Jul 112011
 

Antiimperialismus und Judenhass

 

»… laßt uns Kerzchen anzünden für die Verarschten und Ausgebluteten, die mit uns sonst nichts weiter zu tun haben, als daß wir sie erlösen wollen, laßt uns ganz viel davon reden, wie die ›westliche Kultur‹ die ›anderen Kulturen‹ unterdrückt und ausbeutet, die irgendwie unschuldiger, erdnaher, niedlicher sind, von so ein bißchen Klitorisrausschneiden, Steinigen und Frauen-in-den-Sack-Stecken mal abgesehen. Mit Sitting Bull, Geronimo und den Taliban gegen Thomas Jefferson, so stellen die sich das vor.«

Dietmar Dath

 

Von allen verrückten Schnurren mitteleuropäischer Nahostfolklore weiß ich eine verrückteste. Es kann keine fünf Jahre her sein – vielleicht war es kurz nach dem Krieg im Libanon –, da schrieb mir einer, mit dem ich bis dahin bekannt war, folgenden Gedankengang nieder: Ohne Antisemitismus könne Israel nicht existieren, weshalb er von den Zionisten nicht bekämpft, sondern nach Kräften gefördert werde; die Abschaffung des Staates Israel sei folglich die Voraussetzung für die Abschaffung des Antisemitismus. Der das schrieb, war offenkundig kein Logiker, aber auch kein Nazi. Er war ein Linker, zumindest im Selbstverständnis. Ich danke dem Vorfall eine wichtige Erkenntnis, auf die ich am Ende zurückkommen werde. Auf den Brief damals habe ich nicht mehr erwidert. Mit Antisemiten diskutiert man nicht, man bekämpft sie. Und wenn man, wie ich, das Kämpfen nicht gelernt hat, dann schreibt man ihnen dennoch nicht, sondern bestenfalls über sie.

Nimm meine Lippen, wie sie sind, und sie sind schön

Die Frage, ob es einen linken Antisemitismus gebe, ist albern. Man fragt ja auch nicht, ob es Dummheit gibt, sondern allenfalls, warum es sie gibt. Sicher sind nicht alle Linken antisemitisch, vielleicht nur eine Minderheit, eine kritische Masse, die sich um vieles lauter macht und einen größeren Teil mit sich zieht. Aber es gibt Hass gegen Juden unter Linken, und was stört, stinkt und Krach schlägt, ist ein Problem, ganz gleich, wie groß der Haufen am Ende ist. Unabhängig von den Graswurzeln, aus denen alle Kräutersorten sprießen, ließe sich sodann fragen, was das Spezifische am linken Antisemitismus sei. Die größte Tugend der Linken, wäre die Antwort, ist zugleich ihre größte Schwäche. Die Fähigkeit, vom Schicksal anderer berührt zu sein, das Bedürfnis, mit anderen zu leiden und ihnen zu helfen. Dieses Bedürfnis wird dort, wo kein Verstand bremsend wirkt, zum Problem. Das nachvollziehbare Mitleid den Palästinensern gegenüber setzt sich in linken Parteien, Netzwerken und NGOs direkt um in bedingungslose Beihilfe jedweder Aktivität, anstatt dass die zu leistende Hilfe an Bedingungen geknüpft werde wie etwa eine aktive Bekämpfung des Antisemitismus, Gleichberechtigung der Geschlechter oder erkennbare Ansätze einer Säkularisierung und Aufklärung. Von all dem ist das werdende Palästina weit entfernt und, sagen wir es genauer: entfernt es sich weiter denn je.

Wir reden von einer Bevölkerung, die bis in die letzten Fasern ihres Alltags durchmilitarisiert ist, einem einzigen großen Zweck zu dienen, und die rigoros verfolgt wird, wo sich Einzelne diesem Endzweck entziehen, weil sie für sich und im Heute bereits ein gutes Leben führen wollen. Wir reden von einer Volksgemeinschaft, die den Antisemitismus mit der Muttermilch aufsaugt, von einem dichten Netz aus Lügen, die im Familienkreis, in den Medien, der Politik und in öffentlichen Lehranstalten täglich verbreitet werden. Wir reden von Dreijährigen, die bereits wissen, dass Juden Affen und Schweine sind, von Menschen, die fest an die Ritualmordlegende glauben, von »Mein Kampf« und den »Weisen von Zion« als millionenfach verkauften Büchern, von TV-Serien wie »Reiter ohne Pferd« und »Diaspora«, die ihren fiktiven Unflat als Historiographie ausgeben. Wir reden desgleichen von einer durch diese Menschen gewählten Hamas-Regierung, die all das ernsthaft zur Begründung ihres politischen Handelns heranzieht, in deren berüchtigter Charta die Ausrottung des jüdischen Volks gefordert wird und die – auch das ein Zeichen ihres geistigen Zustands – dabei ernstlich auf die Hilfe von Bäumen und Bergen rechnet (wie uns Artikel 7 mitteilt). Die Charta, so behaupten viele derer, die in Europa einen Dialog mit der Hamas empfehlen, sei heute nicht mehr gültig. Ich frage besser nicht, woher sie denn das nun wieder wissen – weder gab es jemals eine öffentliche Revision, noch sind in den konkreten Regierungshandlungen auch nur Ansätze einer andersartigen Politik zu erkennen – und zitiere statt dessen aus einer am 28. Februar 2010 gehaltenen Rede von Abdallah Jarbu’, dem stellvertretenden Religionsminister der Hamas-Regierung:

»[Die Juden] kranken an einer geistigen Verwirrung, weil sie Diebe sind und Aggressoren. Ein Dieb oder ein Aggressor, der Besitz oder Land stiehlt, entwickelt eine seelische Verwirrtheit und Gewissensqualen, weil er etwas genommen hat, das ihm nicht gehörte. Sie gerieren sich vor der Welt, als hätten sie Rechte, aber in Wahrheit sind sie fremde Bakterien – eine Bazille ohne Gleichen in der Welt. Nicht ich bin es, der das sagt. Der Koran selbst sagt, dass sie ohne Gleichen sind: ›Du wirst sehen, dass die stärksten Feinde der Gläubigen die Juden sind.‹ Möge Er diese schmutzigen Menschen auslöschen, die weder Religion noch Gewissen haben. Ich klage jeden an, der an normale Beziehungen mit ihnen glaubt, es gutheißt, dass man sich mit ihnen an einen Tisch setzt, oder glaubt, dass sie zur menschlichen Gattung gehören. Sie gehören nicht dazu. Sie sind keine Menschen. Sie haben keine Religion, kein Gewissen und keine moralischen Werte.«[1]

Man kann nur ahnen, welches Ausmaß an Verdrängung nötig ist, all diese Umstände bei der Urteilsfindung aus der Rechnung zu streichen. Dass trotz dieser Evidenzen die Bündnisfähigkeit der palästinensischen Bewegung bei vielen Linken nicht angezweifelt wird, mag zum Teil an der tatsächlich weit verbreiteten Unkenntnis der islamistischen Bewegung, ihrer genauen Ziele, ihrer geistigen und politischen Verfassung liegen. Aber die Unkenntnis erklärt lediglich, warum es vielen Linken so leichtfällt, ihr Weltbild nach ihren Neigungen einzurichten. Nicht erklärt sie, warum es ausgerechnet der arabische Raum ist, auf den die Hoffnungen sich dergestalt richten.

Die neue Geschlossenheit

In der Tat sehen wir nach 1990 eine bemerkenswerte Reunion der vormals gespaltenen Linken in Deutschland. Als der Sozialismus noch eine weltpolitische Tatsache war, spaltete sich die Linke in einen Teil, der ihm anhing, und einen, der in den sozialistischen Staaten eine Entartung von der sozialistischen Idee feststellte. Damals war es wenigstens eine Hauptfrage, an der die Linke sich entzweite, und bei ihr ließ sich sogar etwas denken. Man konnte am Verhältnis von marxistischer Ideologie und sozialistischer Wirklichkeit auf philosophische Ideen kommen, etwa die Frage stellen, wie das Gewollte sich zum Machbaren verhält. Der Nahostkonflikt ist bloß politisch und, was seine Rezeption betrifft, eher psychologisch als philosophisch interessant. Er klebt am orientalischen Boden, und es lässt sich kaum eine über diesen Anlass hinaus gültige Erkenntnis aus ihm ableiten. In der Zeit nach 1990 fand die Linke, die über die Bewertung der sozialistischen Geschichte nach wie vor streitet, an der Nahostfrage wieder zusammen. Dabei brachte jede Seite das Ihre mit ein: Die Orthodoxen (DKP, SED-PDS etc.) brauchten nach dem Ende des Sozialismus eine neue Materie, auf die sie ihre positiven Hoffnungen richten konnten, und fanden die in den politischen Bewegungen Libanons und des besetzten Palästina, die ihnen einst bloß taktische Bündnispartner waren und die sie nun, von eigener Schwäche getrieben, als Freiheitsbewegung mit Fortschrittspotential missdeuteten. Die Häretiker (maoistische, trotzkistische Gruppen, Antifa, Neue Linke usf.), denen mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus das alte Feindbild abhandengekommen war, sahen sich zurückgeworfen auf das andere bewährte Feindschema, auf den US-Imperialismus, mit dem sie Israel traditionell identifizieren.

