Apr 102017
 

Vor fünf Jahren erschien das Gedicht »Was gesagt werden muss«

Wer es vergessen will, sollte sich erinnern

Im Sommer 1995 wurde Günter Grass eines elend langen Verrisses teilhaftig. Tatort war Der Spiegel, Ziel der Roman »Ein weites Feld«. Neben Fragen literarischer Qualität und der Vermutung, dass amateurpolitische Ambitionen dem Dichten eher hinderlich seien, ging es auch um die Situation der Juden vor und nach der neudeutschen Reichseinheit. Die Polemik könnte als Zeugnis des üblichen Kampfes zwischen verschiedenen Formen des platten Unfugs ignoriert werden, hieße ihr Autor nicht Marcel Reich-Ranicki und wäre sie nicht das impulsivste Ereignis in der berühmten Streitgeschichte zwischen dem jüdischen Kritiker und dem deutschen Autor. Reich-Ranicki zeigt sich nicht zimperlich, und zwischen all seinen Fehlleistungen dort trifft das meiste, was er über Grass schreibt, empfindlich ins Zentrum dieses sensiblen Autors. Einen Titel hatte die Rezension übrigens auch: »… und es muß gesagt werden«.[1]

Ist es wirklich so einfach? Ist Grassens auffällig ähnlich benanntes, 17 Jahre später erschienenes Gedicht »Was gesagt werden muss«[2], das die Schwierigkeit eines Deutschen zur Sprache bringt, öffentlich gegen Israel und Juden zu sprechen, das zudem ein weiteres und jüngstes Beispiel jener erwähnten Neigung zur Amateurpolitik ist, der Grass seit Beginn der sechziger Jahren bruchlos nachgab, bloß auf diese abgeschmackte Art persönlich motiviert? Liegt in ihm also der Versuch vor, Israel für die nicht nachlassende, lebenslange Kränkung durch einen jüdischen Kritiker bluten zu lassen? Es wäre gewiss vulgär, Dichter und ihr Treiben allein auf Persönliches herunterzustutzen. Was derart auffällig jedoch vom Dichter selbst ins Szene gesetzt wird, darf als Hinweis verstanden werden. Dichtung ist der Ort, wo Subjekt und Objekt organisch werden, wo die Untrennbarkeit von Urteil und Sentiment, von Weltdingen und Persönlichkeit nicht bloß unvermeidlich, sondern regelrecht Tugend ist. Man kann nachtragend sein wie Charlie Meadows und trotzdem meinen, was man sagt. Und ohne Bedenken können wir das lyrische Subjekt mit dem Dichter gleichsetzen, denn zweifellos spricht ER hier selbst und will dafür von dir, mir und dir bestaunt sein.

Für seine Kühnheit natürlich, verlästert und nützlich zugleich, und mehr ist da dann auch nicht. Augenfällig die Eitelkeit, mit der er sich behandelt, als setze ihn der bloße Besitz einer Meinung ins Recht, seinen Mitmenschen die Zeit zu stehlen. »Was gesagt werden muss« könnte treffender »Ich wollte nur mal sagen« heißen, denn weder in dem, was er sagt, noch darin, wie er es sagt, liegt irgendein Mehrwert. Es könnte ja gemeingefährlich sein und dennoch pfiffig; neben Ressentiment und Bosheit auch Treffendes und Tiefes enthalten. Allein, Grass bleibt Grass und hätte vertrackte Schönheit wie die »Bekenntnisse eines Unpolitischen« oder die »Reflections on the Revolution in France« nie hervorbringen können.

Über die Form des Gedichts lässt sich noch weniger sagen, einfach weil es keine hat. Grass reicht uns seine Ungereimtheiten ohne Reim dar. Ein Metrum fehlt gleichfalls, weshalb die gebrochenen Zeilen Verse bloß fürs Auge machen, von denen das Ohr nichts hört. Stilistisch steht Grass dabei, wie immer, im die Poesie konstituierenden Widerspruch von Kraft und Eleganz so weit von letzterer, wie es irgend geht. Doch auch die Kraft ist bei ihm bloß Kraftmeierei, sein Stil eigentlich Manier, seine Unfähigkeit zur formalen Bewältigung so deutlich, wie einst von Robert Gernhardt in der Polemik gegen das Grassische ›Sonett‹ festgehalten.[3] Desgleichen der Wortbestand: »Machtbereich«, »Beweiskraft«, »Spezialität«, »Zulieferer«, »Tatbestand«, »Wiedergutmachung«, »nukleares Potential« oder, nun wirklich von keiner Karikatur mehr zu übertreffen: »eine unbehinderte und permanente Kontrolle / des israelischen atomaren Potentials / und der iranischen Atomanlagen / durch eine internationale Instanz / von den Regierungen beider Länder«. Diese Politprosa, mit der selbst ein Praktikant bei der dpa wenig Aussicht auf längere Beschäftigung hätte, wird ganz dem Urteil gerecht, das Peter Hacks einst über Grassens Brecht-Denunziation ruchbar machte, nämlich dass ihr etwa so viel Poesie innewohne wie dem Godesberger Programm.[4]

