Dem Fußball scheint Ähnliches zu blühen wie Apple, Sushi oder Netflix. Er läuft nach wie vor, und irgendwie auch ganz gut, doch das symbolische Kapital schwindet. Längst hat sich Verdrossenheit unter die Begeisterung gemischt, ist das Mythische im Alltäglichen ertrunken und der Reiz verloren, mehr darin zu sehen als darin ist. Die Fahnen, diese elenden, sind heute dünner gesät denn je, und während die WM vor 8 Jahren allgegenwärtig war, ist das einzige, was sich heute noch aufdrängt, das bierselige Antlitz Thomas Müllers beim Rewe.
Es mag wohl sein, dass alles irgendwann mal ausgepresst ist. Vielleicht auch sind die sinkenden Zahlen beim TV und in den Stadien bloß zeitweilig. Man könnte äußerliche Gründe anführen wie etwa, dass der Saisonkalender seit der Jahrhundertwende so dicht besetzt ist, dass die Woche keinen fußballfreien Tag mehr hat. Der Eingriff nicht sportlich erzeugter Mittel zudem, durch den Vereine, die nie eine Rolle spielten, über Nacht in die Spitze katapultiert wurden, stört die romantische Vorstellung, es gehe beim Fußball zuerst um sportlichen Wettbewerb. Der Taktikboom, der das in diesen Belangen stets unterentwickelte Deutschland um 2010 herum erreichte, konnte den Verdruss nur kurzzeitig aufhalten. Skandale schließlich um Korruption und Doping sowie die speziell im Länderspielbereich zuletzt dominanten Spielsysteme defensiver Ausrichtung taten den Rest. Die EM 2016 mit ihrem traurigen Schnitt von 2.12 Toren pro Spiel hatte mit Portugal einen angemessen tristen Meister.
All das wird den Fußball nicht killen – und wenn diese WM mit dynamischem Spielen und schönen Toren startet ohnehin schnell in den Hintergrund treten. Tut sie das nicht, ist auf den Unterhaltungswert schrecklich wichtiger Sportjournalisten noch immer Verlass. Insbesondere wenn sie entschlossen sind, dieser WM aus Gründen, die nichts mit Fußball zu tun haben, keine Chance zu geben. Bei ZEIT online etwa schrieb am 6. Juni einer namens Steffen Dobbert, dass er die WM boykottieren werde. Weil sie in Russland stattfindet nämlich: »Mit der WM-Vergabe an Russland hat der Fifa-Fußball seine Unschuld verloren.« Gemeint ist wohl jene Unschuld, die der Weltverband unter Havelange und Blatter, dem Betrug des DFB um die WM-Vergabe und den Arbeitslagern in Katar angehäuft hat. Alles war so schön, und dann kam Putin. Schon wieder steht der Iwan an der Wolga.
Doch deutsch sein, heißt Gründe haben. Einfach nur irgendwas scheiße finden, das wäre zu ehrlich. Und welche sind es? Ja, die inneren Zustände, die charismatische Herrschaft, das rückständige Denken, und dann trennen sie nicht mal ihren Müll, wie das WM-Heft des Kicker besorgt berichtet. Dobbert seinesteils merkt gerade noch, dass dergleichen ihn in die Schwierigkeit brächte, künftig auch alle anderen Turniere boykottieren zu müssen. Also zieht er eine rote Linie: »Ein Land, das Angriffskriege führt, darf nicht Gastgeber von Großereignissen wie Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften sein.« Um anschließend den Vergleich zum Olympia-Boykott von 1980 zu bemühen. Damals beschlossen die NATO-Staaten unter Führung der USA, die zu diesem Zeitpunkt seit 1945 ca. 20 militärische Operationen jenseits des Bündnisgebiets geführt hatten, wo die rote Linie liege, bei der Sowjetunion nämlich. Heute beschließt die ZEIT, wo sie liegt. Als im Juli 2000 die WM an Deutschland vergeben wurde, hatte die Bundeswehr gerade Belgrad in Asche gebombt. Ich vervollständige meinen Satz. Deutsch sein, heißt Gründe haben, ohne sich von Tatsachen stören zu lassen.
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in: ND v. 16. Juni 2018.
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