Beide Tendenzen bestanden auch vor 1990 schon, aber durch den Wegfall der alles einfärbenden Grundierung jenes großen und weltumfassenden Konflikts zwischen sozialistischer und kapitalistischer Welthälfte wurden viele zuvor hieran ausgelebten Bedürfnisse auf den Nahen Osten gelenkt. Natürlich ist das trotz aller starksprecherischer Rhetorik kein Zeichen von Stärke. Bei jenem Akt, sich auf die eine Seite eines weltgeschichtlichen Konflikts zu schlagen, an dem man eigentlich keinen Anteil hat, geht es nicht zuletzt darum, sich selbst zu bestätigen, dass man noch nicht ganz aus der Welt ist. Indem er sich bückt, komischerweise, spürt der servile Hofnarr, dass er noch ein Rückgrat besitzt, und die Teilnahme am Nahostkonflikt erhält die Illusion, dass man nicht ganz ohne Macht ist. Der Kampf gegen Israel wird somit seit dem Ende des Kalten Kriegs mehr als je zuvor zum Thema der Linken; der antiimperialistische Kampf ersetzt heute den Klassenkampf.

Die intensive Unterstützung, die die palästinensische Bewegung von deutschen Linken erfährt, ist deswegen bemerkenswert, weil die politischen Ziele dieser Bewegung – abgesehen vom Ziel der Unabhängigkeit selbst – sehr weit von dem entfernt sind, was unter Linken gemeinhin als wünschenswert oder statthaft gilt. In der Tat wirkt die palästinensische Bewegung, als sei sie direkt aus der Kleistschen »Hermannsschlacht« in unsere Gegenwart gepurzelt, und in ihrer Entscheidung, die reaktionäre Autonomie einer fortschrittlichen Fremdherrschaft vorzuziehen, gleicht sie der deutschen Nationalbewegung von 1813 ja tatsächlich ein wenig. Zu keiner Zeit haben die tonangebenden Organisationen der PLO, geschweige denn die Hamas, auch nur Ansätze dessen gezeigt, was Linke beim antiimperialistischen Kampf von Nationalbewegungen zu erwarten pflegen: einen Umschlag vom Nationalen ins Revolutionäre oder Fortschrittliche. Es gibt überhaupt keine Sicherheit, dass der Sieg einer Nationalfront den Fortschritt wahrscheinlicher macht. Was bei China, Cuba oder Vietnam einen gewissen Erfolg hatte, hat anderswo häufiger nicht und in der persisch-arabischen Welt in keinem einzigen Fall funktioniert. Dort hat jede Form des nationalistischen Widerstands immer nur zu einer vermehrten Reaktion und Rückwärtsgewandtheit geführt. Und insbesondere der Antisemitismus, der in früheren Jahrhunderten, wenn zwar nicht unvorhanden, so doch deutlich weniger aggressiv war, ist innerhalb der Umma zum wichtigsten ideologischen Element, zur konsensfähigen Bindekraft geworden.

Die Irrationalität des Antiimperialismus

Ich erzähle nichts neues, wenn ich darauf verweise, dass der Ursprung jener Fehlwahrnehmungen in der antiimperialistischen Ideologie liegt, die in der traditionellen Linken das vorherrschende Konzept bei der Beurteilung außenpolitischer Vorgänge ist. In ihr gibt es eine klare Zuweisung, derzufolge Israel und die USA imperialistische Mächte sind, während der Iran und die arabischen Staaten als – tatsächliche oder potentielle – Speerspitze des Kampfes gegen den Imperialismus aufgefasst werden. Es ist nicht der heimliche Wunsch nach Judenfeindschaft, der die Linke auf die Gegenseite von Israel treibt, sondern die Beobachtung, dass Israel im Nahostkonflikt die stärkere Seite stellt. Ein guter Linker, wie man weiß, ist stets auf seiten der Schwachen; Inhalte spielen dabei keine Rolle. Es kostet Kraft, einen Komplex von Widersprüchen als gesamten zu beleuchten und über seine sinnvolle Weiterentwicklung nachzudenken; so richtet man sich darauf, innerhalb des Komplexes Punkte zu finden, an die man sich halten kann. Das lässt sich auch einfacher ausdrücken: Ein guter Linker versucht stets die Frage zu beantworten, wer der Gute ist. Und gut ist immer der, der nicht stark ist.

Aus der Ablehnung des Starken folgt die Annahme aller ihm unterlegenen Gegner. Das Kalkül des Antiimperialismus ist die Hauptfeindlogik, in der der Feind des eigenen Feindes ein Freund sein müsse und jeder noch so minimale Konsens recht ist, um Bündnisse gegen den erklärten Hauptfeind einzugehen. Diese Denkweise ließe sich auf alle möglichen Regionen der Welt anwenden, doch das Reizvolle des Nahen Ostens liegt darin, dass in ihm der Krieg gegen den US-Imperialismus ohne weitere Vermittlung ausgetragen wird. Die antiimperialistische Bewegung könnte z.B. auch eindeutig Stellung zu Tschetschenien oder den gegenwärtigen Vorgängen in Nordafrika beziehen. Allein, an diesen Konflikten lässt sich nicht immer eindeutig ausmachen, auf welcher Seite der Hauptfeind tatsächlich steht, und so findet die deutsche Linke in diesen Fragen nie zu einer einheitlichen Haltung und kann z.B. Gaddafi nicht auf die geschlossene Unterstützung der antiimperialistischen Bewegung rechnen. Im Nahen Osten sind die Zuweisungen weniger kompliziert: Es gibt eine offene Gegenfront (Gaza, Libanon, Iran, Syrien u.a.) sowie abhängige oder besetzte Länder der Region (Irak, Ägypten, Saudi-Arabien usf.), die wahlweise als Kollaborateure oder als gezwungene Opfer betrachtet werden können. Die Fehleinschätzung der Linken besteht darin, diesen Konflikt als einen Krieg zwischen einem Unterdrücker und einem Unterdrückten zu interpretieren, anstatt in ihm einen Konkurrenzkampf von Machtblöcken zu erkennen. Auch über die Unzulänglichkeiten dieser Vorstellung ist schon oft geschrieben worden; ich selbst vermeine, was die außenpolitische Konzeption betrifft, vier wesentliche Fehlleistungen der antiimperialistischen Theorie zu erkennen.

Erstens. Was in der Theorie des Antiimperialismus geistig vor sich geht, ist die Verwandlung eines konkreten und vielseitigen Phänomens, das als Resultat einer geschichtlichen Entwicklung vor uns liegt, in ein abstraktes Gebilde. Das wäre streng genommen der Vorgang jedweden Denkens, doch die Frage bleibt, ob man sich dessen bewusst ist und inwieweit man den Vorgang kontrolliert, damit das als Wesen Bestimmte mit der Sache nicht einfach verwechselt werde. Man zieht aus dem Nahostkonflikt in all seiner Bedingtheit und Komplexität ein allgemeines Verhältnis zwischen einem Unterdrücker und einem Unterdrückten heraus. Zunächst wird ein lebendiges Ding auf eine bestimmte Seite reduziert, dann die Behauptung aufgestellt, dass diese Seite die Hauptsache oder das Wesen des Dings sei, und damit schließlich die Verwandlung des Dings selbst in diese seine eine Seite vollzogen. So entsteht jenes abstrakte Gebilde, das in der Betrachtung fortan an die Stelle des lebendigen Dings tritt. Getilgt wird damit zugleich jeglicher historischer Zusammenhang, in dem das Ding stand, und aus einem konkret-politischen Phänomen geht ein zeitloses Etwas hervor.

