Nov 042019
 

»Invisible Sue«

Das ist einer der Filme, die man wirklich mögen möchte. Neben »Unheimlich perfekte Freunde« gehört »Invisible Sue« zu den deutschen Kinderfilmen des Jahres, die sich von Instantnahrung wie »TKKG«, »Die Drei !!!« oder »Ostwind – Aris Ankunft« schon dadurch abheben, dass sie mit einer selbständigen Idee auftreten. Leider zieht der Film vor, unter der selbst hochgelegten Latte hinweg zu tauchen.

Vielleicht liegt das, wie oft, am deutschen Filmsystem, worin seit elend langer Zeit Köpfe über die Verteilung von Mitteln entscheiden, die vom Genre nichts verstehen und diesen Mangel mit Verantwortungsgefühl ausgleichen. Dadurch haben es artifizielle Filme ebenso schwer wie unbefangen unterhaltsame. Vielleicht auch bloß hat Markus Dietrich (Autor & Regisseur) zu viel auf einmal packen wollen: einen comicartigen Stoff nicht adaptieren, sondern ad hoc erfinden, dann mit einer kindlichen Hauptfigur, zudem einer weiblichen versehen, und all das passiere gar noch in Deutschland. Neuland erschließen kostet Kraft, die von der künstlerischen Gestaltung abgezogen wird. Andererseits gelang Likarion Wainaina letzthin mit »Supa Modo« (2018) zu zeigen, wie sich unter bescheidenen Geldmitteln ein Superhelden-Stoff mit einer weiblichen, kindlichen Hauptfigur bewältigen lässt. Meisterlich nämlich. Das Problem von »Invisible Sue« beginnt schon da, dass man nicht weiß, für welches Publikum der Film gedacht sei. Er ist kein Kinderfilm, dazu scheint er nicht einfach genug, setzt zu viele Twists und verzichtet nicht auf für Kinder langweiliges Gerede über Technik. Und ist kein Film für Erwachsene, hierfür bleibt er zu naiv, zu unbedarft und schematisch.

Die zwölfjährige, hochbegabte Sue ist in ihrer Schule ein Außenseiter. Sie wird von Lehrern und Mitschülern gern übersehen. Leidenschaftlich liest sie Comic-Geschichten über Superhelden. Ihr Vater fördert ihre kreative, geistige Seite. Ihre Mutter, die als Leiterin eines Labors arbeitet, hat wenig Zeit. Eines Tages kommt es im Labor zu einem Unfall, in dessen Folge Sue die Fähigkeit erhält, sich unsichtbar zu machen. Die kann sie zunächst nicht kontrollieren, und recht bald sind ein paar sinistere Gestalten hinter dem Serum her, das das Mädchen verändert hat. Als schließlich noch ihre Mutter entführt wird, holt Sue gemeinsam mit ihren Freunden Kaya und Tobi zum Gegenschlag aus.

Erwartungsgemäß spart der Film nicht mit Eastereggs. Das gelingt recht charmant, auch weil nicht alle Anspielungen mit der Comic-Sphäre zu schaffen haben. Im Finale etwa sieht man eine Flucht auf dem Fahrrad, die bildhaft »E.T.« (1982) zitiert. Oder Sue schlägt den Schal übers Gesicht, dass man sich dezent an Claude Rains als »Invisible Man« (1933) erinnert fühlt. Ein Hologrammtool, das Sue behilflich ist, meldet sich mit den Worten des holographischen Doktors aus »Star Trek Voyager« (1995–2001): »Bitte nennen Sie die Art des …«. Es heißt Alfred, wie Batmans Butler, und wird gesprochen von Jürgen Thormann, der die deutsche Standardstimme für Michael Caine stellt, den man in Christopher Nolans Batman-Filmen (2005, 2008, 2012) als Alfred kennt. Ebenfalls auf die Dark-Knight-Reihe spielt die Innenarchitektur des Labors an, in dem Sue mit dem Serum in Berührung kommt, es gleicht der geheimen Etage im Wayne Tower. Die Firma, der das Labor gehört, heißt DEC, was an DC erinnern soll. Eine ältere Dame bewegt sich im Rollstuhl durch die Handlung wie Charles Xavier.