Allein das Bild von der letzten Tinte sowie die geschickte heterologische Konstruktion, darüber zu reden, dass man nicht redet, worüber man gerade redet, ließen sich mit Vorsicht als Eigenheiten angeben, die mehr als bloß (in des Wortes doppelter Bedeutung) gemein sind. Reich-Ranicki schreibt, Grassens Hang zum Politisieren habe ihn zunehmend am Dichten gehindert; wahrscheinlicher ist, umgekehrt, dass Grass früh seine Unfähigkeit zur Poesie und organisierten Erzählung bemerkt hat und ihn diese Ahnung mehr und mehr ins Politisieren trieb. In diesem Sinne, doch bloß in diesem, erweist sich »Was gesagt werden muss« als organische Einheit eines Inhalts mit einer Form. Es ist so wenig gefertigt, so wenig geschrieben, dass man den Eindruck hat, man wohne einem morgendlichen Diktat zwischen zwei Stuhlgängen bei.

So fasse man das Gedicht als das, was es ist: eine prosaische Mitteilung zum politischen Gebrauch. Drei Jahre vor dem Tod seines Urhebers entstanden, gleicht es dem Hölzernen Pferd. Es ist ein Abschiedsgeschenk, der Welt hinterlassen, um über das biologische Dasein seines Schöpfers hinaus Unfrieden zu stiften. Es hat drei Ausdehnungen, handelt von der Rede, der Welt und der Zukunft. Um die sichtbar zu machen, muss man sie strenger auseinanderstellen, als das Gedicht es tut, wenn es unablässig zwischen diesen Themen hin- und herspringt.

Grass redet nicht einfach über das Thema. Sein Thema ist das Reden über das Thema. Es geht also um Israel und um das Reden über Israel. Zunächst fällt am Titel auf, dass der Autor sich damit von seiner eigenen Rede distanziert. Es soll nicht, es muss gesagt werden. So gibt er die Verantwortung ab für das, was natürlich gar nicht gesagt werden muss, sondern vielmehr er höchstselbst unbedingt sagen will. Schon hier, im Titel, bereitet Grass sich auf die Rolle des zu Unrecht Verfolgten vor, die er eigentlich erst im Nachspiel der Veröffentlichung spielen muss.

Einigermaßen geschickt ist, dass die Rede in Form der Nichtrede erscheint, als Schweigen. Die so entstehende Paradoxie eines ausgesprochenen Schweigens (»Warum schweige ich«) lässt aufmerken und die Beklemmung fühlen, in der der Autor sich fühlt. Zugleich spricht er vom Verschweigen, was schon mehr ist. Der eigentlich Unbeteiligte wird zum Geheimnisträger, sein Schweigen zur Tat. Dass er es nun bricht, damit zum Akt von Zivilcourage. Man ahnt sogleich, noch in den ersten Zeilen, dass dieser Komplex um Schweigen & Schuld die eigentliche Botschaft des Gedichtes ist. Wie aufgeladen und geschraubt dieser Zugriff ist, wird dort deutlich, wo es heißt, er untersage sich, jenes Land, um das es geht, beim Namen zu nennen. Zu einem Zeitpunkt im Gedicht, an dem jeder längst weiß, worum es geht, dehnt der Dichter das Schweigegebot, das er allein sich auferlegt hat, und dadurch soll der Eindruck entstehen, sein Bruch des Schweigens sei ungeheuerlich. Ohne dass der Name ›Israel‹ fällt, wird er bereits herausgeschrien im Ohr des Hörers, der die Lücke des Nichtgenannten sonder Mühe schließt.