Exemplarisch für diesen Vorgang ist etwa die weitverbreitete Klassifikation des Zionismus als Ausdruck imperialen Weltmachtstrebens des jüdischen Finanzkapitals. Aus dem Umstand, dass sich in der zionistischen Bewegung auch Kapitalisten befanden und dass sich Teile der Bewegung, weil die ohne eine Macht im Rücken ihr Ansinnen nie hätte durchsetzen können, zeitweilig mit dem Britischen Kolonialreich verbündeten, das seinerseits nicht eindeutig zum Zionismus stand, sondern aus taktischen Gründen zwischen der jüdischen und arabischen Seite lavierte, wird in der Perspektive des Antiimperialismus jene abstrakte Zuschreibung, die – den peinlichen Umstand ignorierend, dass der Zionismus selbst die Ideologie eines unterdrückten Volkes ist – aus jedem jüdischen Siedler einen Agenten des British Empire oder gar des vorausgedachten Imperialismus Israels macht. Aber Israel, versichern die Antiimperialisten, ist der Aggressor, auf den die Arabische Liga lediglich reagiert habe. Im Anfang, soll das wohl heißen, schuf Gott das Jahr 1947, in dem die Juden Palästina raubten. Auch wenn kaum einer verrückt genug wäre, es offen auszusprechen, in ihren politischen Urteilen über den Nahostkonflikt stellen sich die meisten Linken, als habe es weder die Jahrhunderte währende Judenverfolgung in Europa noch einen Antisemitismus im Nahen Osten vor der Gründung des Staats Israel gegeben.

In solchen Vorstellungen ist nicht der Teufel am Werk, sondern das, was man im Deutschen Idealismus Verstandesdenken nannte, das, wie Hegel schreibt, nichts anderes als die Form des gemeinen Menschenverstandes, eines »zu Aberglauben an Abstraktionen heraufgebildeten« Geistes ist. Verstandesdenken ist das Gegenteil der Vernunft. Durch die Verwechslung von Sache und Begriff tritt eine Erleichterung beim Urteilen ein. Wo Tatsachen nicht mehr zur Kenntnis genommen werden, ein verwickeltes Verhältnis auf eine einfache Formel heruntergebrochen wurde und die verschiedenen Rücksichten, die man im konkreten Denken zu machen hätte, überflüssig geworden sind, urteilt man schwungvoller und stets so, wie die eigene Neigung es ohnehin wünscht, denn auf der abstrakten Ebene gibt es keine Hindernisse, die sich dieser Neigung entgegensetzen könnten. Erträglich noch, wenn sich Verstandesdenken in seiner Unschuld an unwichtige Fragen macht. Wo es um nichts geht, irrt es einfach nur. Da allerdings, wo einiges auf dem Spiel steht, kann es durchaus folgenreich werden.

Zweitens. Der Antiimperialismus heutiger Prägung ist ein Erbstück aus der Epoche des Kalten Kriegs. Geistig ist er kein Element des Marxismus, sondern des Leninismus. Für Marx war der geschichtliche Fortschritt noch eine Größe, die sich als Ausdruck ökonomischer Reife vollzieht; Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse stehen in einem festen Ursache-Wirkungs-Verhältnis, geopolitische Verhältnisse wiederum hängen klar vom Fortschritt dieses Verhältnisses ab[2], und ganz folgerichtig finden wir bei Marx einen ausgeprägten Eurozentrismus, nicht selten eine Parteinahme gegen »kleine Nationen« sowie einen kaum verhohlen positiven Bezug auf den Kolonialismus, der als barbarische Form des geschichtlichen Fortschritts und damit als Voraussetzung der proletarischen Revolution gewürdigt wird.[3] Lenin kehrte diese Tendenz um, freilich ohne Marxens Theorie ausdrücklich anzugreifen.[4] Er musste erklären, warum die geschichtliche Entwicklung zum Sozialismus sich zuerst in Russland vollzogen hatte bzw., vor 1917, warum er sie gerade dort vollziehen will, wo die Produktivkräfte weniger weit fortgeschritten sind als in Europa. Lenins Überzeugung war, dass die Kette eben dort reiße, wo sie am schwächsten ist. Damit wurde dem Ökonomismus Marxens eine politische Erklärung geschichtlicher Prozesse entgegengesetzt, zugleich jedoch deutlich gemacht, dass ein gewisses Niveau in der gesellschaftlichen Entwicklung gegeben sein müsse, damit der politische Fortschritt sich vollziehen kann. Politische Sprünge, heißt das, sind realistischerweise am ehesten in den instabilen Teilen der höher entwickelten Welt zu erwarten. Ein gewisser Grad des Fortschritts müsste bereits realisiert, die Verhältnisse aber sollten rückständig und krisenhaft sein, was zugegeben wie eine Stellenausschreibung fürs russische Zarenreichs klingt. Die Revolution des Proletariats würde demnach nicht nur in Ausnahmefällen, sondern in der Regel mit einer Lage konfrontiert sein, in der sie nicht auf vorhandenen Fortschritt aufbauen kann, sondern einen zunächst bestehenden Rückstand aufzuholen und gegen eine Übermacht fortgeschrittener Staaten zu verteidigen hätte.

In dieser Perspektive stellt sich zwingend die Frage nach außenpolitischen Strategien. Stalin, der als Erfinder des Leninismus gelten kann, charakterisierte die Epoche des 20. Jahrhunderts anhand dreier Widersprüche: dem zwischen Kapital und Arbeit (der allein schon durch die Existenz kapitalistischer Produktionsverhältnisse gegeben ist), dem zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten und dem zwischen den imperialistischen Mächten und den kolonialen oder halbkolonialen Ländern.[5] In der Differenz der zweiten und dritten Figur, der im postkolonialen Zeitalter im Grunde willkürlichen Gegenüberstellung von imperialistischen und kleinen Staaten, liegt das Korn, aus dem die antiimperialistische Bewegung noch heute ihre Blüten zieht.

Allerdings lassen sich fundamentale Differenzen zwischen dem Antiimperialismus Lenins und dem der heutigen Subkultur feststellen. Die politische Maxime des Leninismus lautet, die Widersprüche des Imperialismus für die eigenen Zwecke zu nutzen, einen Gewinn daraus zu ziehen, dass man die verschiedenen Kräfte gegeneinander ausspielt. Moderne Antiimperialisten ersetzen diese kühle Strategie durch eine triefende Solidarität mit unterdrückten Völkern, wobei diese Volksolidarität praktisch nicht den Völkern, sondern den örtlichen Regierungen zukommt und ein Ausblenden der inneren wie äußeren Kämpfe und Absichten dieser Länder zur Folge hat.[6] Wo an die Stelle eines politischen Kalküls das Mitgefühl tritt, wird der nationale Kampf, für Lenin nur als Mittel des sozialen Fortschritts statthaft, zum Selbstzweck, und wir sehen eine Linke, die sich stets als internationalistisch und sozial verstanden hat, auf dem Gebiet der internationalen Verhältnisse ausschließlich noch in völkischen Kategorien denken.

Das Konzept des Antiimperialismus hatte im Leninismus, noch genauer, eine eigentlich defensive Funktion. Das Ausnutzen der inneren Widersprüche des Imperialismus destabilisiert diesen ja nicht, denn die inneren Kämpfe sind sein Naturzustand. Die Hoffnung, der Imperialismus werde durch Auseinandersetzungen zwischen den USA, Russland und, sagen wir mal: dem Iran irgendwie seinem Ende entgegentreiben, ist so absurd wie die Idee, den Kapitalismus dadurch zu beseitigen, dass man den Konkurrenzkampf zwischen Coce & Pepsi anfacht. Der Kampf um Rohstoffe, Absatzmärkte und politische Macht auf der internationalen Ebene führt zu gar nichts außer zur Umverteilung von Gewichten innerhalb ein und derselben globalen Struktur. Wenn die Sowjetunion strategisch darauf bedacht war, diese Widersprüche auszunutzen, dann nicht, weil man ernstlich glaubte, den Imperialismus dadurch beseitigen zu können, sondern deswegen, weil man verhindern wollte, sich einem geschlossenen Ensemble der Feinde gegenüberzusehen. Es ging darum, eine Situation wie 1918 nicht zu wiederholen, als die Sowjetunion der gemeinsamen Intervention praktisch aller damaligen Weltmächte und einer Schar von kleineren Staaten ausgesetzt war. Es ist diese defensive Funktion, die das Konzept des Antiimperialismus unumgänglich macht, solange der Sozialismus an der Macht[7] ist und solange vom konkurrierenden System des Imperialismus eine militärische Gefahr ausgeht.

