Mai 082017
 

Vor fünf Jahren starb der Zeichner und Kinderbuchautor Maurice Sendak

Künste können nicht miteinander. Wo zwei sich treffen, muss eine regieren. Was aber fängt jemand an, der beides ist, Maler und Poet? Biographisch bleibt bei Maurice Sendak kein Zweifel: Er hat manchmal gedichtet und immer gemalt. Die Poesie begleitet ihn eine Weile, dann nicht mehr. In den letzten 30 Jahren schreibt er zwei Bücher, eins davon selbst.

Mit Blick aufs Genre verkehrt sich das Verhältnis. Auch wenn die seltene Doppelbegabung ermöglichte, Bild und Text gemeinsam wachsen zu lassen, bleibt das Bild auxiliar, auf den Text bezogen. Der wieder ist in seinem Wortbestand eine Version der Erzählung. Poetisch ist nicht allein das Wort, bereits der Einfall entscheidet. Zöge man dem Jahrhundertwerk »Wo die wilden Kerle wohnen« Illustration und poetische Sprache ab, verlöre es gewaltig, und dennoch bliebe im Kern die Erzählung, durch die erst spezifische Bedeutung entsteht. Aus demselben Grund funktionieren Mythen über Jahrtausende und unzählige Adaptionen hinweg. Maurice Sendak, der genuine Maler, war nicht bloß auch in der Erzählung genial. Er war es gerade dort.

Stil und Technik seiner Bilder variieren, was im Kinderbuchgenre selten ist. Sie sind artifiziell, vielleicht zu sehr für den kindlichen Horizont. Derart erinnert Sendak mehr noch an Ensikat und Erlbruch, die er wohl nicht kannte, als an Caldecott und Potter, auf die er sich oft bezog. Kaum zu überschätzen ist der Einfluss der Deutschen Romantik. »Als Papa fort war« ist so sehr Runges Stil nachgebildet, dass man sich gar nicht wundert, dessen Portrait darin wiederzufinden.

Der Illustrator gehörte zu den besten seiner Zeit, der Dichter ist ein Fall für die Ewigkeit. Jene Bücher, die Sendak sowohl gemalt als auch geschrieben hat – die nursery rhymes abgezogen sind es ein Dutzend –, wurden seine berühmtesten. Manche davon sind unzweifelhaft kanonisch. Der umwerfende Erfolg etwa der »Nachtküche« kommt nicht zuletzt aus der Fähigkeit, vielschichtige Deutungen hervorzurufen. Während man dem Kind vorliest, läuft das eigene Hirn auf Hochtouren. Das ist eine Qualität, die Kinderbücher nicht haben müssten. Veritable Klassiker des Genres kommen mit wenig aus. Wenn man »Peter Rabbit« ins Auge fasst oder »Die Raupe Nimmersatt« oder, ein jüngstes, »Wo ist mein Hut?«, dann sieht man, dass sie an basale Ideen rühren (Isolation, Flucht, Hunger etc.) und auf dieser einfachsten Ebene funktionieren. Bei Sendak ist immer mehr. Die basalen Ideen erhalten eine Struktur, ohne an Wucht zu verlieren. Mitunter haben Bücher einen langen Arm, der uns packt und nie wieder loslässt. Bei manchen ist der Arm nicht nur lang, sondern auch kräftig. In diesem Fall hat der vorlesende Erwachsene einen ähnlichen Genuss wie das zuhörende Kind.

Gewiss ist da viel Biographie. Immer wieder hat Sendak Figuren seine Gesichtszüge eingezeichnet; so Baby in »Higgelti, Piggelti, Pop!« oder den Kobolden in »Als Papa fort war«. Ida dürfte ein Portrait seiner Schwester Nathalie sein. Die wilden Kerle gehen auf frühe Skizzen seiner Verwandten zurück. Dergleichen tut nichts, weil die Erzählung unabhängig davon funktioniert. Kommt man von den Anspielungen zu den Ideen, zeigt sich das umfassende Thema Sendaks: Der Übergang von der äußerlichen Welt in eine phantastische oder traumhafte, wo alles Bedeutung hat, weshalb »Outside over there«, so nämlich heißt »Als Papa fort war« im Original, auch der Titel des gesamten Erzählwerks sein könnte. Die Helden haben ›dort drüben‹ Erlebnisse, an denen sie wachsen. Das ist nicht neu, im Grunde eine Variante des Schemas von Wladimir Propp, doch eben deshalb erfolgreich. Sendak unterfüttert es nun psychoanalytisch. Der Charakter steht im Mittelpunkt, sein Konflikt wird in der phantastischen Welt gegenständlich. Die Reise der Helden ist immer eine ins Innere.

Das ist nicht mehr anekdotisch, es ist persönlich. Der Sohn jüdischer Immigranten erlebte die Welt als Außenseiter. Seine Hochbegabung, seine Homosexualität, seine Krankheiten, die ihn ans Haus fesselten, müssen den Anschluss erschwert haben. So baut er sich eine Welt nach innen, aber nicht als vage Spinnerei, sondern vermittels kraftvoller, logischer, regelrecht unerbittlicher Phantasie. Das Persönliche wird allgemein, doch das braucht Zeit zu werden.

