellen in der großen Metapher der beiden Gärten. Zum einen wird der innere Widerspruch des Kapitalismus, derjenige zwischen Kapital und Arbeit, auf das Verhältnis beider Gärten verlegt, und Sudelgard soll auf die Art ein reales bürgerliches Staatswesen sein, dem aber der Kapitalismus als vollständige Produktionsweise fehlt, indem von Reichtum und Arbeit dort nichts zu sehen ist. Zum anderen erscheint die Differenz der politischen Verfasstheit nicht in rechtlicher Form oder als Verhältnis des Staates, sondern allein in den Umgangsformen zwischen den Bewohnern und dem politischen Willen der beiden Herrscher. Man erkennt sie am Inhalt der Herrschaft, aber nicht an der Herrschaftsform. Grilla müsste dieser Lage zufolge nichts weiter tun als ihre Politik ändern, und aus Sudelgard würde ein weiteres Reich der Ordnung. Von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Umwälzung, also einer Revolution, ist hier keine Spur.

Wenn wir nun vom Verhältnis der beiden Gärten auf die räumlichen Strukturen des großen Gartens zurückkommen, also die poetisch gemachte Innenarchitektur der sozialistischen Gesellschaft nach Hacksens Verständnis betrachten, wird der Charakter der drei Gärten, in die er zerfällt, deutlicher. Der französische Garten stehe für das Politische, also für den Apparat der Partei, deren Funktion nach Hacksens Theorie der sozialistischen Klassen und eines sozialistischen Absolutismus die politische und ideologische Ordnung ist und durchaus nicht die Regelung der gesellschaftlichen Gesamtbewegung.[xvi]

Dass eben das hier gemeint sein muss, hat Hacks durch verschiedene Hinweise im Text unmissverständlich gemacht. Der französische Garten ist penibel angelegt, geschnitten und regelmäßig. Alles drückt »Ruhe und Vornehmheit« aus, und die »roten« Wege führen zum Sockel des Gartengotts, der in seinem Zentrum steht (11). Der Garten ist also ordentlicher als die ohnehin ordentliche Gesellschaft, worin man natürlich die Stellung der Partei im Sozialismus erkennen kann, die einerseits für das Prinzip der Ordnung, der neuen Ordnung mit Vergesellschaftung und Planung, steht, wie sie andererseits mit Elementen in der Gesellschaft arbeiten muss, die nicht einfach in der Strenge und Einfalt des kommunistischen Parteiprinzips aufgehen.[xvii] Warum die Wege des Gartens rot sind, dürfte daher auf der Hand liegen, und die Stellung des Gartengotts ist ebenfalls nicht zufällig. In Hacksens Verständnis ist der sozialistische Monarch ein dem Schoß der Partei entwachsenes Kind. Er muss aus dem Apparat hervorgehen, sich aber von ihm emanzipieren.[xviii] Er muss nicht nur in seiner Regierungsweise einen Standpunkt einnehmen, der über den unvermeidlich partikularen der Partei hinausgeht, er hat das auch historisch, so Hacksens Überzeugung[xix], durch die Einrichtung des Staatsrats in der DDR institutionalisiert. Folgerichtig steht der Gartengott auf dem Sockel im französischen Garten, von wo aus er den gesamten Garten überschaut und dessen Geschicke lenkt (11).

Damit fällt der englische Garten gleichfalls in sein Herrschaftsgebiet, obschon nicht in sein Milieu. Die englische Anlage nimmt sich wie ein Gegenentwurf zum französischen aus. Der Rasen ist weit, die Bäume wachsen hoch, und »mancherlei blühendes und buntlaubiges Gesträuch« steht in Gruppen verteilt. Vielfalt also herrscht und Größe und Buntheit anstelle der Röte (12). Weite und Höhe mögen für das Überschreitende des Bewusstseins, die intellektuelle und ästhetische Leistung der Klassik stehen, die den Ort ihrer Entstehung sowohl geographisch überwindet als auch zeitlich überdauert. Buntheit und Vielfalt zeigen dagegen ebenso das Ideal des geistigen Lebens an wie dessen Problem. Sie rücken den englischen Garten etwas näher an Sudelgard – nicht bloß geographisch, auch dem Stil nach –, nur macht ihn diese Nähe diesem Reich noch nicht gleich. »[E]s bleibt«, sagt der Erzähler, »ein Unterschied zwischen einem englischen Rasen und einer Kuhweide.« (48) Das Ziel der englischen Garten-Ästhetik, die ebenso wie die französische nicht willkürlich ist, sondern gewissen Maßgaben und Regeln folgt, liegt in der Nachahmung der natürlichen Landschaft, aber damit zugleich in deren Idealisierung, so wie auch ein Landschaftsgemälde von einer realen Landschaft sich unterscheiden sollte. »Der [englische] Gartenbau ist eine Weise, Gemütlichkeit ins Chaos einzuarbeiten« (HW XV, 9), wird Hacks anderthalb Jahrzehnte nach »Liebkind« schreiben. Indem das englische Ideal darauf abhebt, die natürlichen Formen herauszustellen und einander anzuordnen, und das französische darauf, neue und rein artifizielle Formen zu schaffen, verhalten sie sich ein wenig wie die klassische Haute Cuisine und die Molekularküche.

Wenn der englische Garten nun, wie anfangs festgehalten, für den gesellschaftlichen Bereich des Bewusstseins steht – für Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Ideologie, Religion –, dann ist diese mittlere Stellung nachvollziehbar. Kunst, Philosophie usf. müssen die Enge des Politischen überschreiten – andernfalls brächten sie immer nur hervor, was die Politik bereits verfügt hat –, aber sie können sich, wenn sie einigen Anspruch an sich selbst stellen, nicht in zügellose Beliebigkeit ergeben, wozu sie – als Betrieb – gewiss auch etwas neigen. Hacks denkt das Verhältnis hier offenkundig als symbiotisches, in dem die Kultur sich von der gesitteten Ordnung stets befreien und die Gesittung die befreite Kultur stets wieder ordnen muss. Das komplizierte, weil als notwendig unvollkommen gedachte Verhältnis von Kunst und Politik bei Hacks ist, soweit ich sehe, noch nicht hinreichend untersucht worden[xx], es sollte reichen, es hier darin abgebildet zu sehen, dass nicht etwa das englische Eichhorn dafür zuständig ist, das Schaf zu bestellen, das die zu wilden und hohen Triebe des englischen Gartens abzugrasen hat, sondern das französische. Der englische Garten muss als englischer angelegt sein, bedarf aber der zeitweiligen Verwaltung durch den französischen Ordnungssinn.

Der dritte Garten schließlich, der, worin das Gemüse wächst, steht in weniger engem Verhältnis zu den anderen beiden und spielt in der Geschichte eher hintergründig eine Rolle. Es wurde schon erwähnt, dass die Fee Grilla auf ihn als Nahrungsquelle angewiesen ist; das ist ein wichtiger Zusammenhang, um die Motive des Kriegs von Sudelgard gegen den großen Garten zu verstehen, aber in der Handlung selbst erscheint der Zusammenhang nicht und wäre nicht bekannt, würde er nicht im Gespräch zwischen dem Gartengott und der Fee (80–84) erwähnt. Immerhin erhalten wir ein paar Informationen über den Gemüsegarten, die deutlicher machen, auf welche Produktionsweise seine Anlage hindeutet. Sie ist nämlich weitgehend solcher Eigenschaften entkleidet, die typisch für kapitalistische Verhältnisse sind. In »Form eines Vierecks« mit »gerade[n] und gewinkelte[n] Beete[n]« gruppiert er sich um sein eigenes Zentrum, während in ihm »Gemüse aller Sorten« und »Blumen aller Arten« wachsen (13). Wir haben da wiederum die Vielfalt, diesmal als prosperierende Produktion, wobei das Gemüse für die primären Güter und die Blumen für sekundäre (also Luxus) genommen werden können. Die regelmäßige und zentrische Anordnung (ähnlich einem »Mühlenbrett[]«) hat nichts vom partikularen, sprunghaften Wachstum der Warenproduktion, sondern gewährt den Eindruck wohlgeordneter, harmonischer Planung.