Damit wird zugleich evident, worin der Fehler heutiger Antiimperialisten besteht: Sie gehen nicht von der konkreten Lage aus, in der sie sich befinden. Denn der Kampf zwischen dem Iran, Russland und den USA ist tatsächlich nichts weiter als ein innerimperialistischer, während eine sozialistische Macht, die zu stützen sich lohnte, überhaupt nicht in Sicht ist. Der ganze Zweck der Operation ist damit unvorhanden. Das Ausnutzen der inneren Widersprüche des Imperialismus wird zur leeren Übung. Für den Bestand des Imperialismus bedeutet diese Politik keine Gefahr; dafür sorgt eine Praxis der Zugeständnisse, die unvermeidlich ist, wo man Bündnisse eingeht, für eine schleichende Aufgabe sozialistischer Inhalte.

Drittens. Die Wendung vom machtpolitischen Kalkül zum unbestimmten, irrationalen, völkisch-freiheitlichen Gefühl der Verbundenheit mit der schwächeren Seite des Konflikts bedingt einen Verlust auch der instrumentellen Vernunft. Ohne Lenins oder seiner Nachfolger Entscheidungen in jedem Punkt für richtig zu halten: Der Unterschied zwischen der Weltlage von damals und der von heute setzt den klassischen Antiimperialismus gegenüber dem heutigen ins Recht. Die sozialistische Bewegung war einmal stark, die heutige Linke ist schwach. Diese konnte sich die Bündnispartner mehr oder weniger aussuchen, ihnen dabei Bedingungen diktieren und die Widersprüche zwischen den verschiedenen Mächten ausnutzen. Die heutige Linke – die deutsche und erst recht die im Nahen Osten ansässige – besitzt keinen Einfluss und wird, wenn überhaupt, lediglich mitgezogen. Wahrscheinlicher würde sie, wie es der Tudeh-Partei[8] passiert ist, im Fall eines Sieges der völkischen Revolution an den nächsten Bäumen aufgehängt, weswegen es um so merkwürdiger ist, mit welchem Enthusiasmus sie sich in die Querfront mit den reaktionären Kräften der orientalischen Welt begibt. Man geht kein Bündnis mit einem stärkeren Gegner ein, auch nicht gegen einen noch stärkeren.

Stellen Sie sich vor, Sie werden aufgrund unangenehmer Verwicklungen von den Herren Puschkin und Lassalle zu einem Duell gebeten, und während sich noch nicht herausgestellt hat, wer von Ihnen dreien der gute, wer der böse und wer der hässliche ist, steht von Beginn an fest: Sie sind der schlechteste Schütze im Dreieck. Angenommen weiter, Puschkin und Lassalle sind so fair und gewähren Ihnen deshalb den ersten Schuss. Sie müssten ein außerordentlicher Trottel sein, wenn Sie ihren Schuss nicht in die Luft abgäben. Sie werden keinem Ihrer beiden Gegner den gefährlicheren Konkurrenten aus dem Weg räumen, weil es in diesem Fall ganz sicher um Sie geschehen wäre. Was Ihnen bleibt, ist die Hoffnung, dass sich Ihre Konkurrenten gegenseitig ausschalten, und das erreichen Sie am besten dadurch, dass Sie sich aus dem Duell heraushalten, solange Sie dabei nichts zu gewinnen haben.

Viertens. Die Annahme der antiimperialistischen Bewegung ist, dass es einen antiimperialistischen Kampf gibt. Es gibt ihn aber spätestens seit 1990 nicht mehr. In der Zeit des Kalten Kriegs bedeutete die Bekämpfung der außenpolitischen Aktivitäten der USA die Stärkung des sozialistischen Machtblocks. Ich will nicht so weit gehen, das Bündnis der Warschauer Vertragsstaaten mit einigen arabischen Mächten wünschenswert zu nennen, aber die Sowjetunion war in diesem Bündnis der stärkere Partner, und das ändert machtpolitisch, wie gesagt, einiges. Der antiimperialistische Kampf vor 1990 war tatsächlich ein antiimperialistischer Kampf: ein Kampf gegen den Imperialismus. Der antiimperialistische Kampf von heute ist nichts als ein leeres Wort. Die großen Machtblöcke in der gegenwärtigen Weltlage sind der russisch-osteuropäische, der mittel-westeuropäische, der chinesische, der amerikanisch-transatlantische und der persisch-arabische, dessen natürliche Einheit gegen den westlichen Einfluss sehr leicht zu brechen ist, indem man bei seinen inneren Bruchstellen – Sunniten gegen Schiiten, Autokratie gegen Hierokratie, Interesse an Handel gegen Umma-Ideologie – ansetzt. Der westeuropäische Block konstituiert sich vor allem über Deutschland und Frankreich, meist unter Ausschluss Großbritanniens, das sich im transatlantischen Block mit den USA und einigen osteuropäischen Staaten (die sich im anderen Fall an Russland oder die EU halten) zusammenfindet. Alle diese Blöcke gehen teils Bündnisse ein, teils führen sie gegeneinander offene oder verdeckte Kriege, wobei auch Bündnisse selbst nur eine besondere Art verdeckter Krieg sind. Es gibt zwischen Staaten keine Zuneigung aus Zuneigung. Bündnisse entstehen dort, wo man sich etwas davon verspricht.

Einander stark entgegenstehen der arabische und der amerikanische Block. Europa dagegen – wirtschaftlich stärker als alle anderen Blöcke – hat das Problem der politischen Einheit. Während die USA, China und Russland als Dominatoren auftreten und sich kleine Partner um sie scharen, ist Europa ein Gebilde mehr oder minder gleichstarker Kräfte, das sich mit jedem Bündnisfall neu erfinden muss. Folglich steht es meist, uneins mit sich, zwischen den anderen Machtblöcken und ist – im geistigen Sinne – selbst eine Art Schlachtfeld der anderen. Hier prallen die Intentionen der verschiedenen Blöcke aufeinander, und jeder von diesen hat auf der europäischen Bühne seine gefügigen Handpuppen, die einen Kampf um die Köpfe austragen. Vermutlich ist es nirgends wichtiger, den Kampf um die Köpfe zu gewinnen, als in Europa, das genauso stark beeinflussbar ist, wie es selbst Einfluss ausüben kann.

Zu diesem Phänomen muss auch die Linke sich verhalten, und sie tut das, indem sie den Kampf gegen den US-Imperialismus in den Mittelpunkt rückt. Der Kampf gegen einen der imperialistischen Blöcke bedeutet aber, wie sich unschwer denken lässt, immer nur die Stärkung der anderen. Und das hat mit dem Kampf gegen den Imperialismus etwa so viel zu tun wie die Weigerung, bei Shell zu tanken, mit dem Kampf gegen den Kapitalismus. Es ist rational nicht im mindesten zu erklären, warum die Linke derart viel Energie darauf verwendet, einen Wechsel in den Machtverhältnissen jener Konkurrenten herbeizuführen. Im allgemeinen wissen Linke, wie es um die arabischen Länder steht. Sie wissen, dass dort dieselben Kapitalstrukturen und aggressiven Machtbestrebungen gegeben sind wie in den westlichen Ländern. Sie wissen auch, dass dort Hierokratien herrschen, Frauen diskriminiert, Homosexuelle verfolgt, Todesstrafe und Folter praktiziert werden, dass, mit einem Wort, all jene Elemente niederer Gesittung am Werk sind, die man z.B. den USA, soweit man sie dort findet, sehr gern vorwirft. Sie wissen schließlich, dass der Antikommunismus ein integraler Bestandteil der islamistischen Bewegung ist. Doch all das stört sie nicht, wenn sie nach Kräften die arabischen oder iranischen Großmachtbestrebungen im nahöstlichen Raum ignorieren und sich stellen, als seien die Armeen nahöstlicher Staaten oder der Islamismus oder seine blassgewaschenen Spielarten bloße Instrumente einer Emanzipationsbewegung gegen einen transatlantischen Pakt von Unterdrückern. Noch gut, wenn der Fortschritt in skurriler Gestalt daherkommt. Aber was da kommt, ist nicht der Fortschritt. Die vollkommene Preisgabe eigener Ziele zugunsten der Erhaltung eines Bündnisses, aus dem sich nicht der geringste Gewinn ziehen lässt, nennt man, wenn ich nicht sehr irre, Opportunismus.

