Okt 052019
 

»Skin«

Es scheint retrospektiv fast zwingend, dass Regisseur Guy Nattiv den Stoff um den Neonazi Bryon Widner von der Erzählung weg auf die Bildsprache hin gestaltet hat. Denn nicht der Inhalt, nicht die Erzählung – das titelgebende Motiv der bemalten Haut macht die Besonderheit dieser Biographie. Widner musste seinen Ausstieg aus der Szene ebenso auf der Haut vollziehen wie darunter. Insgesamt 612 Sitzungen waren nötig, die zahllosen Tattoos verschwinden zu lassen, die seinen Körper bis ins Gesicht bedeckten. Dass das Entfernen so schmerzhaft wie das Tätowieren war, kann als lex talionis verstanden werden: die Strafe spiegelt das Vergehen.

Wir befinden uns 2009 in Ohio, dem Arbeiterstaat im mittleren Norden der USA, wohin vom schönen Schein des Posterboys Obama nur wenig reicht, wo Armut gedeiht und damit auch rechtes Denken. Bryon Widner (Jamie Bell) lebt hier in einer Art Sekte, angeführt von seinen Zieheltern Fred (Bill Camp) und Shareen Krager (Vera Farmiga), die ihn einst von der Straße geholt haben. Bei einem Konzert lernt er Julie (Danielle MacDonald) kennen, die Mutter dreier Töchter und eben dabei ist, aus der Szene auszusteigen. Nicht Erkenntnisse besorgen, dass Bryon sich von seinem Leben als Nazi löst, es ist das Leben selbst, die Liebe, die Verantwortung für andere Menschen.

Der Film konzentriert sich auf den Ausstieg, der mit ruhigem Tempo, aber straight erzählt wird. Die gesamte Dramaturgie beruht darauf, dass ein Mensch mit einer Entscheidung kämpft. Diese Innerlichkeit wird im äußerlichen Skin-Motiv gespiegelt. Vorausblenden zeigen das schmerzhafte Lasern, mit dem die Tattoos beseitigt werden. Die körperliche Mühe nach dem Ausstieg rekapituliert die seelische währenddessen. Man steigt noch lange aus, nachdem man ausgestiegen ist, soll das wohl heißen.

Die dynamische Kamera, die sich wie ein Akteur im Raum bewegt, der Stress der Soundeindrücke vor allem in Form atonaler, anstrengend zu hörender Streichmusik, das intensive Spiel Jamie Bells, dem der innere Wandel in den Augen anzusehen ist, lange bevor er ihn das erste Mal artikuliert, all diese Griffe bezeigen, dass »Skin« mehr über die Mittel als über die Inhalte kommt. Die bürgerliche Gesellschaft, jener stets fruchtbare Schoß, »aus dem das kroch«, bleibt unverhandelt. Alles ist anthropologisch, der Neofaschismus ein ausbuchstabierter Hass-Affekt.

Allein, Nazis haben eine Vorstellung von der Welt. Was wollen sie? Woher kommt, was sie wollen? Wie steht das im Zusammenhang mit der konkreten Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft? Dergleichen auszublenden ist heute, da politische Bewegungen bevorzugt an ihren Affekten gepackt werden – man von Wutbürgern redet, von besorgten Bürgern, von Neidkultur oder Hatespeech –, ganz im Geist der bürgerlichen Mitte und hat den konvenienten Effekt, alle möglichen Varianten des Exzentrischen in eins werfen zu können. Wer Clinton ablehnt, gilt als Trumpist; wer die EU kritisiert, als AfDler; wer daran glaubt, dass Geheimdienste ihre Arbeit machen, als Reichsbürger.

In dieser Klemme gewinnt »Skin« dennoch eine psychologische und eher indirekt politische Bedeutung, die sich aus dem Titel-Motiv zunächst noch nicht ableiten ließ. Was es bedeutet, sich dauerhaft Parolen und Symbole auf Stellen des Körpers zu malen, die jeder jederzeit sehen kann, wie sich anfühlt, wenn ein Mensch zur Wandzeitung wird, wenn er nicht mehr Botschaften hat, sondern selbst die Botschaft geworden ist, das bleibt in den Bildern und kommt nicht in die Worte. Das eigentliche Thema des Films scheint ein anderes.

Bryons Ausstieg beginnt, wie gesagt, nicht mit Einsichten, sondern mit der Liebe. Dass die ein erster Schritt zur Menschwerdung sein, aus der Sorge um einen Menschen die Sorge um Menschlichkeit werden kann, ist von »Romeo und Julia« über »Die Sorgen und die Macht« bis hin zum Professor Snape in »Harry Potter« ein oft gespieltes Sujet. Bryon hat mit dem Ausstieg aus der Nazi-Szene auch den Wechsel von einer scheinbaren zu einer echten Familie vollzogen. Der Prozess wird breit entfaltet und geht bis ins Sexuelle. Wenn er Julie die Worte »Ich will in dir sein« zärtlich ins Ohr flüstert, geht es nicht zuerst um Penetration, sondern vielmehr um den Wunsch, jemand anders zu werden, indem man sich in einem anderen verliert.

Diese Art Selbstlosigkeit macht zugleich die Differenz der beiden Familien, zwischen denen Bryon schwankt. Seinem Ziehvater Fred hat er viel zu danken. Der gab ihm Bett, Arbeit, Stabilität und Ausbildung. Doch Julie sagt den Satz, um den sich alles dreht: In echten Familien steht man einander nicht in Schuld (»real family donʼt make you owe shit«). Gegenüber dieser Vorstellung einer Familie, die auf bedingungslose Zuneigung gebaut ist, die keine Gegenleistung verlangt, erweist sich die Fürsorge der Krager-Familie als Köder. Die Kinder werden von der Straße geholt und aus Dankbarkeit zu willfährigen Handlangern. In einer dramatischen Szene nimmt Fred selbst das Wort »business« in den Mund. Er ist nicht Vater, er leitet ein Familienunternehmen.

»Skin«
USA 2018
Regie: Guy Nattiv
Drehbuch: Guy Nattiv
Darsteller: Jamie Bell, Danielle Macdonald, Vera Farmiga
Länge: 118 Minuten
Starttermin: 03. Oktober 2019

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in: junge Welt v. 5. Oktober 2019.

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