Okt 182019
 

»Born in Evin«

Vorm Hintergrund erst des Wissens, wie entscheidend der frühkindliche Abschnitt für die Entwicklung jeder Persönlichkeit ist, erhält dieser Film seine Tragweite. Ungemein persönlich tritt er auf, gleichwohl exemplarisch. Maryam Zaree – Regisseurin, Autorin, Protagonistin – wurde als Kind inhaftierter Dissidenten 1983 im Evin-Gefängnis nahe Teheran geboren und verbrachte dort die ersten Jahre ihres Lebens. Heute arbeitet sie als Schauspielerin in der Bundesrepublik und findet, da kaum jemand mit ihr über diese Jahre reden will, für angezeigt, ein solches Reden zu erzwingen. Ich denke, so muss man diesen Film fassen. Als letztes Mittel eines Menschen, sein Recht auf Wissen durchzusetzen.

Die eigentümliche Werkform scheint in diesem Zusammenhang aufzugehen. »Born in Evin« ist eher ein Essayfilm als eine Dokumentation. Das Diegetische dominiert das Mimetische. Die Gedanken der Erzählerin machen die Struktur, nicht das Geschehen selbst, was auf einen Fall passt, wo sich nichts zur Lösung treiben lässt, wo es bloß ums Ergründen der verfahrenen Lage gehen kann, wo Montage die Konstruktion ersetzt. Auch die Kamera weicht von den Konventionen des Dokumentarfilms ab, in Richtung Spielfilm: Mehrere Objektive erfassen den Raum im 180°-Bogen; dadurch wird möglich, innerhalb der Szenen zwischen verschiedenen Einstellungen zu springen. Man vergisst mitunter, dass gerade dokumentiert wird.

Die Bewegung vom Objektiven weg mag Programm sein, zum Teil scheint sie einfach den Umständen geschuldet. »Born in Evin« ist ein Film, in dem viel geredet wird. Darunter viel, um über Bestimmtes gerade nicht zu reden. Ein Film somit auch darüber, dass nicht geredet wird. Man handelt und erklärt sich auf drei Ebenen. Zunächst auf der Ebene der Vergangenheit, den Geschehnissen in Evin. Dann auf der der Gegenwart, den Spuren des früheren Leids in Seelenleben der Opfer. Und schließlich dort, wo das Reden selbst zum Thema wird. Der Zugang zur zweiten Ebene wird durch das Schweigen der älteren Generation erschwert. Dass die erste Ebene dünn bleibt, hingegen, ist durchaus selbstverschuldet. Man erfährt kaum Instruktives über die Geschichte des Iran, nichts vom Sturz Mossadeghs (dem eigentlichen Wendepunkt der Geschichte), wenig vom Schah, und dadurch hängt auch die islamische Revolution seltsam unbegriffen im Raum. Gleichfalls unzulänglich zeigt sich die Behandlung des Strafsystems in ein paar niederschmetternden Anekdoten, die keinen Zusammenhang machen. Man sieht das Vergangene gegenwärtig in den Opfern, doch selten sieht man, was da gegenwärtig ist.

Folglich wirkt Zarees Erzählung vorderhand unpolitisch; die islamische Repression bloß dämonisch, anonym, ungesellschaftlich. Politisches wird vor allem durch die Reflexionsebene, die erwähnte dritte des Films befördert. Was benötigt Beschäftigung mit der Vergangenheit? Warum schweigen die Eltern? Darf ich mich selbst zum Thema erlebter Geschichte machen? Darf ich eine Geschichte schreiben anstelle von Geschichtsschreibung?

Indem der Film das Subjekt ins Zentrum stellt, stößt er ein emphatisches Statement aus, wenn auch ein unzulängliches. Attackiert wird das ideologische Geflecht des Islam, worin der Einzelne nichts ist und ein krasser Subjektivismus von einer subjektfeindlichen Scheinobjektivität verborgen gehalten wird. Auf diese sich im theologischen Dogma verleugnende Irrationalität kann die liberale Kultur des Westens nur mit einer offenen Irrationalität reagieren, die den Einzelnen zum Maß aller Dinge macht. So erweist sich dieser Konflikt, wie alle anderen unserer Zeit, als Kampf von Teilunwahrheiten, deren Gemeinsamkeit in der Verunmöglichung gedanklicher Totalität liegt. Alle Irrtümer bekämpfen einander, aber gemeinsam die Wahrheit. Auch »Born in Evin« ist nur ein Kind des spätimperialistischen Zeitalters.

Es sind die Gesten, nicht die Gedanken. Darin erlangt der Film seine Stärke. Maryam Zaree erweist sich hierbei als Glücksfall – smart, selbstbewusst, mokant, burschikos, ohne die eigene Gebrochenheit, die eigenen Schwächen zu verdecken. Stärke ist, Gefühle herzeigen zu können. Zarees Verletzlichkeit scheint ein Panzer; sie schützt sich gerade mit dem, was eigentlich geschützt werden sollte. Die Paradoxie trägt den Film insgesamt. Alle Fäden finden in der Protagonistin geklammert zueinander.

Zum andern gelingt ihr als Regisseurin bildsprachlich Großes. In einem Motiv etwa, das dem Film vorangestellt ist: Nach dem Talmud tragen die ungeborenen Kinder eine Kerze über dem Kopf, die ausgeblasen wird, wenn sie geboren werden. Passiert das, vergessen sie alles, was sie wussten, und müssen es im Laufe des Lebens erst wieder lernen. Man denkt an Platons Anamnesis oder gleich an Itzik Mangers »Buch vom Paradies« – und ist dann beinahe etwas enttäuscht, wenn Zaree den Mythos psychologisch und nicht philosophisch deutet.

Ein anderes Motiv zieht sich durch den gesamten Film: Wiederholt sehen wir die Protagonistin nach einem Sprung mit dem Fallschirm kämpfen. Ein Fallschirm ist ein Gerät, das man braucht, um auf der Erde zu landen. Aber am Boden ist es bloß noch hinderlich; es stört beim Laufen. Was einmal nötig war, muss überwunden werden. Ebenso verhält es sich mit der Entscheidung, nicht drüber zu sprechen. Verdrängung ist ein Akt der Verarbeitung, doch irgendwann reicht das nicht mehr. Es gibt kein richtiges Leben im Fallschirm.

»Born in Evin«
Deutschland 2019
Regie und Drehbuch: Maryam Zaree
Länge: 96 Minuten
Starttermin: 17. Oktober 2019

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in: ND v. 18. Oktober 2019.

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