Der ehrbare Opportunismus

Die politische Haltung der antiimperialistischen Bewegung, lässt sich nun zusammenfassen, ist der Opportunismus. Das ist bemerkenswert, da diese Bewegung sich selbst als äußerst kämpferisch versteht und jegliche Abweichung von sich grundsätzlich als opportunistisch, revisionistisch etc. brandmarkt. Man könnte den Antiimperialismus daher präziser als links-opportunistisch bezeichnen, was ein Widerspruch in sich wäre, aber arm an innerer Widersprüchlichkeit ist die Ideologie des Antiimperialismus ja generell nicht. Ihr Opportunismus ist einer, der keiner sein will, es aber dank der vertretenen Inhalte doch ist: ein rebellischer, ein stürmischer, ein – sagen wirs doch mit Améry – ehrbarer Opportunismus. Die Antiimperialisten lösen diesen Widerspruch aber weder, noch vermitteln sie ihn; sie leben ihn aus. Da der Imperialismus das höchste Stadium des Kapitalismus ist, müsse, so glauben sie, der antiimperialistische Kampf die höchste Form des antikapitalistischen Kampfs sein. Abgesehen davon, dass nicht recht ersichtlich ist, warum das aus dem folgen soll – auch einen großen Baum schließlich fällt man an der Wurzel –, wird der Unsinn der Maxime erst richtig deutlich, wenn man sie auf die Innenpolitik überträgt.

Demnach wäre die höchste Aufgabe der Linken, gegen die imperialistischen Formen zu kämpfen, gegen die Monopole und das Finanzsystem also, und nicht gegen die Kapitalform als solche. Der ungemütliche Kapitalismus soll beseitigt und der gemütliche wieder eingeführt werden. Und es passt ins Bild, dass eine große Fraktion innerhalb der antiimperialistischen Bewegung den außenpolitischen Opportunismus tatsächlich auf ihre innenpolitischen Positionen übertragen hat und dort ähnliches vertritt; hierzu gehören Netzwerke wie Attac, das die gesellschaftlichen Probleme dadurch für lösbar hält, dass man die Finanzmärkte kontrolliert, oder die PDL, deren Mitglieder mehrheitlich – innerhalb ihres antiisraelischen Flügels ebenso wie außerhalb – mit der Idee einer Gesellschaft jenseits von Kapitalstrukturen nicht mehr allzu viel anfangen können. Eine andere Fraktion der antiimperialistischen Bewegung macht sich hingegen dadurch auffällig, dass sie, soweit es innere Angelegenheiten betrifft, einen rigorosen Kurs verfolgt, sich als revolutionär versteht und folglich Revisionismus, Zentrismus, Opportunismus, Reformismus und dergleichen ablehnt. Zu dieser Richtung gehören alle orthodox-marxistischen Gruppierungen außerhalb (DKP, MLPD etc.) und innerhalb der PDL (marx21, Kommunistische Plattform, SAV-Reste)[9], wobei zu bemerken ist, dass diese Organisationen bezüglich der Frage, was denn nun konkret revisionistisch, zentristisch usw. sei, durchaus uneinig sind. Sie alle aber haben gemein, dass sie einen konsequenten politischen Kurs verfolgen, der zu einer fundamental neu strukturierten Gesellschaftsformation führen soll. So konsequent diese Gruppierungen jedoch im »nationalen Klassenkampf« sind, so flexibel sind sie im internationalen. Ihr Regelwerk ist einfach: Im Nationalen fühlen sie international, und im Internationalen national.

Wo das Abstrakte konkret wird

Wer die antiimperialistische Ideologie verteidigen will, kann vorbringen, dass sie selbst, auch wenn ihre theoretische Verfassung entsprechende Entgleisungen begünstigt, keine Form des Antisemitismus ist. Zu dessen zwei klassischen Zielen – dem einzelnen Juden und dem (Welt-)Judentum – ist seit 1947 ein drittes getreten: der israelische Staat. Die antiimperialistische Bewegung richtet sich gar nicht gegen den einzelnen Juden, in Entgleisungen allenfalls gegen das Judentum und fast ausschließlich gegen Israel. Das unterscheidet sie vom Antisemitismus im Nahen Osten, in dem Juden, Judentum und Israel gleichermaßen Hassobjekt und Ziel der Vernichtung sind. Auch von den Quellen, die sich geschichtlich für den Antisemitismus feststellen lassen, sind im Fall des Antiimperialismus nicht alle heranziehbar. Ich wage, sechs zu unterscheiden:

(1) die Xenophobie, die vor allem durch Siedlung oder Ansiedlung jüdischer Minderheiten entsteht (mit entsprechenden Zuweisungen: Armut, Pest, Brunnenvergiftung usf.);

(2) die religiöse Ablehnung (im Christentum bedingt durch die Kreuzigung Jesu, deren moderne Projektion die Ritualmordlegende ist);

(3) die Kritik der europäischen Aufklärung, deren Vorwurf sich auf den Separatismus der Juden und den partikularen Charakter der jüdischen Religion (Kritik der Zeremonialgesetze etc.) richtete;

(4) den Judenhass der Romantik, die in Opposition zu Napoleon und den Deutschen Bundesstaaten die Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts angreift, was als Ausdruck ihrer Gegnerschaft zur modernen Staatsbildung verstanden werden kann;

(5) den biologisch oder rassistisch begründeten Antisemitismus, der die Juden zu Untermenschen oder, wie heute im Nahen Osten, zu Affen und Schweinen erklärt;

(6) den Hass gegen das gesellschaftlich Mächtige der europäischen Neuzeit, das in der Figur des Juden eine konkrete Verbildlichung findet.

Während der Antisemitismus des Nahen Ostens lediglich auf eine der genannten Quellen (die Aufklärung) nicht zurückgreift und sich so – in dem erkennbaren Bedürfnis, alles mitzunehmen, was irgend greifbar ist – als wüstes Aggregat nicht konsistenter Anwürfe gegen das Judentum erweist, tritt im Antiimperialismus der linken Bewegung nur eine der genannten Quellen, und natürlich nicht in unvermittelt judenfeindlicher Form, in Wirkung: die Abneigung gegen das gesellschaftlich Mächtige, die ja gewissermaßen die konstituierende Stimmung dieser Bewegung ist.

Die heute weit verbreitete Vorstellung, die linke Bewegung sei deswegen konstitutiv antisemitisch, wird abgeleitet aus einem hochgescheiten Essay von Moishe Postone über das Verhältnis von Faschismus und Antisemitismus[10], durch den eine neue Denkbewegung innerhalb der Linken ausgelöst wurde. Postone, der differenzierter argumentiert als die meisten seiner Exegeten, machte sich auf die Suche nach den ideologischen Wurzeln des Antisemitismus der Nazizeit und rät davon ab, den Faschismus allein in Bezug auf seine Funktion für den Kapitalismus verstehen zu wollen.[11] In der Folge veranschaulicht er eine zugrundeliegende ideologische Struktur, die den Antisemitismus hervorgerufen habe und stellt fest, dass dieser sich in seiner Bildung vom bloßen Rassismus oder dem Sündenbockmuster unterscheide; er habe sich vorrangig als Rebellion verstanden und vollziehe sich als eine doppelte Übertragung antikapitalistischer Ressentiments.

In einem ersten Schritt steht zunächst das Unvermögen, Erscheinung und Wesen des Kapitalismus auseinanderzuhalten: Der Hass gegen den Kapitalismus richtet sich auf die abstrakten Seiten des Kapitals – auf Ware, Geld und Zins, kurz: auf die Zirkulationssphäre. Damit wird zwischen einem guten, produzierenden und einem schlechten, nicht wertschöpfenden Kapitalismus unterschieden. Man kennt diese begriffspolitische Trennung sowohl aus der Nazizeit, wo zwischen einem (deutschen) »schaffenden Kapital« und einem (jüdischen) »raffenden Kapital« ein regelrechter Gegensatz konstruiert wurde, als auch aus der gegenwärtigen Kritik der linken Bewegung am Finanzsystem, deren Vorwurf ebenfalls auf den Umstand zielt, dass Wertmassen nur verschoben und nicht geschaffen werden. Nicht dass der Finanzkapitalismus unmenschlich, sondern dass er parasitär sei, ist der – und nicht erst seit der letzten Finanzkrise – am häufigsten geäußerte Vorwurf.