Zumindest hieran, der unmittelbaren Veranschaulichung des ökonomischen Sektors, lässt sich das von Hacks bevorzugte Modell des Neuen Ökonomischen Systems, mit seinem Versuch, Plan und Markt zu vermitteln, nicht erkennen. Auch die bei ihm damit verbundene Klassentheorie, dernach die Wirtschaftsfachleute und -leiter einen eigenen Klassenstand und im politischen Gefüge der sozialistischen Gesellschaft eine sensible Stellung markieren, bleibt hier ausgeklammert. Unter Umständen ließe die Rolle der Wespen sich entsprechend deuten; sie gelten als nützlich, weil sie Fallobst tilgen (45), tendieren aber zum politischen Verrat (54) und haben als Insekten eine gattungsgemäße Bindung an Kerfistan. Nach dem Verrat nimmt man sie im großen Garten wieder auf (89), und ihre Herberge ist ein Wespennest aus Papier, also leicht, und schwankt daher mit jedem Wind (ebd.).[xxi] Allerdings scheint das Interesse des Autors eher in andere Richtungen zu gehen, und welche das sind, soll im nächsten Abschnitt deutlich werden, wenn die bislang statischen Raumstrukturen in Bewegung kommen und die eben noch idealtypisch gezeichnete Gesellschaft sich als ein Gemeinwesen in der Krise kenntlich macht.

 

Zweite Erzählung: Die Bewegung

Die Symptome der Krise sind weit verteilt im Text, und wenn man sie zusammenträgt, lassen sie sich in zwei Gruppen unterscheiden. Die einen haben mit dem Verhältnis von Oben & Unten zu tun, andere mit dem von Innen & Außen.

Innen und Außen werden in der Geschichte einander verknüpft. Klar ist, dass der schlechte Zustand des Gartens, der kenntlich wird durch seine zunehmende Aushöhlung (22, 52) sowie den Angriff von allerlei Unkraut und Schädlingen (48f., 80) – beides Importe solcher Zustände, die für Sudelgard typisch und dort in der Tat nicht weiter schädlich sind –, klar also ist, dass dieser unerfreuliche Zustand des großen Gartens sowohl Ergebnis eines Angriffs von außen als auch Symptom eines inneren Missverhältnisses ist. »Grillas versteckter Krieg« (49) ist nur deshalb so erfolgreich, weil im großen Garten die Abläufe nicht stimmen. Das französische Eichhorn z.B. vergisst regelmäßig das Schaf zu bestellen, das den englischen Rasen abzugrasen hat (17)[xxii], und der Maulwurf richtet durch seine Blindheit unablässig Schaden an (49). Er unterhöhlt, wenn auch ungewollt, den Staat, und der ungeschnittene Rasen lässt den Einfall von Disteln und Ungeziefer zu. Leberecht sagt daher: »Ordnung im Innern ist der beste Schutz vor einem Angriff von außen« (48), und seine Strategie hat zwei Teile. Einmal, simpel, den »Kampf um Leben und Tod«, der die äußere Bedrohung unmittelbar zurückschlägt, und dann die präventive Maßnahme der inneren Kräftigung, »starkes Wachstum und Blüte in allen Bereichen« (39).

Der andere Komplex, der von Oben und Unten, zielt auf das Problem einer jeden zentralen Herrschaft. Die Handlung setzt ein mit der Flucht des Gartengotts aus seinem Reich. Die Flucht war fingiert, wie der Gott am Ende der Erzählung zugibt (73, 90). Ein Vorgehen, nebenbei bemerkt, das sich nicht leicht als Ausdruck göttlicher Weisheit nehmen lässt und in seinem leichtfertigen Risiko an das Handeln Vincentios aus Shakespeares »Maß für Maß« erinnert. Zweierlei wollte der Gartengott damit beweisen: »daß es ohne [ihn] nicht geht« und »daß es ohne [ihn] eben doch gehen muß« (90). Es ist nicht schwer, hierin die Klammer wiederzuentdecken, die Hacks in seinen Auffassungen von Staat und Sozialismus und insbesondere vom Neuen Ökonomischen System der DDR ausgelegt hat: die Notwendigkeit staatlicher Regulierung und Planung auf der einen Seite, das Erfordernis der Initiative von unten auf der anderen. Die Initiative der Einzelnen verlangt nun ebenso einen vom Staat geschaffenen (bzw. gelassenen) Freiraum zum Handeln wie auch gewisse Haltungen oder Einstellungen. Der Staat muss sich also zugleich einmischen und zurücknehmen; zurücknehmen darin, dass er nicht jede Einzelheit zu regeln habe, einmischen insofern, als eigenverantwortliches Handeln eine aktive Bewusstseinsbildung erfordert. Wo nicht Existenzangst die Leute zur Initiative und Kreativität treibt, müssen sie gelegentlich daran erinnert werden. Andernfalls höhlt die Planwirtschaft innerlich aus, so wie der große Garten auch hohler geworden ist. Es klagt der Gartengott: »Das große Ganze ist mein Beruf. Aber bin ich dazu da, dem Schaf auszurichten, daß es den Rasen abfrißt?« (90)[xxiii]

Der gesamte Betrieb des großen Gartens ist gelähmt durch einfältiges und unzulängliches Verhalten seiner Bewohner, was der Erzähler als gattungs- also naturbedingt hinstellt. »Tiere«, sagt er, »sind arbeitssam, tapfer, heimatliebend und überhaupt stets besten Willens. Das Unglück ist nur, dass sie es sich nicht merken können. Sie verfügen über alle Tugenden, aber sie vergessen sie dauernd« (23). Nur selten, soll das heißen, sind die Menschen, wie sie sein könnten. Sie dahin zu bekommen, ein wenig öfter sie selbst zu sein, darum scheint sich alles in »Liebkind« zu drehen. In dieser buchstäblichen Selbstvergessenheit liegt die erste Ursache für den Zustand des großen Gartens wie auch seine Anfälligkeit für die Angriffe durch den Nachbargarten.

Es ist daher kaum Zufall, dass es der englische Garten als geistiger Sektor des staatlichen Gemeinwesens ist, der direkt ans Feindesland grenzt (29), sich am anfälligsten für »Grillas versteckte[n] Krieg« (49) zeigt und um den es am schlechtesten steht (39, 48). Die Bewohner des großen Gartens führen zudem ein ganzes Tableau unzulänglichen Verhaltens und begleitenden Mangel an Bewusstheit vor. Eichhorn und Maulwurf wurden schon erwähnt. Sie leiden an Vergesslichkeit (17) bzw. Unfähigkeit (32f, 49). Die Blindschleiche wird dargestellt als egoistische Bewohnerin, die hemmungslos ein ganzes Hotel in Beschlag nimmt (42f), während allgemeiner Wohnungsmangel herrscht (42). (Die Anspielung auf die damals gegenwärtige Situation der DDR ist unübersehbar.) Der Frosch spielt sich als regelversessener Ordnungshüter auf, obgleich ihm der Kategorische Imperativ flöten geht, indem er selbst die Regeln nicht befolgt, die er anmahnt (14, 97f). Die Witwe Igel verwaltet das Andenken ihres verstorbenen Gatten, hat aber zu dessen Vermächtnis ein bloß noch äußerliches Verhältnis (42f). Als sie während des Arbeitseinsatzes erfährt, dass ihr Mann ein Held der Arbeit war, führt das nicht dazu, dass sie selbst an der Arbeit teilnimmt, sondern sie stürzt zurück in die Gedenkstätte, um die Öffnungszeit zu verlängern (50). Wie jede Erinnerungskultur entwickelt auch die der Witwe die Tendenz, sich dem erinnerten Gehalt entgegenzusetzen. Erinnern bedeutet, etwas in der Vergangenheit festhalten, und was in der Vergangenheit festgehalten ist, kann nicht mehr gegenwärtig sein. Ab einem gewissen Grad der Liturgie stirbt der Glaube, und Gedenken ist das Gegenteil von Gedanken.