Alle diese Manöver, von der Wahl des Titels bis zum Komplex des Schweigens, schaffen den Eindruck außerordentlicher Unfreiheit, den der in Ressentiments geübte Leser sogleich in Schuldzuweisung gen Israel und zionistische Lobbygruppen überführen soll. Das Gedicht zeugt den Eindruck, als müsse nun endlich einmal ohne Umweg gesagt werden, was gesagt werden muss. Bei aller Schlichtheit jedoch ist es textstrategisch gewieft und hochtoxisch. Es geht nicht um das, was gesagt werden muss, sondern darum, dass gesagt werden muss, was gesagt werden muss. Das angezeigte Vorhaben, endlich frei zu reden, wird durch die umständliche Redeweise sogleich wieder in einen Zusammenhang der Beklemmung und Unterdrücktheit befördert, obschon gar kein Redeverbot vorliegt. Was vorliegt, das ist eine Erwartung, nämlich, dass auf eine Rede eine andere folgen werde. Und deren Inhalt kennt der Redende genau, weil ihm der toxische Gehalt seiner Rede durchaus bewusst ist. Er weiß, dass ein antisemitisches Stereotyp den Vorwurf des Antisemitismus heischt, allein seine zugezogene Weltsicht mag das Stereotyp nicht als solches erkennen, und daher muss er seinen Spleen der Umgebung zuschreiben: »das Verdikt ›Antisemitismus‹ ist geläufig«. ›Warum‹, soll das heißen, ›wage ich nicht zu sagen, dass Israel die alleinige Schuld am Nahostkonflikt trägt und die Vernichtung eines anderen Volkes plant? Weil man mich dann einen Antisemiten nennte.‹ Kein Zweifel, nicht diese Meinung ist für Grass das Problem, sondern der daraus folgende Vorwurf.

Die Rede hat was Fängerisches. Zunächst, wie gesagt, bereits dadurch, dass der Redende doch sagt, was er angeblich nicht sagt. Dann dadurch, dass er eine Voraussetzung mitnimmt, die eigentlich keine Voraussetzung sein kann, weil sie erst noch bewiesen werden müsste. Ich spreche von der Alleinschuld und Aggression Israels. Und schließlich dadurch, dass Grass in seinem Gedicht eine Struktur bedient, die im gesellschaftlichen Verkehr zur Entstehungszeit des Gedichts so alt noch nicht war. Ich habe sie einmal, mit Blick auf Sarrazin und später Matussek, als prospektive Selbstanzeige bezeichnet[5], und sie wird bemüht, wo der Redende in der Ahnung, dass seine Rede der Gegenrede nicht werde standhalten können, mit einer Voraussage ein zweites Feld schafft, auf dem er schließlich doch irgendwie recht behalten kann. Wenn Grassens Gedicht schon bei der ersten flüchtigen Prüfung durch Vernunft und gegen Tatsachen zusammenfiel, es blieb die Befriedigung zurück, die Aufregung darum vorhergesagt zu haben. Und wo Aufregung ist, stellt sich wie von selbst der Eindruck getroffener Hunde ein. Denn dass weiß jeder Provokateur, dass Hunde grundsätzlich nur bellen, wenn sie getroffen wurden. Dass der massive Widerspruch gegen das Gedicht mit seinen nicht weniger als hetzerischen Bezichtigungen zu tun hat, die Aufregung, heißt das, genau entsteht, weil die Bezichtigung ungeheuerlich ist, und also gerade nicht, weil sie zutreffend wäre, ist da schon außer Betracht.

Die Kehrseite schließlich dieser Selbstanzeige ist, dass sie den Gegner in eine Zwickmühle treibt. Entweder schweigt er zu dem Angriff, überlässt also den Grassen und ihren Verleumdungen das Feld, oder er widerspricht und bestätigt ihnen so die eingebildete Unterdrückung, die in nichts anderem liegt, als dass den Grassen widersprochen wird. Endlich gibt sich damit zu erkennen, was das eigentliche Problem unseres Verfassers ist. Der gar nicht so stille Wunsch nach einer Welt ohne Widersprüche und ohne Widerspruch. Einer Welt, in der er sagen kann, was immer er will, ohne dass da noch jemand wäre, der sich wehrt. Einer, worin Urteil totale Herrschaft oder wenigstens vollkommene Kontrolle feiert.