In einem zweiten Schritt entsteht nun im Bewusstsein der bloß erscheinungsbezogenen Kapitalkritik das Bedürfnis, jene abstrakten Formen des zirkulierenden Kapitals in einem lebendigen Begriff zu vergegenständlichen, entsteht also eben das, was Marx bezüglich Ware, Geld und Kapital einen Fetisch nannte: die Bildung einer konkreten Gestalt, die ein abstraktes Verhältnis zu verkörpern hat. Die Abstraktion des Konkreten wird ins Konkrete zurückgeholt.[12] Diese konkrete Gestalt wurde bei den Nazis der Jude und ist in der heutigen Linken der Manager bzw., da der Zirkulation noch näher, der Investmentbanker. Die alle haben in der Tat gemein, dass man sie am liebsten mit Heuschrecken vergleicht. Was also von Postone deduziert wird, ist ein Antisemitismus ohne Antisemiten, eine Struktur, von der der Judenhass lediglich Ausdruck, nicht aber das Wesen ist, und man spricht folglich vom strukturellen Antisemitismus.

Richtig ist, dass Juden sich über Jahrhunderte der Verfolgungen Techniken (Separatismus, Kreativität, Gelehrtheit, wirtschaftliche Rechnungsführung usf.) angeeignet haben, die in ihre Traditionen eingingen und ihnen die Möglichkeit verschafften, in der Diaspora zu überleben und ihre kulturelle Eigenheit zu wahren. Aus dem Ensemble der Judenbilder des Antisemitismus ist daher das des starken, hinterlistigen Juden, der mit seinen politischen und finanziellen Mitteln Einfluss auf die Gesellschaft nimmt, nicht wegzudenken. Andere Rassismen richten sich stärker gegen die Minderwertigkeit der betreffenden Völker, und man kann z.B. die Überlegung anstellen, ob das Bild des jüdischen Untermenschen nicht ein Versuch der Naziideologen war, die Angst vor dem starken Judentum umzuleiten (man kann, man muss es nicht.) Jene Angst vor der jüdischen Kontrolle aber zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des neuzeitlichen Antisemitismus von Eisenmenger bis Fichte, von Rühs bis Wagner, von Hitler bis Qutb.

Dieselbe Angst kennen die Linken auch. Ihr unbestimmter Antikapitalismus, ihre Neidideologie, das Reduzieren der Klassenfrage auf den abstrakten Gegensatz von Arm und Reich, die Intelligenzfeindlichkeit, die grobschlächtige Machtkritik – all das kommt aus jener Stimmung der Linken gegen alles, was in irgendeiner Weise besonders, vermögend oder mächtig ist. Die Stimmung ist von wahrhaft demokratischer Art: Die Gleichheit artikuliert sich gegen die Individualität und den Reichtum; sie ist, wenn man so will, das emotional-theologische Fundament der linken Bewegung. Der Marxismus hat es geschafft, an die Stelle dieser Emotionalität Begriffe zu setzen: Es geht nicht gegen den Reichtum, sondern gegen die Aneignung fremd erwirtschafteten Mehrwerts, nicht gegen die politische Macht, sondern gegen politische Macht in den Händen des Kapitals, nicht gegen den einzelnen Kapitalisten, sondern gegen das Kapitalverhältnis insgesamt. Durch diese Griffe ist es der marxistischen Theorie gelungen, jene Irrationalität in rationale Gedanken zu überführen.

Was dennoch nie ganz beseitigt werden kann, ist die zugrundeliegende Psychologie, das subjektive Bedürfnis, die Haltung, die beim Menschen insgesamt ausgebildet wird und nicht nur Ergebnis von Denkprozessen ist. Es sei eine nie endende Aufgabe, sich zu zwingen, von jener die eigentlichen Verhältnisse vereinfachenden, fetischbeladenen Politikauffassung wegzukommen, hin zu einer begrifflichen Erfassung der Verhältnisse, also jenen Kampf mit sich selbst zu führen, den viele Linke vor allem deswegen verlieren, weil sie nicht einmal wissen, dass es ihn gibt.

Man erkennt hier viel vom Konzept des Antiimperialismus wieder, dessen theoretische und praktische Schwächen beschrieben wurden. Soll man es für Zufall halten, dass es im Angesicht zahlloser nationaler Emanzipationskämpfe auf der Erdscheibe, von denen nicht wenige deutlich rabiater geführt werden als der in Israel, ausgerechnet dieser ist, der die Herzen der antiimperialistischen Bewegung so aufrührt? Der Staat Israel ist als solches ein Hassobjekt, und der Generalvorwurf an ihn lautet in der Tat, dass er wehrhaft ist und von dieser Fähigkeit Gebrauch macht. Ginge es allein um die Verhältnismäßigkeit der militärischen Mittel, wäre das Ausmaß der antiisraelischen Kritik gar nicht zu erklären, ebenso wenig der Umstand, dass die fortgesetzte – und ganz sicher nicht immer verhältnismäßige – Selbstverteidigung Israels als grundlose Aggression gegen ein notleidendes, sich lediglich verteidigendes Volk dargestellt wird. Wir sprechen von einer Denkstruktur, die Schuld konkret zuweist, nicht das Kapitalverhältnis kritisiert, sondern bestimmte Kapitalisten, sich folglich auch nicht gegen die gesellschaftlichen Zustände im Nahen Osten richtet, sondern gegen einen bestimmten Staat dieser Region, den sie als Alleinschuldigen ausmacht. Der Kampf gegen ganz bestimmte Konzerne (an die 1995 von der ökologischen Bewegung in Gang gesetzte Anti-Shell-Kampagne ist ja bereits erinnert worden, gegenwärtig ließen sich etliche Atomkraft nutzende Energielieferer aufzählen), gegen den Stand der Manager, gegen den Stand der selbständigen Produzenten (das Kleinbürgertum), gegen das Finanzkapital, die Israel-Lobby bis hin zu jüdischen Gemeinden in der Welt und exportierenden israelischen Firmen (wie zuletzt in Bremen, wo Angehörige der PDL Deutsche dazu aufriefen, nicht beim Israeli zu kaufen[13]) – all das ist derselbe Brei in unterschiedlichen Schüsseln.

Der Antiimperialismus, es lässt sich nicht leugnen, ist die außenpolitische Praxis jener Denkstruktur, die Postone beschrieben hat. Aber die Struktur, das ist nicht der Antisemitismus. Weder gilt, dass die Struktur selbst schon Antisemitismus ist, noch gilt, dass jede Form des Antisemitismus – und sei es genauer der moderne – seinen Grund in dieser Struktur hat. Nicht jeder Trottel ist ein Antisemit, nicht jeder Antisemit ein Trottel. Gegen Postones Theorie spricht also, was bei jeder Theorie als Makel empfunden werden muss: Sie erklärt ihren Gegenstand nicht vollständig. Gegen sie spricht ferner, dass sie von dem wegführt, was Postone gerade zu erreichen bestrebt war: eine spezifische Erklärung des Judenhasses. Und schließlich spricht dagegen, falls dergleichen gegen eine Theorie sprechen kann, die Praxis, die aus ihr folgt.

Postone springt tatsächlich zwischen zwei Ebenen: Kapital-Kritik und Macht-Kritik. Letztere, meine ich, liegt tiefer. Der undurchdachte Antikapitalismus ist selbst nur ein Ausdruck der tiefergehenden Anti-Macht-Phantasie der Linken, die ich oben beschrieben habe. Die Macht-Kritik geht letztlich aus der Abneigung der Menge gegen den Einzelnen hervor. Genauer gegen den herausragend befähigten Einzelnen, gegen politische, militärische oder wirtschaftliche Macht und gleichfalls gegen die Intelligenz. Auch Intellektuellenfeindlichkeit ist eine Quelle des Antisemitismus, und Intellektualität eine Spielart von Macht. Im klassischen Judenbild des Antisemitismus taucht neben dem politischen Intriganten und dem wirtschaftlichen Blutsauger auch der jüdische Intellektuelle auf, der zwar nicht Brunnen, aber Köpfe vergiftet. Im ideologischen Geflecht der Linken tritt der Intellektuelle als Kleinbürger auf, als potentieller Gegenspieler des Volks, dessen Äußerungen unbedingt mit Vorsicht begegnet werden muss. Extreme Formen der Intelligenzfeindlichkeit von links sind in der Geschichte Albaniens, Chinas und – falls das unter linke Bewegung fällt – Kambodschas zu studieren. Wir kennen auch heutige Formen von Macht-Hass: gegen Intellektuelle, Manager, Politiker oder TV-Prominente, die insbesondere durch die Medien befördert werden. Wir erinnern uns unzähliger medialer Hinrichtungen öffentlicher Personen, in denen sich – geschickt moderiert zumeist von der Roten Gruppe des Springerverlags – jahrelang angestauter Neid Entladung verschaffte. Das alles ist irgendwie ein Feld, und dann wieder nicht. Ich will sagen: Postones Gedanken führen, per Implikation, die Struktur des Antisemitismus auf eine Tiefe zurück, die so allgemein ist, dass sie sich auf alles Mögliche anwenden ließe. Der Judenhass wird damit eine Spielart von vielen.