Das Wiesel schließlich – ein maliziöser Seitenhieb Hacksens gegen einen damals bekannten Literaturbetriebler namens Stephan Hermlin[xxiv] – nutzt die Abwesenheit des Gartengotts zur Machtübernahme mit der Begründung, ihm obliege als »größte[m] Gartenraubtier« (16) die Leitung der Versammlung, wodurch die innere Annäherung an das Wertesystem Sudelgards bereits angedeutet ist. Kongruent dazu gibt er sich als Vertreter dem Abgesandten der Fee gegenüber souverän, deutet aber zugleich an, dass man über »ein paar Schürfrechte« und »Aufenthaltsgenehmigungen« (21) reden könne. Sein Gedanke »Reden ist allemal gut. Solange man redet, regiert man nicht« (ebd.) erinnert aufdringlich an die Staatsraison der Semiramis aus dem wenige Zeit später entstandenen Niedergangsschauspiel »Jona«. Typisch ist all das für die friedensbewegte Hypotonie des späten Sozialismus, die schließlich in Gorbatschows Neues Denken mündete. Jener unbedingte Glaube, den (kalten) Krieg vermeiden zu können. Irrational ist nicht bereits der Wunsch nach Frieden. Irrational ist, sich zu verhalten, als könne man ihn haben, obgleich er vorerst nicht zu haben ist. »Der Epochenwiderspruch von Weltrevolution und Weltgegenrevolution«, schrieb Hacks kurz vorm Ende der DDR, »ist eine Tatsache. Es steht in niemandes Belieben, ihn abzustellen. Der Weltkrieg folglich findet in dieser Jahrhunderthälfte als Seelenkrieg statt.« (HW XIII, 425) Bis zuletzt glauben die Tiere, dass Grilla keinen Krieg führen werde: »Sie hat es geschrieben«, sagt der Salamander, »aber sie hat es nicht getan« (48). So zeigt sich die Einsamkeit Leberechts desto eindringlicher in seinem Ausruf: »Merkt hier nicht jeder […] daß wir längst im Krieg sind?« (24)

Gegen diese Übermacht des Unzulänglichen stehen Leberecht und Liebkind/Georg praktisch allein und verloren. Ihr Verhalten ist so beispielhaft, dass gar kein anderes Beispiel dafür in Sicht ist. »Es bleibt alles an uns hängen«, sagt Leberecht zu Georg (51).

 

Dritte Erzählung: Die Maßnahme

Nachdem meine erste Erzählung davon handelte, was der Garten ist, und die zweite davon, wie er geworden ist, geht es jetzt in der dritten darum, wie er wieder werden kann, was er mal gewesen sei. Sei, denn was er mal war und was er mal sein sollte, ist nicht dasselbe und kann es auch nicht sein. Die Restauration der Revolution ist weder Restauration im engeren Sinne, noch führt sie tatsächlich zu einer Revolution. Darauf will ich am Ende zurückkommen. Man kann es viel einfacher sagen: In der dritten Erzählung geht es darum, wie man kämpft.

In diesem Zusammenhang interessiert zunächst, was es mit dem Dreigestirn Leberecht–Kasper–Liebkind auf sich hat. Man neigt nämlich etwas dazu, vom Anfang weg zu übersehen, dass das Märchen nicht zwei, sondern drei Hauptfiguren hat, obwohl der Erzähler das in seiner Einführung recht deutlich macht (11). Leberecht, Kasper und Liebkind sind keine Versammlung, sondern ein Gefüge; sie erhalten bezogen aufeinander Sinn. Ich behaupte, dass in ihnen die Spaltung eines vollständigen Menschen in drei psychoanalytische Positionen vorliegt und dass die Sache einem genauen Zweck folgt. Leberecht, schon der Name spricht es aus, verkörpert den moralischen Überbau, den verinnerlichten Anspruch an sich selbst, den ein Mensch entwicklungsmäßig in Form von Realitätsprinzip und unmittelbarer Erziehung zunächst von außen erhalten muss. Auf der anderen Seite stehen Liebkind und Kasper als Verkörperungen der Triebstruktur. Aber der Gesamtkomplex wird im Komplex des Triebhaften ein weiteres Mal gespalten, in Bedürfnis und Begehren, wobei der immermüde und immerhungrige Kasper für die passiven, nicht intelligiblen Triebe der Selbsterhaltung steht, für Muße und Verzehr[xxv], während Liebkind die aktiven Triebe und Komplikationen der Sexualität oder Liebe verkörpert. Und in dieser Trinität Leberecht–Kasper–Liebkind als Überzeugung–Bedürfnis–Begehren scheint zugleich die Raumstruktur des großen Gartens auf, indem der strenge französische Garten Leberecht zuzuordnen wäre, der Gemüsegarten mit seinem lebenserhaltenen Ertrag Kasper und der englische Garten mit seiner blühenden Schönheit Liebkind. Leberechts Position des Ich-Ideals hat, wie die Politik, keinen Zweck in sich, sondern dient der Organisation der anderen Teile auf das Ganze hin. Kaspers Position des Bedürfnisses hat, wie die Ökonomie, ihren Zweck unmittelbar an sich, indem der Mensch auf Nahrung und Erholung unter keinen Umständen verzichten kann. Liebkinds Position des Begehrens ist, wie die Kunst, in noch höherem Maße Selbstzweck, weil der Mensch auf Kunst (oder sexuelle Aktivität) nicht gern zwar, aber letztlich doch verzichten könnte. Dass Begehren nicht so notwendig ist wie Bedürfnis, macht seinen übergreifenden Charakter. Wir werden sehen, dass es erst jene Freiheit von äußerlichen Zwängen ist, die Liebkind in die Lage versetzt, Leberecht helfen zu können, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo er von keinem Dritten irgendeine Hilfe erwarten kann.

Die Frage, wie man kämpft, also lässt sich zunächst beantworten: Nicht allein mit der Überzeugung (Leberecht), sondern auch mit dem Begehren (Liebkind). Nicht allein mit, sondern auch aus Leidenschaft. Politik kann nicht bloß verkopft, bloß moralisch, bloß äußerlich sein. Sie muss im Innern der Menschen was finden, an das sie sich binden kann. Leberecht allein wäre nicht verallgemeinerbar. Leberecht und Liebkind schon eher. Jenes Innere aber, das ist zunächst der libidinöse Teil der Seele, der die Möglichkeit hat, über den bloßen Eigennutz hinauszuschreiten. Gerade weil er keinem anderen Zweck dient als sich selbst, kann er selbstlos werden. Liebe neigt zum Ideal. Es geht zunächst also die Überzeugung (Leberecht) mit dem Begehren (Liebkind) das Bündnis ein, zu dem hinzu dann, etwas widerwillig, das Bedürfnis (Kasper) treten kann. (Wir erinnern uns, dass auch Fidorras Weg zur Moral über die Liebe zu Stoll vermittelt wird, die sich dem wirtschaftlichen Interesse entgegensetzt.)

Das lässt sich in die Lage der späten DDR übersetzen: Nach einem Jahrzehnt »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, der Vernachlässigung von Reproduktion zugunsten der Konsumtion, dem Umsichgreifen von Saturiertheit anstelle weiterreichender Ansprüche, muss die Antwort auf das matte Gefühlsleben der Bewohner des Staates nicht noch mehr Konsum sein, sondern die Wiedergewinnung der Utopie und die Produktion eines Reichtums, der nicht bloß unmittelbar verzehrt wird, sondern wiederum fruchtbar werden kann. Was an der wirtschaftlichen Depression der späten DDR so niederschmetternd war, das ist nicht der Mangel selbst – so unterversorgt war die Bevölkerung dann tatsächlich nicht –, es war der Eindruck eines allgemeinen Nichtfunktionierens, der das Vertrauen auf die utopische Richtung der vorliegenden Gesellschaft allmählich aufgezehrt hatte. So musste die von oben natürlich weiterhin organisierte Rede vom Kommunismus im Angesicht des sozialistischen Alltags immer unwirklicher wirken. Hacks, der die wirtschaftliche Seite dieses Zusammenhangs bereits in »Die Binsen« (1981) angefasst hatte, entscheidet sich in »Liebkind« (1984), ähnlich wie schon in »Barby« (1982), unmittelbar bei der politischen Seite anzusetzen. Denn so sehr das Fehlen wirtschaftlicher Prosperität utopisches Denken auch verunmöglicht, so wenig kommt dieses Denken einfach zurück, wenn wirtschaftliche Prosperität sich wieder einstellen sollte. Insofern durchdringt keines der drei Werke den Gegenstand vollständig, die selbdritt aber schon.

Es wäre folglich ein Fehler, in Leberecht einfach den verlängerten Arm oder Mund des Autors erkennen zu wollen. Der teilt dessen Gesinnung, offensichtlich, aber auch Leberecht ist eine Figur, also bezogen auf das Ganze der Handlung partikular, und er ist durchaus nicht das, was Hacks andernorts einen mittleren Helden genannt hat (vgl. HW XV, 178–181). Er ist bei allem Scharfsinn ein Esel und bei allem Geschick ein grober Keil, der eine ganze Handlung – d.h. eine halbe mehr als Liebkind – benötigt, die ihm eingeschriebene Hamartia zu überwinden. Gleichwohl ist er unmissverständlich eine positive Figur, in der der Autor, wie ich meine, auch seine persönliche Geschichte geflochten hat.