Dies reichlich neurotische Verhältnis zur allgemeinen Möglichkeit von Gegenrede korrespondiert wie natürlich mit einem neurotischen Weltbild, über das sich gleichfalls sagen lässt, dass sein Kontakt zum Vorhandenen bestenfalls lose ist. Da liest man etwa vom »brüchigen Weltfrieden« und fragt sich sogleich, von welcher Welt der Autor da spricht. Die, in der wir leben, mit ihren 15 bis 20 dauerhaft und phasenweise laufenden Kriegen pro Kalenderjahr, kann es nicht sein. Die Vorstellung eines Weltfriedens, der ja erstmal vorhanden sein müsste, um brüchig sein zu können, ist sowas wie das Saatgut des Antisemitismus schlechthin. Der Jude ist von jeher der Störer eines eingebildeten Friedens, der ohne ihn angeblich Bestand hätte.[6] Da finden sich, weiter im Text, populistische Verdrehungen wie etwa der Hinweis, dass im Iran »die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist«, und beinahe vergisst man beim Lesen, dass es im Konflikt mit dem Iran ja gerade darum geht, dieses Land am Bau der Bombe zu hindern. Da liest man auch, dass die nukleare Macht in Israel »außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist«, und das bedeutet nicht weniger als die Kontrollmechanismen des Judenstaats und damit den Judenstaat selbst zum Teil des Problems, des nicht kontrollierbaren Chaos in Nahost zu machen, denn Kontrolle über die israelischen Atomanlagen scheint offenbar erst dann gegeben, wenn sie nicht von Instanzen innerhalb Israels, sondern vom (nicht-jüdischen) Ausland ausgeübt wird. Für Günter Grass war es offenkundig ein Problem, dass Juden sich selbst bewaffnen und ihre Verteidigung in die eigenen Hände nehmen. Da phantasiert der Autor ferner etwas vom »behauptete(n) Recht auf den Erstschlag«, der »das iranische Volk auslöschen« könnte, obgleich dieses Recht nicht nur nie behauptet worden ist, sondern sich auch kein Anzeichen findet, dass Israel sich ein solches zu nehmen gedenkt. Es sei denn, »Erstschlag« meinte die Zerstörung der iranischen Atomanlagen. Das zum einen aber wäre kein Erstschlag, und zum anderen zeigt das Szenario vom Genozid am iranischen Volk, dass nicht der konzentrierte Schlag gegen die Anlagen, sondern ein veritabler Atomkrieg bloß gemeint sein kann. Und wohlgemerkt keiner zwischen zwei Atommächten, sondern die präventive Vernichtung eines Volks, das keine Möglichkeiten eines atomaren Gegenschlags besitzt. Wäre nicht genau das gemeint, müsste wohl von der Auslöschung auch anderer Völker als nur des iranischen die Rede sein. Die U-Boote übrigens, von denen Grass ohne rechte Kenntnis redet, haben nicht die Funktion eines Erstschlags zu garantieren, sondern einen Gegenschlag auch dann zu ermöglichen, wenn das flächenmäßig kleine Land von einem atomaren Erstschlag durch den Iran zu großen Teilen zerstört wäre. Diese Boote, die von Grass mitsamt der atomaren Bewaffnung Israels zur Ursache des Nahostkonflikts erklärt werden, machen tatsächlich der antisemitischen Internationale klar, dass ein zweiter Holocaust nicht ohne Kosten zu haben sein wird. Dass hingegen der Turnus hochrangiger Politiker des Iran, Israels vollständige Vernichtung anzukündigen, diese Strategie notwendig macht, muss der neurotische Beobachter auf der Suche nach der Alleinschuld ausblenden. Die Verniedlichung des damaligen iranischen Präsidenten als »Maulhelden«, als Akteur mithin, dessen Worten garantiert keine Taten folgen werden, ist nicht bloß Ausdruck des Nichtwissenwollens, sondern das passende Gegenstück zur Schuldzuweisung. Erst dort, wo die Feinde Israels als harmlos hingestellt werden, wird möglich, die Schuld ganz auf der einen Seite zu parken. Und natürlich genau auf der falschen Seite, denn bekanntlich droht der Iran Israel mit Vernichtung und nicht umgekehrt.