Umgekehrt reduziert sich im strukturellen Antisemitismus das lebendige Phänomen Antisemitismus auf eine, wenn auch wichtige, seiner Seiten. Postone selbst hat sich von seinem brillanten Gedanken zur Einseitigkeit verführen lassen: »Allen Formen des Antisemitismus«, schreibt er, »ist eine Vorstellung von jüdischer Macht gemein.« Das stimmt ganz offenkundig nicht. Weder gilt es für die xenophobische noch für die rassistische und erst recht nicht für die aufklärerische Begründungsform des Antisemitismus. Über die religiöse Begründung ließe sich immerhin nachdenken, obgleich hier das Motiv des mächtigen Juden eher akzidentiell ist. Der Kern der Ritualmordlegende z.B. ist nicht die Stärke der Juden, sondern deren Niedertracht, und auch die Kreuzigung Jesu – um eines von Postones Beispielen zu entkräften – ist kein Akt, zu dem besondere Fähigkeiten vonnöten gewesen wären. Einen Heiland ans Kreuz nageln kann jeder; das ist überhaupt keine Kunst. Was den Antisemitismus der Romantik betrifft, so halte ich für möglich, ihn als antizipierte Angst vor dem einflussreichen Judentum und vielleicht als eine Frühform des strukturellen Antisemitismus zu verstehen. Immerhin ist der – soweit ich sehe – früheste Vertreter des strukturellen Antisemitismus mit Friedrich Buchholz ein Zeitgenosse der Romantiker. Auch für die Gefühlslage der heutigen Israelkritik gilt, dass sie viele Wurzeln im Seelischen hat. Der Hass gegen das zirkulierende Kapital ist nur eine davon. Es sind meistens Reflexe: klassisch-antisemitische, die auch vor der Nazizeit schon wirksam waren, solche, die in den gegenwärtigen Verhältnissen des Nahen Osten begründet liegen, und so verrückt es klingt: Selbst die Abscheu vor dem Judenmord der Nazis ist eine Quelle heutiger Israelfeindschaft. Ein solches Erbe belastet. Die Deutschen (sagt Zvi Rex (sagt Henryk M. Broder)) werden den Juden niemals verzeihen, was sie ihnen angetan haben.

In gewisser Weise ist Postones Theorie, sobald sie nicht nur gebildet wird, sondern auch in die Anwendung tritt, das verkehrte Quidproquo dessen, was sie beschreibt: Der Verwechslung der Erscheinung mit dem Wesen setzt sie die Verwechslung des Wesens mit der Erscheinung entgegen. Das Resultat ist ein Wesen, aus dem jene Besonderheit, die die Erscheinung zur Erscheinung macht, getilgt ist, ein falsches Wesen also, das, wie Daniel Rapoport schreibt, den Judenhass »seines Spezifikums, nämlich gegen die Juden gerichtet zu sein, enthebt«.[14] Wollte man stänkern, könnte man sich zum Bonmot herablassen, Postones Theorie sei genauso abstrakt wie der Gegenstand, den sie beschreibt. Aber der Witz an der Ideologiekritik ist ja gerade, dass in ihr die historisch-konkrete Verumständung außer Betracht ist und der Gegenstand, den zu beschreiben sie sich vornimmt, vermittels der Beschreibung als ein überzeitliches Gebilde erst geschaffen wird. Ich sage nicht, dass mit diesem Verfahren keine Erkenntnisse möglich sind, sehe aber nicht ein, warum eine Theorie immer entweder ideologiekritisch oder aber historisch fundiert sein soll.

Querfronten

Auch in der Praxis, sagte ich. Die Anhänger Postones und der Kritischen Theorie, die sich einiges darauf zugutehalten können, die intellektuell-sentimentalen Mechanismen der Traditionslinken durchschaut zu haben, laufen Gefahr, an ihrer Schlauheit zu verblöden. Durch die Figur des Antisemitismus ohne Antisemiten braucht einer heute nichts mehr gegen Juden zu haben, um als Antisemit zu gelten. Und so wird jeder Investmentbanker zum Verfolgten und jeder Manager nachgerade zum Opfer des Judenmords. Überall dort, wo Banken auch nur kritisiert werden, findet sich ein Ideologiekritiker, dem einfällt, dass eigentlich Judenhass im Spiel ist. Und auch, wenn die Schläge oft die Richtigen treffen, sie treffen doch nicht gut. Was einmal gewusst und wieder vergessen wurde, ist, dass jener Kampf gegen die Banken nicht deswegen falsch ist, weil das raffende Kapital etwa nicht raffte, sondern, weil das andere ebenso wenig schafft. Nicht nur Investmentbanker und Broker sind unproduktiv, Industrieeigner sind es auch, und man darf gern bei Adorno nachlesen, dass das als schaffend bezeichnete Kapital sich vom als raffend bezeichneten darin unterscheidet, dass es »nicht bloß am Markt[,] sondern [bereits] an der Quelle«[15] rafft.

Ähnliches wiederholt sich auf der internationalen Ebene, wo die Kritische Linke aus dem akzidentiellen Bündnis der USA mit Israel eine Identität herausliest und aus dieser Erkenntnis als conversio simplex die Parole Antiamerikanismus = Antisemitismus ableitet. Natürlich gibt es Gestalten, deren Antiamerikanismus antisemitische Wurzeln hat. Aber der Grund, aus dem jene Verbindung hergestellt wird, liegt doch ganz offenkundig darin, vom weniger Verwerflichen auf das Verwerfliche kommen zu können. Sind Antiamerikanismus und Antisemitismus erst einmal als Zwillingsbrüder oder Momente einer gemeinsamen Entwicklungslinie dargestellt, ist es auch nicht mehr nötig, den Feind, den ich suche, dort zu schlagen, wo ich ihn treffe, weil ich ihn ja überall treffe, wo immer ich eben hinschlage. In der Folge tritt die verrückte Lage ein, dass eine sich selbst als wahrhaft marxistisch verstehende Bewegung ihre Hauptaufgabe in der Verteidigung bestimmter Kapitalformen und bestimmter imperialistischer Machtblöcke zu erblicken vermeint. Sichere zwölf Stunden täglich arbeiten sie an der Verteidigung der USA, und die verbleibenden fünf Minuten vor dem Schlafengehen wohl auch noch an der Vorbereitung des Kommunismus. Die Kritische Linke wird somit zum Spiegelbild der Traditionslinken, genauer: Der verblödete Teil der einen spiegelt den blöden Teil der anderen, und von Spiegelbildern weiß man, dass sie in der Gestalt identisch sind. Es ist daher folgerichtig, dass ein Teil der Kritischen Linken von der Ablehnung des Antiamerikanismus zu einer US-patriotischen Haltung übergegangen ist. Das – um das Bild fortzumalen – ist die Sorte, die glaubt, man könne den Kapitalismus dadurch besiegen, dass man ausschließlich bei Shell tankt.

Die letzte Konsequenz dieses Weges ist die Verteidigung des Okzident nicht nur gegen jegliche Anwürfe aus dem Orient, sondern auch gegen jede Idee einer alternativen, z.B. sozialistischen, Gesellschaftsstruktur. Und so verschanzt sich hinter Panzerbildern mitunter ganz ordinäre Ausländerfeindlichkeit, womit sich ein Link zur nicht-völkischen Rechten legt, die sich in Netzwerken wie der Achse des Guten oder Politically Incorrect zusammenfindet, wo man unterm Feldzeichen der Islamkritik und der Vorgabe, jegliche Form des Völkischen zu bekämpfen, ins Völkische zurückfindet. Gern schreiben Leute wie Broder über die Gefahr einer neuen Querfront aus der Traditionslinken und der völkischen Rechten, die sich über die Ablehnung Israels konstituieren könnte; weniger oft hört man von ihnen freilich, dass eine Querfront mit derselben völkischen Rechten sich auch über die Ablehnung des Islam und die Verteidigung des Abendlandes herstellen ließe, in der dann sie der Partner wären.