Zunächst wird Leberecht als außergewöhnlich vorgestellt. Nicht erst durch Entwicklung und Handeln in der Geschichte, sondern bereits im Setting. Er ist ein Mensch unter Tieren, was Grilla unwillig bemerkt (28), und während die Blumenhecke, die der Gartengott im ersten Kapitel ausgestreut hat, allerlei Volk fernhält, überspringt Leberecht sie mühelos (9). Die Reinheit des jungen Mannes, seine strenge Gedanklichkeit und gedankliche Strenge, ist apollinisch und erinnert an eine Auskunft Hacksens über sich selbst: »Auch ich komme aus einer Schule, wo die Linie vor dem Ton geht, der Gedanke vor der Sinnlichkeit, die Moral vor dem Fressen. Auch ich habe lernen müssen zu lieben. […] Wofür kämpfen, wenn nicht um der Liebe willen? Nur wer stark liebt, hat Grund, stark zu hassen.« (HW XIII, 157) Interessanterweise wird Gedanklichkeit hier als eher unpolitisch verstanden, und erst Liebe bringe wirklichen Antrieb fürs Politische hervor. Wer liebt, wir hatten das eben, weiß, wofür er kämpft. Zu Beginn des Märchens liebt Leberecht zwar, aber nur persönlich, und als er in die Staatsgeschäfte hineingezogen wird, versucht er die Liebe daraus auszuschließen. Er lässt, indem er Liebkind verstößt, eine wichtige Produktivkraft ungenutzt. Und hierzu passt, dass vordem man ihn ins Amt des Regenten befördert, Leberecht politisch wenig interessiert scheint. Der Erzähler weiß, dass »ihm Staatsangelegenheiten im Grunde gleichgültig waren« (19). Will man das alles zusammenfassen, entsteht ein Appell des Dichters an sich und seinesgleichen. Gefordert wird das Eingriffen der Begabten und vormals Unbefugten in die Staatsangelegenheiten, aus denen sie sich während der Ulbricht-Ära, wo der Staat mehr oder weniger im Gleichgewicht war, weitgehend heraushalten können. Wenn der Garten in der Krise ist, hat derjenige, der ihm helfen könnte, kein Recht, nicht engagiert zu bleiben.[xxvi]

Nun ist Leberecht als Vertreter des Gartengotts nicht einfach dessen Ersatz. Seine Art zu handeln und zu regieren unterscheidet sich von der seines Vorgängers. Er muss schärfer auftreten, kämpferischer, seinen Blick verengen auf die unmittelbaren Effekte. Darauf konzentriert, seinen Ansatz durchzusetzen, anstatt darauf, das Verschiedene unter einen Hut zu bringen und den Staat gleich einem Orchester zu dirigieren. Leberecht und der Gartengott verhalten sich zueinander wie Revolution und Sozialismus bzw. wie Aufklärung und Klassik. Das berühmte Stehen selbst auf den Schultern der Gegner ist Leberechts Sache nicht. Ich nehme an, sagt der Gartengott nach seiner Rückkehr zur Fee Grilla, »Sie verhandelten lieber mit mir als mit ihm.« (82) Seine Rückkehr wird auch die Wiederherstellung der klassischen Ordnung bedeuten, nach der es nicht reicht, allein kämpferisch zu sein, und nicht reicht, allein dafür zu sorgen, dass alles zum Besten steht. Der Staat braucht Reichtum und Vielfalt, muss aber auch orientiert und gewappnet sein. Vorerst geht es jedoch darum, dass der entfaltete Staat sich in seine Kampfform zurücknimmt, die revolutionäre Tugend, heißt das, zur alleinigen Maßgabe macht.

Ich habe oben Wert auf die Feststellung gelegt, dass Leberecht und Gartengott zwar dieselbe Aufgabe erfüllen, aber nicht auf dieselbe Weise. Leberecht ist die Rücknahme des Klassischen ins Revolutionäre, und dem korrespondiert der Umstand, dass er auch im Menschlichen die Rücknahme des Vollständigen in eine seiner Seiten ist. Alles an ihm ist redlich; er handelt aus Pflichtbewusstsein. Selbst in seiner Beziehung zu Liebkind leistet er einen, wenn auch sanften und schließlich nachgebenden, Widerstand gegen ihr kindlich-spielerisches Wesen.

Indem nun Liebkind ihrerseits für die Liebe steht, erhält sie als Metapher die Möglichkeit, für noch mehr zu stehen, wenn man sie aus der Beziehung zu Kasper und Leberecht löst und auf den Garten insgesamt bezieht. Liebkind bedeutet – ich habe es am Anfang behauptet und will es nun begründen – nichts weniger als die Kunst.

Auch hierfür hat der Autor deutliche Hinweise im Text placiert. Sie ist schön und »reizend« und hat ein einnehmendes Wesen (10). Sie interessiert sich nicht für Alltagsfragen und Tagespolitik; als die Sprache aufs französische Eichhorn kommt, wechselt sie das Thema (ebd.). Sie ist Leberechts »Kleinod« (13) und kokettiert mit ihrer Naivität. Das Poetische ist naiv, muss es sein. Als Leberecht berichtet, dass der Gartengott verschwunden ist, nimmt Liebkind es hin, glaubt es aber erst, nachdem sie es mit eigenen Augen gesehen hat, was Leberecht nicht erfreut (12). Man kann darin den für Kunst typischen Zugriff auf gesellschaftliche Wirklichkeit wiedererkennen. Kunst folgt der Anschaulichkeit; sie reagiert unmittelbar auf gesellschaftliche Bewegungen.[xxvii] Auf Lesarten, Propaganda oder Narrative reagiert sie, wenn überhaupt, eher mit Widerstand. Oder, sagen wir es besser, dort, wo sie der Selbsterzählung einer Gesellschaft mehr Platz gewährt als deren unmittelbar anschaulicher Bewegung wird sie weniger die Kunst sein, die Hacks im Sinn hatte. Ferner nennt Leberecht Liebkind kindisch (39). Auch das ist ein bekannter Zusammenhang in Hacksens ästhetischen Vorstellungen: »Das Kind ist der poetische Mensch, und vielleicht ist der poetische Mensch einfach der kindliche.« (HW XIV, 143) Der kindliche, naive, anschauliche Zugriff der Kunst führt aber zur großen Form und, soweit Hacksens Überzeugung, gedanklicher Tiefe. Kunst vermag das Wesentliche einer gesellschaftlichen Lage auszumitteln. In Erinnerung an Liebkind äußert die Erdkröte: »Sie sang schöner als selbst die Nachtigall […] aber das Einmalige waren die Worte. Sie verstand sich auszudrücken. Sie traf, wenn ich so sagen darf, den Garten auf den Kopf […] Man sah alles ordentlich vor sich« (86). Ist nicht dies eben das, was Kunst tut, wenn sie das Wesentliche ausmittelt – das von ihr Beschriebene nicht überhaupt, doch immerhin auf den Kopf zu treffen, d.h. dessen geistige Seite zu erfassen und das krause Material der Zeit nach Maßgabe des Humanen anzuordnen? Und, ein letztes, auch der Kunstzweck kommt an Liebkind zur Sprache. »Die Frau«, sagt Leberecht – die Kunst, übersetze ich –, »ist etwas unendlich viel Besseres als der Mann«, sagt Leberecht – die Politik, übersetze ich –, »die Frage lautet nur: besser wofür? Für jede Aufgabe von etwas Ernst kommt sie nicht in Betracht. Sie ist ein Geschenk des Himmels, aber das Dumme an den meisten Geschenken ist, daß sie sich für nichts eignen« (56). Und nachdem ich übersetzt habe, lasse ich es Hacks selbst noch einmal übersetzen: »Die Poesie hat keine Zwecke; sie hat einen alleinigen Zweck, das Mündigwerden des Menschen, d.i. die Erlangung seines Rechts auf Verwirklichung seiner sämtlichen Möglichkeiten, des Rechtes, zu sehen, zu hören, zu denken, zu wollen, die Tugend und den Beischlaf zu üben. Diesen alleinigen Zweck aber erreicht sie nur, wenn sie vom Begriff der Zweckmäßigkeit überhaupt absieht und allein um ihrer selbst willen handelt, und daher ist die Revolution, wo ein Zweck alle Bereiche des Lebens durchdringt und überlagert, so wenig günstig für die Kunst. Kunst darf es nicht eilig haben.« (HW XIV, 35) Dass Kunst, heißt es an anderer Stelle, »sich nicht sehr gut eignet, direkten politischen Einfluß zu üben. Es gibt Umstände, wo sie es versuchen muß, aber gewöhnlich ist es schlechte Kunst, die herauskommt.« (HW XIII, 153) – Umstände, wo sie es versuchen muss. Eben das geschieht hier.

