Haltungen in der Corona-Krise
Es brauchte keine zwei Wochen Lockdown, bis das Sterben von Mitmenschen für verhandelbar erklärt wurde. Natürlich gleitend. Man wird ja noch fragen dürfen, ob man fragen darf … Man wird ja noch fragen dürfen … Man wird ja noch sagen dürfen. In den USA hat sich in diesen zwei Wochen die Zahl der Todesfälle vervierzehnfacht (von 1.200 auf 16.700), in Deutschland verzehnfacht (von 260 auf 2.600). Aber schön, dass wir das alles so offen diskutieren.
Corona ist mehr als ein Naturereignis. In seiner Bekämpfung drücken sich politische Ideen aus. Wir sehen, bei den USA zu bleiben, die Entfaltung der Wirtschaft-zuerst-Politik, die föderale Idee, Seuchenbekämpfung in die Verantwortung einzelner Bundesstaaten zu legen, den neoliberalen Wahn um Herdenimmunität und schnelle Durchinfektion (wovon man inzwischen, aber zu spät, Abstand genommen hat). Es ist jetzt nicht die Zeit für keine Schuldzuweisung. Viele derer, die gerade sterben, hätten nicht sterben müssen. Man hat sie eines weiteren Sommers, eines weiteren Geburtstags, weiterer Freude an ihren Enkeln beraubt. Man hat für sie entschieden, dass jetzt Schluss sein darf.
Es spielt keine Rolle, ob eine Regierung sich zur raschen Durchinfektion bekennt, wenn sie sie faktisch zulässt. Eindämmung wäre in der Frühphase der Pandemie die einzig effektive und am ehesten humane Strategie gewesen. Eindämmung ist jetzt nicht mehr möglich. Man kann auf einen schnellen Impfstoff hoffen oder darauf, dass der Sommer dem Virus so zusetzt, dass die Lage wieder beherrschbar wird. Hoffen kann man, damit rechnen nicht.
Das Vertrauen auf den Gott aus der Maschine beiseite bleiben drei Szenarien, die im Ensemble bezeigen, wie elend die Lage ist. Das erste wäre die Fortsetzung des gegenwärtigen Lockdowns, was Depression im wirtschaftlichen wie psychologischen Sinn zur Folge hätte (und schon hat). Verbot von Versammlungen, soziale Distanz und Ausgangseinschränkung müssten bestehen bleiben, bis ein Impfstoff gefunden, erprobt und in ausreichender Menge produziert wurde. Der zweite Weg wäre die rasche Durchinfektion, was einen Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung bedeutete und damit einen gewaltigen Anstieg der Todesfälle. Der dritte Weg wäre die selektive Quarantäne aller Risikogruppen. Man entfernt – wie ernsthaft schon diskutiert wird – Menschen höheren Alters, chronischer Erkrankungen und solche mit Immunschwäche aus dem öffentlichen Leben. Damit die Mehrheit der Gesellschaft ihren Normalzustand zurückerhält, sollen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft den Preis zahlen.
Wir haben folglich die Wahl zwischen einer wirtschaftlichen Depression, einer humanitären Katastrophe und einem Quasi-Faschismus. Will irgendwer die These vertreten, dass der erste Weg nicht das kleinste Übel sei?
Der Lockdown ist kein abstraktes Konzept, er kann gestützt, gemildert, seine Dauer verkürzt werden. Der Depression wäre auch unter kapitalistischen Verhältnissen entgegenzusteuern, etwa indem Vermietern und anderen Eignern, die allein von der Rendite leben, das Recht auf spätere Einholung ausgefallener Einnahmen genommen würde. Der Zulassungsprozess für Impfstoffe ließe sich juristisch beschleunigen, Menschen, die ihr Einkommen verloren haben, als vom Staat bezahlte Hilfskräfte in den Bereichen einsetzen, wo jetzt jede Kraft benötigt wird. Sporthallen oder Konzertsäle könnten stationäre Behandlung und Quarantäne andernfalls wieder nach Hause geschickter Verdachtsfälle ermöglichen. Die Zahl der Testungen muss gesteigert, das Tragen von Atemmasken in der Öffentlichkeit Pflicht werden. Als effektiv und damit auf lange Sicht entlastend sollten sich (freiwillige) Tracking-Apps fürs Smartphone erweisen.
Die größte Schwierigkeit dürfte darin liegen, die Stimmung nicht kippen zu lassen. Hier geht es keinesfalls um Phantasien vom braven Staatsbürger, sondern darum, öffentlichen Druck auf die Politik zu verhindern, die Last der Pandemie allein auf die gefährdeten Gruppen zu legen. Denn dieser Gedanke wird vielen Menschen mit jedem Tag des Verzichts sagbarer. Einstweilen dominiert die soziale Haltung. Die Mehrheit beugt sich der Notstandslogik, vermutlich weil fast jeder ein paar Großeltern hat, die er nicht verlieren möchte. Auf der anderen Seite machen sich drei langsam, aber beständig wachsende Gruppen auffällig, drei Spielarten der Asozialität.
Da wären erstens die Hedonisten, deren Egoismus sich ganz ohne rationalisierende und moralisierende Rechtfertigung äußert. Sie sitzen weiter dicht auf Wiesen, feiern ihre Partys und schlagen schamlos vor, die Alten doch einfach wegzusperren. Da wären zweitens jene Ökonomisten, die in Leitartikeln fordern, auch an die Wirtschaft zu denken, weil deren Kollaps viele Existenzen zerstören werde. Sie geben also die Opfer des Kapitalismus für Opfer der Corona-Krise aus und sind eher bereit, den Tod hunderttausender Menschen zu erwägen als z.B. einen Eingriff in die übelsten Auswüchse der vorherrschenden Produktionsweise. Und drittens wären da jene Liberale, deren Setzung der eigenen Belange sich in allgemeiner Sorge um die Rechte des Einzelnen verschleiert. In einer Situation, worin es einfach bloß darum geht, dass jeder sich etwas zurücknimmt, und zwar nicht für Gott & Vaterland, sondern für seine Mitmenschen, sehen sie den Vorschein orwellscher Szenarien. Wie viele Menschenleben würden sie denn für ihre persönliche Freiheit opfern? Ihr eigenes schon mal nicht.
Diese dritte Gruppe verdient deswegen besondere Beachtung, weil sie anders als die ersten beiden auch in der Linken vertreten ist. Seltsamerweise fehlt der Bewegung hierfür das Immunsystem. Noch stets ist die Sorge um die individuellen Freiheitsrechte in antikommunistischen Eifer umgeschlagen. Spätestens wenn es darum ging, den Sozialismus auch zu machen. Das spricht nicht gegen diese Rechte, doch sie müssen aufgehoben sein in einem politisch-sozialen Gefüge, das entweder als Verfassung realisiert oder als Modell antizipiert ist. Rigoros und primär gesetzt werden sie asozial und haben ihren Beinamen »Bürgerrechte« vollends verdient.
Die Krise hat keine guten Seiten. Doch wir erhalten in ihr eine Ahnung, auf wen wir bauen können, wenn es darauf ankommt. Heute nämlich zeigt jeder, worauf es ihm im Zweifel ankommt.
—-
in: junge Welt v. 15. April 2020.
Sorry, the comment form is closed at this time.