Alle Genies beginnen chaotisch. Die Geistesblitze sind schon da, der Reichtum an Gedanken auch; es fehlt die Fähigkeit zur Form, die Erfahrung, wie man sich beschränkt. Letzteres kommt aus der Angst, nicht verstanden zu werden. Gewiss auch aus der, dass ein guter Einfall verlorengehe. Ehe er im Nachlass verschwindet, lässt man ihn lieber im Text, auch wenn er nicht so ganz passt. Sendaks Frühwerk trägt viel davon. »Kennys Fenster« (1956) ist schon groß, indem durch den ersten Satz unklar bleibt, ob Kenny inmitten eines Traumes oder mitten aus einem Traum erwacht. Gleichwohl ist die Erzählung nicht gut organisiert. Sieben Geschichten werden dürftig verknüpft. Zu den besseren gehört die vierte, worin Kenny mit seinen beiden Zinnsoldaten streitet. Er, das Kind, schlüpft in die Rolle des Erwachsenen, dessen Verhalten den Zinnsoldaten paradox scheint. Zugleich spiegeln sie sein erwachsenes Verhalten als immer noch kindliches. Das elterliche Schuldgefühl kann die Strafe nicht zurücknehmen und sucht daher mit Liebe den Ausgleich.

Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt »Das Schild an Rosies Tür« (1960); auch hier viele Muskeln um wenig Knochen. Das ändert sich mit »Wo die wilden Kerle wohnen« (1963). In gerade einmal 1.710 Zeichen und 18 Bildtafeln erzählt es eine Geschichte schier unglaublicher Tiefe und Struktur. Max flieht nach einem Streit mit seiner Mutter in einen Traum, worin er den wilden Kerlen begegnet. Diese liebenswerten wie rücksichtslosen Wesen stehen als Metapher für die Zerrissenheit des Kindlichen, worin Liebe und Vernichtung schwer zu trennen sind. Den wilden Kerlen gegenüber gerät Max in die Rolle seiner Mutter. Er reift also am eigenen Gedankenspiel.

Die sechziger Jahre können als Hochphase gesehen werden. Nach »Higglety Pigglety Pop!« (1967), worin die Hündin Jenny lernt, bloßes Triebverhalten in verantwortliches Handeln zu überführen, kulminiert dieser Abschnitt im comicartigen Buch »In der Nachtküche« (1970). Dort entfliegt der Held Mickey, möglicherweise im Traum, in eine mysteriöse Bäckerei auf den Dächern Brooklyns, wo man ihn für Milch hält. Wieder ein Übergang in eine phantastische Sphäre, und wieder muss das Kind an dieser Erfahrung wachsen. Die Nachtküche scheint aber für mehr noch zu stehen als bloß das Innere; sie meint einen unerbittlichen ökonomischen Prozess, in dem der Heranwachsende lernen muss, sein Ich zu bewahren.

In den siebziger Jahren scheint Sendak die poetische Kraft allmählich zu verlassen. »Ein lieber böser Köter« (1976) variiert Bekanntes: Zwei Kinder werden mit einem Hund beschenkt und finden sich unvermittelt in der Position des Erziehers. Nur sind die psychoanalytischen Konstruktionen hier viel zu offensichtlich; es fehlt das Poetische. Wo »Kenny« Muskeln ohne Knochen zeigte, haben wir jetzt Knochen ohne Muskeln.

Auch »Als Papa fort war« (1981) trägt Spuren der Krise. Noch einmal scheint Sendak alles an Ideen und Poesie aufzubieten, in den Illustrationen erreicht er gar seinen absoluten Höhepunkt. Dennoch geht die Erzählung nicht ganz auf. Die Heldin Ida muss ihre Schwester retten, was ihr eben mit dem Wunderhorn gelingt, dessentwegen die Schwester erst in Gefahr geraten ist. Wieder begegnen wir der Identifikation mit dem Elternteil. Die Eliminierung der Kobolde, bis die Schwester übrigbleibt, veranschaulicht andererseits, dass Reifen Eliminieren von Möglichkeiten bedeutet. Beide Vorgänge, die eigentlich zusammengehören, sind auf zwei Figuren verteilt, wodurch zwei disparate Lesarten provoziert werden. Es passiert, dass Dichtern irgendwann die Kraft ausgeht. Ihr Thema ist ausbuchstabiert, ein neues mag ihnen nicht einfallen, oder es fehlt die Lust, sich noch einmal ganz von vorn auf etwas einzulassen. Sendaks letztes Buch, »Wurstl-Wutz« (2012), ist tatsächlich bloß noch eines: harmlos.

Man messe ihn nicht daran. Er war groß in seinem Genre, und ich habe das Bedürfnis, ihn einen Realisten zu nennen. Das mag der Stimmigkeit seiner Erzählungen geschuldet sein. In sich stimmen kann wohl nur, was auch nach außen hin etwas stimmt. Sendaks Realismus ist ein innerer, der nicht die Welt mit ihren Subjekten, sondern das Subjekt in der Welt zeigt. Die Kinder erscheinen als Wesen nicht bloß mit, sondern auch von Konflikten; sie werden nicht romantisiert, aber auch nicht belehrt. Vielleicht gefallen Kinderbücher genau dann Eltern und Kinder am besten, wenn sie weder den einen noch den anderen zu sehr gefallen wollen.

in: ND v. 8. Mai 2017.

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