Diese theoretischen Äußerungen gewähren zugleich Verständnis für das wichtigste Moment in der Fabel. Ich rede von der Verstoßung Liebkinds. An der interessieren zunächst die Motive Leberechts, ehe von Belang sein darf, wie Liebkind darauf reagiert. »Ich kann«, sagt der junge Mann, »nicht gleichzeitig an meinen Kampf und an dich denken« (31). Die Verstoßung hat jedoch zwei Seiten. Einmal ist die Rücksicht, die Kunst erfordert – und Liebkinds Charakter, ihr einnehmendes Wesen, macht deutlich, dass sie wenig Kompromisse duldet –, tatsächlich hinderlich für den Kampf. Wenn Kunst vielleicht um vieles besser ist, doch »es gibt Wichtigeres als Kunst […] Politik ist allemal das erste.« (HW XIV, 16f.) Es gibt Momente, solche etwa, in denen die eigene Existenz bedroht ist, worin sich alles dem einen Zweck unterordnet und unterordnen muss. Und dann gibt es gewiss auch Politik als alles durchdringende Grundlage, in dem Sinne, dass in jeder gesellschaftlichen Lage Erfordernisse verborgen liegen, denen man bei Strafe eigenen Scheiterns Rechnung tragen muss. Zum andern jedoch sieht Leberecht die Gefahr der Lage für Liebkind. Nicht also bloß, dass sie beim Kampf »stört« (31), ist sein Problem, auch der Schaden, den sie daran nehmen könnte, macht ihm zu schaffen. Gerade weil er sie liebt – »[k]ann sein, zu sehr« (35) –, sagt er ihr: »Behielte ich dich bei mir, zöge ich dich mit in die Sache, und du wärst auch in der Gefahr« (31). Ein dritter Grund, den er unausgesprochen lässt, ergibt sich aus der Logik des Geschehens. In der Nacht nach der geheimen Gartenversammlung, als in Leberecht »gegen seinen Willen« der »schreckliche[], grausame[] Entschluß« (25) reift, kann ihm die Erinnerung an jenen Vorfall am verlassenen Gartensockel gekommen sein, da Liebkind ihren eigenen Augen mehr vertraute als der Kunde durch Leberecht. Das muss ihm nachgerade klargemacht haben, dass er mit Liebkinds bedingungsloser Gefolgschaft im Kampf nicht rechnen kann. Sie glaubt eben nur, was sie sieht, und passt bis aufs letzte Gramm in den Garten, über dessen tierische Bewohner es heißt: »[…] so ein tierisches Gehirn hält nur das für wahr, was es mit eigenen Augen sieht« (51). Damit sei nicht gesagt, dass die Naivität der Kunst und die Naivität der Bewohner dasselbe sind, aber von Standpunkt der Politik können sie zusammenfallen.

Leberecht leugnet eine Unverträglichkeit des ästhetischen und des politischen Maßstabs ebenso wenig, wie er im Gedanken Zuflucht sucht, dass Kunst dennoch irgendwie unbeschadet durch die Phase der revolutionären Restauration gehen können. Obgleich er aber hierin ganz die Billigung des Autors besitzt, der auch seinen Erzähler kein Wort gegen Leberechts Entscheidung verlieren lässt, wird Leberecht durch den Lauf der Handlung eines Bessern belehrt. Liebkinds Rückkehr als Gärtnerjunge Georg hat einen genauen Sinn. Das Märchen, auf sein Innerstes gebracht, handelt von der Frage, was Kunst in Zeiten bewirken kann, in denen sie nicht zur Entfaltung kommt. Die Antwort hierauf scheint zunächst banal, trägt aber verborgen einiges mit sich, das der Mitteilung wert ist.

Banal ist die Einsicht, dass Georg als Gestalt so etwas die wie »verkriegswerkzeugt[e]« Kunst ist, über die Hacks ein paar Jahre später geschrieben hat.[xxviii] Ares und Aphrodite sind schon bei Homer eine eher unglückliche Paarung, doch das ändert nichts daran, dass sie aneinander mehr als bloß starkes Interesse haben. Das Schöne kann dem Krieg zu Diensten sein, auch wenn es sich dafür gewissermaßen umkrempeln muss. Als Junge verkleidet, ändert Liebkind ihr Betragen. Sie beginnt sich für politische Fragen zu interessieren, steht Leberecht mit Ratschlägen zur Seite, und während man sich, wie zitiert,  Liebkinds als eines Wesens von wunderschönen Worten erinnert und auch der Erzähler bestätigt, dass »sie ausführlichere Gespräche vorzog« (30), rühmt Leberecht an Georg, dass er ein netter Junge »von wenig Worten« (37) sei. Die für politisierende Gebrauchskunst typische Verknappung der Form könnte hiermit gemeint sein. Die Leistungen der Gebrauchskunst sind vergleichsweise dürftig. Man erinnert noch Liebkinds naive Poesie aus dem Vogelnest (14), während man Georgs Prosa im Aufruf zum »Allgemeine[n] Arbeitsvergnügen« (40) liest. Und doch leistet die Prosa was, wie sichtbar wird, wenn man Georgs Aufruf mit den ganz und gar unpoetischen Vorschlägen Leberechts – »Vollständiger Garteneinsatz« und »Dienstliche Hauptverpflichtung« (ebd.) – vergleicht. Kurzum, wo für Kunst als solche kaum Verwendung ist, kann sie immer noch in der Kunst des Redenschreibens irgendwie fortbestehen.

Über diese Banalität hinaus, sagte ich, wird die Sache noch interessant. Hacks arbeitet durch die Erzählung hinweg mit der Gegenüberstellung von Freundschaft und Liebe, wobei Leberechts Verhältnis zu Liebkind eines der Liebe und das zu Georg eines der Freundschaft sei (12, 30f, 37, 56, 91, 95). Leberecht vermisst »einen Freund«, als er nur Liebkind, und vermisst die Liebe, als er bloß Georg hat. Liebe ist autonom, duldet keine Rücksichten, ist heftiger und mehr privat. Freundschaft ist ebenfalls ein intimes Verhältnis, aber deutlich gesellschaftlicher. Daher taugen beide als aufeinander bezogene dazu, das Verhältnis von Kunst und Politik zu versinnbildlichen. Indem Liebkind sich erst als Georg verkleidet, und dann als Liebkind wieder zurückkehrt, wird aber nicht einfach der alte Zustand wiederhergestellt. Leberecht und Liebkind einigen sich, dass sie am Tage einander Freunde sein und in der Nacht einander lieben können (95).

In Liebkind konvergieren somit Kampf- und Lebensform. Kunst macht in politischen Zeiten Verarmung, Verkriegswerkzeugung durch, aber in dieser Verarmung liegt ein Gewinn. Die Freundschaft steht für politisches Einverständnis, Georg und Leberecht sind Genossen. Die Restauration der Revolution erfordert eben das. Eine später wiedergeborene postrevolutionäre Klassik wäre nicht einfach die alte. Sie enthielte die gesellschaftliche Erfahrung, könnte den revolutionären Kampf in sich aufheben als nunmehr nicht bloß politische, sondern gesellschaftliche, nicht bloß revolutionäre, sondern sozialistische. Indem Liebkind am Ende ihre Verkleidung wieder abgelegt, wird genau dieses Verhältnis anschaulich. Sie ist wieder Liebkind, folgt unverkleidet ihrer Natur und geht in ihrer alten, klassischen Form. Sie enthält aber zugleich die Erfahrungen Georgs, die sie einerseits negieren muss, indem sie in ihre Rolle zurückkehrt, und andererseits in dieser Rückkehr mitträgt, um künftig mehr zu sein als bloß Georg oder bloß Liebkind.

Das Zusammentreffen von neuem Gehalt und alter Form, wie es für Hacksens Klassik-Konzept typisch ist[xxix], wird hier unmittelbar anschaulich, und das ganze Märchen erscheint in dieser Rücksicht als Versuch, nicht bloß auf die Krise der sozialistischen Gesellschaft zu reagieren, sondern auch die dadurch in die Krise geratene Idee der sozialistischen Klassik zu transponieren.

 

[i] Vortrag, gehalten auf der Zehnten wissenschaftlichen Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft am 4. November 2017 im Berliner Magnus-Haus; abgedruckt in: Hacks Jahrbuch 2018. Hrsg. v. Kai Köhler. Berlin 2018, S. 120–148.

[ii] »Liebkind im Vogelnest«, entstanden: 1984, erstmals gedruckt: Berlin 1987, mit Illustrationen von Klaus Ensikat. Hiesige Zitate richten sich nach dem Abdruck in der Werkausgabe von 2003: HW XII, 7–99. Sie werden ohne weitere Angaben mit Seitenzahlen im Haupttext ausgewiesen.