Von diesem Bild der Welt kommt man leicht auf den Entwurf der Welt. Wenn Sozialdemokratie von jeher in Fragen der Utopie zumindest versetzungsgefährdet war, zu einer Verwurstung der Utopie in ein Vernichtungsszenario reicht es dann doch noch. Hier muss ein Element zurückgeholt werden, das ich in der Passage über die Rede, wo es hingehörte, ausgelassen habe. Ich spreche vom »nie zu tilgende(n) Makel«, der »Herkunft«. Man muss Grass nicht daran erinnern, dass er Deutscher ist, er tut es selbst. Er, niemand anders, bringt seine Herkunft, eine unveräußerliche Eigenschaft also, für die der Betreffende nichts kann, und nicht etwa seine Taten ins Spiel. Die darin anvisierte Verkehrung der Täter-Opfer-Beziehung, indem nun der Deutsche als für seine Herkunft Verfolgter erscheint, zeigt zudem den eigentlichen Impuls des Gedichtes an. Auf der Weltebene, also dort, wo Grass spricht und nicht das Sprechen übers Sprechen zum Thema macht, spielt Deutschland eine bestenfalls distanzierte Rolle. Es geht ein wenig um die Schuld des Holocausts und die Zulieferung künftiger Verbrechen (die von Israel, versteht sich), und gewiss ahnt man an der Stelle, an der davon die Rede ist, dass von Israel kontrollierte Atomwaffen stets außer Kontrolle sind, wer denn nun anstelle des israelischen Staates diese Waffen und eigentlich gleich den ganzen Staat kontrollieren soll. Doch es geht gar nicht so sehr um aktive Kontrolle durch Deutschland, sondern vielmehr darum, dass das Land, das als solches ein Ärgernis ist und dem der Dichter sich »verbunden« fühlt (wie einem Sandsack beim Ertrinken), seine Souveränität aufgibt und damit aufhört, ein Staat zu sein. Grassens utopische Lösung ist, dass der Iran und Israel sich gemeinsam einer internationalen Kontrolle unterwerfen. Der Iran ist in Grassens Vision das Bauernopfer und hat neben Israel den Preis zu zahlen, damit Deutschland sich wieder frei fühlen kann. Nicht einmal die eigene (deutsche) Souveränität soll aufgegeben werden, um die Unterwerfung und Quasiliquidierung Israels zu erreichen.

Das deutsche Empfinden ist der heimliche Hauptdarsteller in dieser internationalen Lösung. Der Iran, das Land, in dem die Vernichtung Israels Teil der Staatsdoktrin und die entsprechende Androhung ein gewöhnliches Element der politischen Verkehrssprache ist, das Land zudem, mit dem die deutsche Wirtschaft beste Kontakte pflegt, wird zum Kollateralschaden, weil er im Weltbild des Dichters bloß als Feindbild (und nicht als Feind) Israels Gefahr bedeutet. Der einzige Akteur, der in diesem Dreieck Frieden bringen könnte, indem er keinem Zwang folgt und gegen keine reale Bedrohung handelt und er einfach unterlassen muss, aggressiv zu sein, das ist Israel. So bleibt, bei Einberechnung des intendierten Richters, der vorgeschlagene Kompromiss bloß scheinbar, da Deutschland, ohne die eigene Souveränität aufgeben zu müssen, dem israelischen Staat die seine nehmen kann, und wer in dieser Konstruktion so etwas Ausgewogenheit zu erkennen glaubt, sollte sich fragen, wieviel Grass bereits in ihm selbst steckt.

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zuerst u.d.T. »Eine kleine Opferette« in: ND v. 1./2. April 2017.

Noten

[1] Marcel Reich-Ranicki: … und es muß gesagt werden. In: Der Spiegel 34/1995, S. 162–169.

[2] zuerst veröffentlicht in: Süddeutsche Zeitung v. 4. April 2012, S. 1.

[3] Robert Gernhardt: Ehrenrettung eines alten Reimlexikons. In: Ders.. Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik. Frankfurt a.M. 2010, S. 78–80.

[4] Peter Hacks: Versuch über das Libretto. In: Ders., Werke. Bd. 14, S. 29.

[5] Vom Zweck der Selbstanzeige (Neuestes vom Parnassos, 17. Februar 2014).

[6] genaueres hierzu: Nahost! Nahost! oder Zur Romantik des Weltfriedens. In: Odysseus wär zu Haus geblieben. Berlin 2015, S. 237–274.

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