Eigenartig an diesen Referenzen ist, dass der Film sie gar nicht nötig hatte. Die hohe Menge von Anspielungen in den filmischen und literarischen Werken der letzten Jahrzehnte, der fast zwanghafte Bezug des Filmbetriebs auf sich selbst, steht im Zusammenhang mit dem ubiquitären Gefühl, kaum noch neu sein zu können. Fast alles, was getan wird, wurde schon einmal getan. Die Anspielung ist der Versuch, mit diesem Problem offensiv umzugehen. Ein Film folglich, der Neues wagt, bedarf ihrer nicht.

Aber das Neue muss künstlerisch bewältigt worden sein. Der starken Visualität des Films – dem ungewöhnlichen Kampf von Dunkelheit und gesättigten Farben, dem Einsatz der Unsichtbarkeit, dem detaillierten Szenenbild – steht ein Schauspiel gegenüber, das wirklich nicht gut ist. Nie kommt ein Fluss auf, die Sprechweise ist zu künstlich, um natürlich wirken zu können, aber nicht kunstvoll genug, um ästhetisch zu genügen. Das hat nicht allein mit der Hauptdarstellerin zu tun, doch zwischen dem, was Ruby M. Lichtenberg hier einbringt, und dem, was Julius Weckauf in »Der Junge muss an die frische Luft« (2018) geleistet hat, liegt mehr als bloß eine Superkraft. Der eigenartig stockenden Spielweise des gesamten Cast entspricht dann auch die Dramaturgie, die das durchaus zusammenhängende Geschehen wie eine Reihung von Episoden behandelt. Szenen heben an, setzen ab, heben an, setzen ab.

Auch wenn vieles nicht richtig ausgespielt wird, offenkundig wurde hier einiges begriffen. Der Superheld ist seit je der Versuch, den antiken Helden – den Herakles-Typus (Superman, Spider-Man, Thor, Doctor Manhattan) und den Odysseus-Typus (Batman, Tony Stark) – in der Popkultur aufleben zu lassen. Er taugt damit zur Metapher. »Invisible Sue« folgt, was das Setting betrifft, eher dem Marvel- als dem DC-Muster; die Heldin ist nicht bereits superior, weder charakterlich noch durch angeborene Kräfte, sie ist eine wie jede andere, die Kräfte fallen ihr zu. Damit ermöglicht sich das klassische Entwicklungsmuster des Helden wider Willen: Sie muss zunächst bewältigen, dass sie nun anders ist, dann die Kräfte beherrschen lernen, schließlich begreifen, dass eine Kraft zu haben Verantwortung übernehmen bedeutet, weil die Kraft als solche keinen Wert hat, sondern erst dadurch einen erhält, dass sie zum Besseren eingesetzt wird. Im Grenzwert dieser Moralität des Superhelden liegt der Gedanke, dass der Superheld sogar auf seine Kraft verzichten müsse, wenn es das Wohl derer erfordert, die er beschützt. Natürlich muss er das schließlich nicht, die Geschichte soll ja weitergehen. Alle diese Elemente finden wir an Sue wieder.

Zugleich entfaltet sich in ihrer Kraft, was als kraftlose Eigenschaft schon vorhanden war. Sue ist eine Außenseiterin, die von Lehrern und Mitschülern ignoriert oder übersehen wird. Die vormaligen Schwächen zu Stärken machen, das ist die Formel des Außenseiters. Im Kern wahrt dieser Film eine liebenswerte Botschaft, dass nämlich Kind zu sein sich manchmal anfühlt, als werde man nie mehr aus der Rolle herauskommen, die das mobbende Mehrheitskollektiv einem zugedacht hat, dass es aber auch bedeutet, sich an die Zukunft erinnern zu können, in der das nicht so bleiben muss.

»Invisible Sue«
Deutschland, Luxemburg 2018
Regie: Markus Dietrich
Drehbuch: Markus Dietrich
Darsteller: Ruby M. Lichtenberg, Anna Shirin Habedank, Lui Eckardt
Länge: 93 Minuten
Starttermin: 31. Oktober 2019

—-

in: ND v. 4. November 2019.

Sorry, the comment form is closed at this time.