[iii] Manche Kindermärchen richten sich übergreifend ans Menschliche und sind wenig spezifisch. »Meta Morfoss« z.B. oder »Leberecht am schiefen Fenster«. Die Mehrheit der Märchen hat regelrecht abbildenden Charakter und ist befasst mit spezifischen Problemen der sozialistischen Formation. Das beginnt bei poetischen Entwürfen wie »Linde« oder »Fledermausohren mit Salpetersoße« und reicht bis zu einer abgezogenen Allegorie wie »Meister Hartmuth«, die eine blanke Anspielung auf die Biographie des Schriftstellers Hartmut Lange ist.

[iv] Das Märchen führt keinen Untertitel, aber der zwölfte Band der Werkausgabe, in der es sich befindet, trägt den Titel »Die Romane für Kinder«.

[v] LW 19, 3–9.

[vi] So heißt es etwa 1982 über die Zeit der Koalitionskriege: »Das der Gesittung nach fortgeschrittenste Land, Frankreich, wehrte sich gegen das in wirtschaftlicher Hinsicht fortgeschrittenste Land, England […]« (HW XIII, 322). Den »Kampf der beiden weitestgeschrittenen Völker« leitet Hacks 1987 ab aus der »gleichsam körperliche[n] Abneigung, die zwischen einem Gemeinwesen, das sich der Vorteile der Ordnung bedient, und einem, das die Vorteile der Unordnung für ergiebiger ansieht, zu herrschen nicht umhin kann.« (HW XV, 293) 2000 wird er seine Gedanken zur englischen Spielart des Sittlichen im ersten Kapitel von »Zur Romantik« entfalten, wobei er hier, trotz der polemischen Anlage des Textes, der englischen Lebensweise Berechtigung in kleineren gesellschaftlichen Zusammenhängen einräumt (HW XV, 7–22). Mit benannter Zuweisung sieht Hacks sich in ungebrochener Folge Hegels und Saul Aschers, wobei die Nähe zu Lenins »Drei Quellen und Bestandteilen« offenkundig gewollt ist: »Hegels Denkgebäude, bekanntlich, steht auf drei Säulen: der deutschen Philosophie, der englischen Politökonomie und der französischen Revolution, und auf denen eben steht Aschers System auch.« (HW XIV, 376) In Saul Aschers Schrift »Europas politischer und ethischer Zustand seit dem Kongress von Aachen« findet man einige Erörterungen über England, die in dem Gedanken »[…] so hat dieses Reiches Zustand mehr einen glänzenden als sittlichen Wert« (zit. n. Ders.: Flugschriften. Theoretische Schriften 1. Mainz 2011, S. 276) kulminieren. Hacks verbindet zudem mit jener politischen Zuweisung eine ästhetische, indem er schreibt: »Das klassische Drama der Franzosen enthält das Gesamt seiner Zeit nicht anders als das der Engländer […]. Es ist einfach um so viel ordentlicher, wie der französische Absolutismus ordentlicher als der englische war.« (HW XV, 272) Hierin liegt zunächst nur Charakterisierung und noch keine Wertung, da ja bekannt ist, welche Stellung der Dramatiker Shakespeare in Hacksens Kanon einnimmt. Auch bezogen auf die Garten-Ästhetik selbst (vgl. auch Anm. xii) ist keine Vorliebe zu erkennen. Entsprechend der Einrichtung seines eigenen Anwesens, der Fenne (über die als Vorbild für »Liebkind« noch zu reden sein wird) vermerkt er über C.M. Wieland, der habe mit Rücksicht auf Gartenlandschaften »zwischen der französischen Haltung zur Welt und der englischen keine rechte Entscheidung getroffen.« (HW XIII, 391f.) Es ist die nämliche Unentschiedenheit bei Hacks zu finden, insofern es nicht dezidiert um die politische Einrichtung des Staatswesens geht. Das Englische und das Französische werden hierbei zu übergreifenden, fast universellen Metaphern. Gleichwohl soll die Analyse zeigen, dass diese Metaphern in »Liebkind« etwas anders besetzt sind.

[vii] vgl. Der ennuyierte Odysseus. Zur Deutung der »Gräfin Pappel«. In: Argos 3 (September 2008), S. 39–117.

[viii] Zum 60. Geburtstag von Peter Hacks. In: Mitteilungen. Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik 4/1988, S. 13.

[ix] vgl. HW I, 278.

[x] So lässt er sich etwa, als Liebkind und Caspar die Grenze zu Sudelgard überschreiten, wie folgt vernehmen: »Kein Sonnenstrahl fand hier noch her. Beide fühlten, daß die Welt, wo auf Anstand und Höflichkeit Wert gelegt wird, von jetzt an hinter ihnen lag« (60). Und am Beginn der Erzählung, als der benachbarte Garten in die Handlung eingeführt wird, heißt es: »Er war ein Ärgernis und ein Schandfleck. Alle nannten ihn nur den üblen Garten« (11).

[xi] Die Forderung einer »ungefähre[n] Rechtsgleichheit« (HW XIV, 25) von Spiel und Gegenspiel scheint verbunden mit der »Pflicht des Dramatikers, drüber zu stehen« (FR, 39). Eine »Identifikation […] mit dem Helden« demnach soll dem »Dramatiker nicht unterlaufen« (FR, 55). Nicht in der einzelnen Figur habe er aufzugehen, sondern im Stück als ganzem: »Das fabelmäßige und sprachliche Gefüge ist die wohlberechnete und einzige Gestalt, worin das Wesen des Kunstwerks zu erscheinen vermag.« (HW XIII, 172) Gegen diese Forderung dramatischer Objektivität setzt sich die Maßgabe ab, in der Kinderliteratur unterm eigenen Horizont zu bleiben. Dort ist »entweder der Urheber bescheiden oder der Erfolg« (HW XIV, 145). Das kindliche Publikum verlange vom Dichtern nicht nur, »das Traurige für sich zu behalten, von dem er voll ist« (HW XIII, 491), sondern auch eine Bescheidenheit in Fragen der gesellschaftlichen Einsichten: Die »sittlichen Nachrichten, die man« dem kindlichen Publikum »anbietet, sollen keine anzweifelbaren, sondern behauptete sein. Es wünscht Feststellungen, nicht Infragestellungen« (HW XIV, 142).

[xii] Indem im Garten Sudelgard Natur herrsche, ist er nach Hacksens Verständnis ein widernatürlicher Garten. Wie alle Genres hat auch der Gartenbau – und Hacks zählt ihn zu den ästhetischen Bereichen (vgl. HW XIV, 58f.) – eine natürliche Seite des Materials und eine menschliche der Form. Natur ist der Garten insofern, als er daraus besteht, aber er ist angelegt, geformt, beabsichtigt. Daher eignet er sich nach Hacksens Überzeugung zur Metapher für gesellschaftliche Verhältnisse: »Überhaupt ist das Weben in der Natur keine sehr gute Entsprechung für die Verkehrsformen der Menschen, jedenfalls seit Erfindung des Staates nicht. Schon Shakespeare zieht vor, die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens mit einer künstlichen Natur, dem Garten, zu vergleichen. Auch später im Imperialismus, wo das scheinbar Regellose aller Beziehungen wie ein unbeherrschbarer und unbeherrschter Wildwuchs sich darstellen mag, erscheint die Brechtsche Metapher von der Niederlage des Individuums im seelenverschlingenden Dschungel mehr eindrucksvoll als erkenntnisträchtig.« (HW XIV, 178) Mit dem Bezug auf die Gärtner-Szene (III, 7) in Shakespeares »Richard II« und Brechts »Im Dickicht der Städte« macht Hacks deutlich, dass es ihm nicht um die Differenz des überschaubaren Nationalstaats der frühen Neuzeit zum kaum noch überschaubaren bürgerlichen Staat der Moderne geht. Jedes Staatswesen, auch eines, in dem Partikularität vorwaltet, und damit das Behemothische (das bei Hacks ›das Ständische‹ heißt), bleibt dennoch eine Ordnung. »Die Erzeugungsweise der Fabrikanten«, heißt es 1982, »verlangt tatsächlich beides, freies Kräftespiel und Ordnung der Verkehrsformen, und beides zugleich können sie in gleichem Umfang nicht haben« (HW XIII, 324), und weiter: »Der Kapitalismus kann zwei Gesichter tragen, eins zum Staat hin und eins vom Staat ab« (ebd., 325). Die Herrschaftsform von Sudelgard ist wie die des großen Gartens monarchisch, und Grilla regiert tatsächlich. Insofern wäre der doppelte Charakter des Kapitalismus, nämlich ständische Inhalte in staatlicher Form zu vertreten, in »Liebkind« tatsächlich abgebildet. Aber der Gegensatz wird nicht als innerer gezeigt, da Grilla ausschließlich nach außen hin agiert, im Krieg gegen den großen Garten. In dieser Vereinfachung scheint mir in der Tat Hacksens Forderung gegen das Genre der Kinderliteratur, im Sittlichen mit klaren, unbezweifelbaren Verhältnissen zu arbeiten (vgl. Anm. xi), erfüllt zu sein.

[xiii] Die drei Ritter Schlupf, Gall und Stich haben eine besondere Stellung. Ihre Loyalität gehört zeitweilig der Fee Grilla, aber sie gehören zum großen Garten. Sie erweisen sich dort als nützlich (45), und man nimmt sie trotz ihres Verrats wieder in die Gemeinschaft auf (89). Auch Bienen bewohnen den großen Garten (89f).

[xiv] MEW 23, 49.

[xv] »Indem [der Kapitalist] die einheimische Erwerbstätigkeit der fremden vorzieht, hat er nur seine eigene Sicherheit im Auge[,] und indem er diese Erwerbstätigkeit so leitet, daß ihr Produkt den größten Wert erhalte, verfolgt er lediglich seinen eigenen Gewinn und wird in diesen wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise beabsichtigt hatte.« (Adam Smith: Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes. Bd. II. Jena 1923, S. 235) Bei Smith dient die unsichtbare Hand noch als Metapher, die eigentlich nicht anschauliche Bewegungsweise der Warenproduktion anschaulich zu machen, und ähnlich wie bei Hegels »List der Vernunft« (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung. B. b. In: Hegel: Werke 12. Frankfurt a.M. 1970, S. 49) ist nicht leicht zu entscheiden, wie wörtlich die Behauptung einer nicht vordergründigen Lenkung zu nehmen ist. Der Zweck der Metapher kann allein in ihrer Anschaulichkeit liegen oder aber auch in dem Bedürfnis, sich an ihr gegen Unsicherheit und Unanschaulichkeit zu beruhigen, indem eine hintergründige Steuerung der Gesellschaft angenommen wird. Tatsächlich scheint Marx mit seiner Formel »Sie wissen das nicht, aber sie tun es« (MEW 23, 88) das Verhältnis besser zu treffen, indem weder das intuitive Handeln einzelner Akteure noch eine überindividuelle Lenkung behauptet wird. Kapitalisten agieren am Markt auf diese oder jene Weise, weil sie es bei Strafe eigenen Untergangs müssen. Das betrifft nach der Wirtschaft auch die Politik. Der innere Mechanismus der Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, wird erst dort als solcher deutlich, wo das regierende Prinzip nicht mehr vollständig im Handeln der Regierenden liegt.

[xvi] vgl. Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks. Mainz 2010, S. 131–134 u. 138.

[xvii] Heinz Hamm hat in seiner Dokumentation des politischen Denkens von Peter Hacks einige Notizen aus dem Nachlass befördert, die bestätigen, was sich am publizierten Werk ohnedies ablesen ließ. Hacks nimmt im Halten zu Ulbricht und zum Neuen Ökonomischen System den ›unreinen‹ Charakter dieses Modells nicht bloß in Kauf, er hält ihn für einen Vorzug. So notiert er in einer Skizze eines idealen Sozialismusmodells: »Leninismus, bei Duldung anderer Einflüsse und kräftige Bündnispolitik« (zit. n. Peter Hacks: Marxistische Hinsichten. Politische Schriften 1955–2003. Hrsg. v. Heinz Hamm. Berlin 2018, S. 383). Ferner: »Ulbricht: für unreinen Soz […] Idee der DDR: 3. Personen züchten. […] sucht und vermehrt mittels erheblicher Steuervorteile Handwerksberufe, die im Begriff auszusterben, Korbflechter, Etuimacher etc. Ihre Funktion | Geld unerheblich als Kapitalisten, ebenso unerheblich als deren Kunden. (Was sie allein akkumulieren ist ein gewisser Frohsinn.)« (ebd., S. 445).

[xviii] Vgl. Leistung und Demokratie. a.a.O., S. 131. Der doppelte Charakter des sozialistischen Autokraten, aus dem Apparat zu kommen und ihm dann zu entwachsen, hat nicht bloß Hacksens Theorie, sondern auch seine Dichtung beeinflusst. Diese reale Konfiguration im Hinterkopf lässt sich nämlich das wiederholte Auftauchen einer besonderen dramatischen Konfiguration erklären. Ich meine den unfreiwillig komischen Sidekick, den Hacks seinen Göttern, Königen oder sonst souveränen Figuren öfter zur Seite stellt. Ich habe diese Konfiguration »die ungleichartig Gleichartigen« (ebd., S. 172) genannt und dabei Paare wie Mattukat und Blasche, Jupiter und Merkur, Gott und Gabriel, Herakles und Iphikles sowie René und Adhéaume de Croixbouc im Sinn gehabt. In den Kinderbüchern taucht das Paar ebenfalls auf, wobei die Differenz hier auch äußerlich fassbar wird, in Minerva und Fretty z.B. Der herausragende Einzelne führt einen ihm irgendwie Verwandten oder Assoziierten minderer Fähigkeiten bei sich. In »Liebkind« ist das der Fliegenschnäpper, der für die weniger eleganten Seiten der Herrschaft zuständig ist, die dem Gartengott, müsste er sie selbst ausführen, etwas an Dignität nähmen. So versucht der kleine Vogel, Leberecht zum Gartengott auf Distanz zu halten, ohne dass der ihn ernstnimmt (8), und als Kasper der Empfehlung des Gartengotts nicht nachkommt, ist es der Vogel, der einen anderen Ton anschlägt (74). Ich habe die »ungleichartig Gleichartigen« (a.a.O.) als Ausdruck von Ideal und Wirklichkeit gedeutet, die einander stets begleiten, wie eben das Außergewöhnliche ohne das Mittelmaß nicht bestimmbar ist und umgekehrt. Entsprechend sagt der Fliegenschnäpper: »Ich bin hier, und wo ich bin, ist auch der Alte« (88). Konkreter – und das heißt jetzt: politscher – lassen sich die Paare jedoch ebenso als Gestaltung der beschriebenen Dualität sozialistischer Herrschaft verstehen: Der Herrscher benötigt den Apparat, die niederen Handgriffe, schmutzigen Aktionen, die Volkstümlichkeit wie den Populismus, und zugleich muss er mehr sein als das, benötigt einen souveränen, nicht mehr partikularen Standpunkt. Die »ungleichartig Gleichartigen« teilen als figürlicher Ausdruck mit, dass Macht ohne Leib nicht zu haben ist und ohne Geist keine Richtung hätte.

[xix] Vgl. AEV, 129f.

[xx] Zwischen den über die Jahrzehnte verstreuten, nicht immer gleichen, jedoch zusammenhängenden Äußerungen von Hacks zum Komplex der Kulturpolitik und, allgemeiner, zum Verhältnis von Kunst und Politik findet sich eine Bemerkung, die mit Rücksicht auf das Verhältnis beider Gärten von besonderem Interesse sein dürfte. In der Akademie-Diskussion vom 5. Mai 1978 äußert er: »Die rechtsopportunistische Forderung nach Vielfalt und Weite ist einfach der Gegenschwachsinn zu der linksopportunistischen Forderung nach Einfalt und Enge.« (BD 3, 171) Allgemein skizziert Hacks das Verhältnis der Kulturpolitik als nie ganz lösbares Problem, das aber auch durch Auflösung nicht zu bewältigen sei.

[xxi] Mit Rücksicht auf Hacksens späte Auffassung zur Tätigkeit des MfS in der DDR, das er, zumindest teilweise, als direkt konterrevolutionär und im Dienste der gegnerischen Dienste stehend deutet, können die Wespen auch als Anspielung auf die Staatssicherheit verstanden werden. Sie üben Verrat, haben dennoch eine im Staat notwendige Funktion, und versuchen, nicht sehr durchdacht, Liebkind abzuhören (46).

[xxii] Hacks hat das Motiv der Trägheit verschiedentlich mit dem der Demokratie sowie dem Parteiapparat verbunden, vgl. Leistung und Demokratie. a.a.O., S. 180f.

[xxiii] In der ersten Fassung des »Numa« heißt es: » Ich könnte sie natürlich beide an die Wand stellen lassen und mich zum Selbstherrscher aufwerfen. Aber die Lösung wäre zu schlicht, um vollkommen zu sein. In der Folge liefe sie darauf hinaus, daß ich alles, was im Land geschieht, allein beaufsichtigen müßte, die Rohstofferzeugung wie die Müllabfuhr in Neapel. Und was verstehe ich denn von Müllabfuhr?« (SD, 119).

[xxiv] »Ich heiße Wiesel«, sagt das Wiesel, »nenne mich aber Hermelin« (18). Auch Stephan Hermlin, geboren als Rudolf Leder, hieß eigentlich anders und wählte sich den Namen Hermlin selbst. Als Unterzeichner der berühmten Biermann-Petition und persönlicher Freund Honeckers stand er insbesondere während der späten Phase der DDR weit ab von Hacksens Position. In der Figur des Wiesels scheint er insofern aufzugehen, als auch Hermlin nicht als offener Gegner der Regierung oder des Sozialismus auftrat, sich in seinen Ansichten aber vielfach anschlussfähig an das Wertegeflecht der BRD zeigte. Zudem bezeichnet das Wiesel die Fee Grilla als seine »Base«, eine Anmaßung, die der Abgesandte der Fee mit den Worten »Es kommt mir nicht zu, an ihrem königlichen Rang zu zweifeln« (20) quittiert. Hacksens Abneigung gegen Hermlin war nicht allein politisch begründet. Er sah in ihm kaum mehr als einen umtriebigen Funktionär des Literaturbetriebs, »der Zeit seines Lebens nichts Nennenswertes geschrieben hatte« (Wdh, 65) und mit fortschreitendem Alter immer weniger produktiv war. Folglich erscheint Hermlin später in »Die Gräfin Pappel« als »Dichter-der-in-seiner-Jugend-was-gedichtet-haben-sollte« (HW IX, 165). Auch unabhängig von persönlichen Noten im Verhältnis der beiden Schriftsteller wird man konzedieren müssen, dass Hermlins Stellung und Anspruch im literarischen Feld der DDR sowohl poetisch als auch – wie Corino gezeigt hat (vgl. Die Zeit 41/1996) – politisch auf Leistungen der Vergangenheit beruhte, die zum mindesten vernebelt und eigentlich mehr behauptet als vorhanden waren. Das im Kopf lässt sich vielleicht verstehen, warum Hacks dem Wiesel folgende Auskunft in den Mund schreibt: »Ein Wiesel […] bin ich nur im Sommer. Sobald die Witterung rauh wird, glänze ich in einem schneeweißen Fell […]. Die schlechte Zeit ist meine beste Zeit« (18). Hacks hatte dieses Bild neun Jahre vor der Abfassung des Märchens schon einmal verwendet. Im Dialog »Das Arboretum« heißt es: »Nehmen Sie diese Konifere, es ist eine Scheinzypresse. Solange Winter ist und alles dürr herumsteht, wirkt sie ermutigend und täuscht goldenes Sommerlicht vor. Kaum aber beglänzt die Sonne das erste lebendige Grün, wirkt sie einfach vertrocknet.« (HW XIII, 204).

[xxv] Deutlich gemacht wird die Asexualität Kaspers und sein Desinteresse an politischen Fragen. Er bezeichnet die Küsse zwischen Liebkind und Leberecht als »[e]kelhaftes Getue« (10) und spricht von seinen Knochen als den »wirklich wichtigen Dinge[n] des Lebens« (ebd.). Immer wieder muss er zum Handeln überredet werden und ruht sich ganz im Gefüge des Hund-Herr-Verhältnisses aus (9f, 24, 57–59, 73, 74), ehe er sich am Ende der Erzählung zur eigener Verantwortung durchringt (93). Da Kasper für die flachen Triebe steht, und Liebkind für die komplizierten, ist Leberecht folgerichtig ihr Geliebter, aber sein Herr. Interessant ist ferner, dass Kasper selbst noch einmal eine Spaltung an sich vollzieht, indem er den inneren Widerspruch der konsumtiven Haltung, dass Genuss Produktivität voraussetzt, dadurch ausdrückt, dass er seinen Schwanz wie eine eigene, von ihm abgetrennte Persönlichkeit behandelt (9, 60f).

[xxvi] Nach der Tagung, auf der ich diesen Vortrag gehalten habe, hatte ich ein Gespräch mit einem Teilnehmer. Es ging um die Frage, inwieweit Eltern als kollaterale Adressaten vom Autor strategisch mitbedacht werden. Mein Gesprächspartner trug mir folgendes vor: Addiert man das ungefähre Alter der Kinder, die »Liebkind« lesen, mit dem durchschnittlichen Alter, in denen in der DDR Kinder gezeugt wurden, kommt man etwa auf 26 bis 30 Jahre. Diese Zeit von 1984, dem Entstehungsjahr des Buchs, zurückgerechnet, ergibt eine Altersgruppe, die im etablierten Sozialismus geboren wurde, zu deren Alltagserfahrung der Kampf gegen die überkommene bürgerliche Gesellschaft sowie auch jene Phasen der scharfen Gegenrevolution (des Rollback, der Truman-Doktrin, der Kommunistenverfolgung in der BRD) nicht mehr gehört. Es ist, denke ich, nicht schwer, zwischen dem Bewusstsein der Tierwelt im Großen Garten und dem jener Generation Ähnlichkeiten zu entdecken. Im Hacks-Nachlass findet sich eine von Heinz Hamm aufgefundene Notiz, die das nämliche Problem umfasst: »Diese Leute haben nicht im Kapitalismus gelebt. Der Mensch, insonderheit der Schriftsteller, hat nur, was er erlebt, erhandelt hat. Das ist nicht durch Studium ersetzbar. [Sie sind alle gegen den Kapitalism, ehrlich, und die älteren verstehen nicht, warum sie nicht demgemäss handeln.] Jene haben im Sozialism gelebt und schreiben ganz natürlich bloss über den, und kritisch. Das wäre völlig normal, wenn die Widersprüche im Sozialism der Haupt-Widerspruch wären. Der Hauptwiderspruch ist aber zwischen Sozialism und Kapitalism. Das ist für alle Leute, die den Kapitalism kennen, klar und natürlich, keine blosse Wissensfrage. Aber wer den bloss aus Büchern kennt, hat nicht den genügenden Gesamt-Abscheu, der in Verhaltensweisen übergegangen und in ihnen stabilisierten Abscheu, der nötig ist, um das Missfallen an Unrichtigkeiten hier diesem Abscheu emotional unterzuordnen. Also machen sie Opposition. Haben viele Vorzüge gegenüber den Alten: nette, lustige, unsentimentale junge Leute. Nachteil: erschreckende Ahnungslosigkeit in Fragen des Marxismus.« (zit. n. Marxistische Hinsichten. a.a.O., S. 13).

[xxvii] Zur Bedeutung von Anschaulichkeit für die Kunstherstellung vgl. Selbst auf den Schultern der Gegner. Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß. In: Topos 34 (2010), S. 49f. – In einer schon bemühten Nachlass-Notiz, vermutlich etwa zehn Jahre vor der Abfassung von »Liebkind« geschrieben, heißt es konzis: »Der Mensch, insonderheit der Schriftsteller, hat nur, was er erlebt, erhandelt hat. Das ist nicht durch Studium ersetzbar« (vgl. Anm. xxvi).

[xxviii] »Unter der neuen Bedingung des Seelenkriegs hatte die Kunst zunächst eine ungewohnte und gewiß übermäßige Beachtung von Seiten der Regierungen gefunden. Das Kunstschöne war zu einer anhangenden Schönheit der Überredungskunst, die Kunstwissenschaft zu einer strategischen Wissenschaft geworden. In den Kulturministerien saßen lauter Clausewitze. Die Kunst als solche ist den Regierungen gleichgültig, ganz wie die Philosophie oder die Geschichte als solche. Jetzt wurde sie vollständig verwerkzeugt: verkriegswerkzeugt« (HW XIII, 426).

[xxix] Eine von drei Bedingungen für die Entstehung klassischer Literatur sei: »Ein neu und rühriger Lebensinhalt, welcher auf eine vorhandene Lebensweise von Kultur oder doch wenigstens Brauchtum trifft. Tüchtigkeit messe sich mit Form, und nicht so unvermittelbar feindlich, daß sie dieselbe als unverträgliche abstoßen muß, sondern fähig ist, sie bei einer Art mißbilligender Anerkennung im Wetteifer aufzuheben« (HW XIII, 131).

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