Seien wir realistisch: Die eine wie die andere Querfront wird sich nicht herstellen. Dazu sind die Gräben zwischen der nicht-völkischen Rechten, der völkischen Rechten, dem rechten Flügel der Kritischen Linken, der antiimperialistischen Fraktion der Traditionslinken und den Islamisten in Deutschland viel zu tief, sind ihre sonstigen Meinungsverschiedenheiten zu groß. Die wenigen Versuche, die tatsächlich unternommen wurden – etwa die im Umfeld des Verlags Homilius mit seiner Gallionsfigur Jürgen Elsässer –, sind zum Scheitern verurteilt und stoßen in allen Lagern auf heftige Ablehnung. Wenn ich von der Gefahr einer Querfront spreche, dann meine ich eine Querfront ex parte: ein vorauseilendes Annähern an die Positionen anderer politischer Lager zum Zwecke der Bündnisfähigkeit, bei dem sich das tatsächliche Bündnis gar nicht bilden muss, um seine weltanschauliche Deformationen anzurichten.

Wenn ihr es wollt, ist es kein Wahn

Es wäre wirklich nicht schwer, eine kritische Haltung zur israelischen Politik einzunehmen, ohne dabei in den Sumpf einer Querfront zu geraten. Voraussetzung hierfür ist einerseits die Bereitschaft, politische Fragen konkret zu beurteilen und nicht den abstrakten Regeln einer Bündnislogik zu folgen, und zum anderen die Kontrolle solcher Gefühle wie Mitleid, Empörung usf., die sich bei politischen Fragen umgehend einstellen und die in kollektiven Zusammenhängen zu Stimmungen werden. Solche Stimmungen können sich zu ganzen Weltanschauungen ausformen, wobei bezüglich der antiimperialistisch grundierten Israelkritik die Frage interessiert, ob hier die Bündnisbereitschaft Ergebnis der Stimmung oder die Stimmung Resultat der Bündnisbereitschaft ist. Man darf, bei aller wechselwirkenden Befruchtung, wohl annehmen, dass die Stimmung zuerst kommt und das Bündniskalkül ihr folgt. Der sich ekstatisch entladende Hass gegen Israel zeigt, dass die antizionistische Haltung emotional aufgeladen ist. Das erste und wichtigste, leite ich hieraus ab, ist die Bekämpfung jener übergriffigen Emotionalität. Falsche Logik lässt sich widerlegen, aber die Widerlegung wird nur von denen akzeptiert werden können, die kein unbewusster Affekt und keine Stimmung daran hindert, den Gedanken zuzulassen, dass 2 und 2 möglicherweise doch 4 macht. Natürlich argumentiert man auch gegen eine Stimmung mit der Vernunft, aber man argumentiert anders, wenn es darum geht, zunächst einmal irrationale Motive aus dem Weg zu räumen, bevor die vernunftgemäße Entwicklung von Theorie selbst wirksam werden kann.

Die sogenannte Israelkritik ist kein Monolith. Dieser Umstand ist nicht zuletzt deswegen zu beachten, weil es inzwischen noch mehr als die proisraelische Fraktion die antiisraelische ist, die das Gegenteil behauptet. In Form ihres klassischen Verteidigungssatzes nämlich, dass Kritik an Israel nicht antisemitisch sein könne. Ich halte die Unterscheidung dreier Weisen von Israelkritik für sinnvoll: partikulare, antizionistische und antisemitische. Partikular ist jede Kritik, die sich auf bestimmte Maßnahmen, bestimmte strategische Ausrichtungen oder bestimmte Gruppen bezieht. Antizionismus ist gegeben, wo Kritik am Anspruch des jüdischen Volks geübt wird, einen jüdischen Staat besitzen zu wollen. Antisemitismus liegt vor, wo die Kritik sich gegen die Existenz des Staates Israel bzw. solche Maßnahmen, die seine Existenz garantieren, richtet. Diese Unterscheidung bereits deutet an, dass es im Praktischen schwer wird, Antizionismus und Antisemitismus genau zu trennen. Wer wissen will, wie es sich mit dem Antizionismus verhält, muss wissen wollen, was der Zionismus ist.

Der Zionismus ist ein Teil der europäischen Nationalstaatsbewegung, ihn aber ausschließlich als diesen Teil sehen hieße, die Besonderheiten seines Zustandekommens ignorieren. Immerhin liegt in dieser Perspektive schon einmal das Zugeständnis, dass der Zionismus – anders als seine heutigen Gegner glauben – keine besonders perfide Idee ist, vergleichbar etwa den Rassentheorien der Nazis, sondern eine Gründungsideologie unter vielen in der europäischen Geschichte. Ohne den Zusammenhang des Zionismus mit der Ausbildung der europäischen Nationalstaaten zu leugnen, muss aber berücksichtigt werden, dass er verspätet auf der weltgeschichtlichen Bühne erscheint. Die großen Nationen – ausgenommen Deutschland – besitzen ihren Nationalstaat seit (und dank) dem frühen Absolutismus. Das 19. Jahrhundert ist bereits eine Epoche der Nachzügler, und selbst der schwerfällig sich ausbildende Nationalgeist der Deutschen ist, wenn auch nicht umfassend, schon zu Klopstocks Zeiten präsent, bevor er sich dann bei Arndt, Fichte und Jahn in ebenso grotesker wie vollständiger Form entfaltet. Der jüdische Nationalgedanke ist jedoch selbst dann, wenn man ihn am deutschen oder irischen misst, verspätet. Das liegt, wie ich vermute, weniger darin begründet, dass die Juden im 19. Jahrhundert noch mit der Erlangung der Bürgerrechte beschäftigt waren, denn auch in den westeuropäischen Regionen, wo sie das Bürgerrecht schon besaßen, fasst die Idee eines jüdischen Nationalstaats das ganze Jahrhundert hindurch nicht ernsthaft Fuß. Immerhin liegt eine Gemeinsamkeit mit den Nationalideologien der Iren und der Deutschen darin, dass auch die jüdische aus einer oppositionellen Stellung heraus gebildet wurde. Doch bei der Opposition, in der das jüdische Volk sich befand, ging es darum, das Überleben zu garantieren, und nicht bloß um die Erlangung nationaler Unabhängigkeit.

Das zeigt sich in den zwei besonderen Umständen des 19. Jahrhunderts, die die Entstehung des Zionismus begünstigt haben: in der schleichenden Reformation des jüdischen Glaubens und der Verschärfung des Antisemitismus. Die Wirkung der Haskala und des reformierten Judentums war, obgleich unbeabsichtigt, dass die Religion an Bindekraft für die jüdische Bevölkerung verlor. Das rabbinische Judentum mit seiner strengen Orientierung aufs Ritual war eine notwendige Form des Überlebens in der Diaspora, welcher Zusammenhang sich im Glauben dahin verkehrte, dass die Diaspora als die angemessene Lebensform der Juden postuliert wurde, wonach diese nicht eher als bis zur Ankunft des Messias nach Israel zurückkehren dürfen. Durch Kritik der Aufklärer und Reformer an den Zeremonialgesetzen, dem Talmud und in einigen Fällen sogar an der Tora selbst entstand die Gefahr, dass die Emanzipation in Assimilation übergehen, dass die jüdische Bevölkerung ihre kulturelle Identität verlieren könnte. Der Zionismus trat in diesen Freiraum und setzte an die Stelle der nicht haltbaren Orthodoxie den Gedanken der jüdischen Nation, die damit die Religion als Leitgedanken des kulturellen Selbstbewusstseins ablöste. Insofern ist der Zionismus eine Fortsetzung der jüdischen Reformation und Aufklärung, eine Form mithin der jüdischen Emanzipation. Dadurch, dass er ein Volk zur Nation bildete und die Säkularisierung beförderte, wirkte er fortschrittlich. Diese Fortschrittlichkeit ist historisch, und machte sie allein das Wesen des Zionismus aus, wäre er heute weitgehend Geschichte.

In seinem anderen Grund, dem Antisemitismus, liegt jedoch, warum der Zionismus heute keine Anstalten macht abzutreten oder sich zu mäßigen. Auf dieser Seite des Problems stellt sich die Frage nach dem Fortschritt nicht; es geht um Notlagen, und Not erzeugt Notwendigkeiten. Der Zionismus ist eine Kampfform, herausgebildet in einer Epoche, in der die seit Jahrhunderten immer wieder ausbrechende Judenfeindschaft in Europa, vor allem im slawischen Raum, bedrohliche und kontinuierliche Aktivitäten hervorbrachte, in der der Antisemitismus sich, vor allem in Deutschland, auf den Boden eines rassistischen Kalküls gestellt hatte, in der, lässt sich sagen, Wort und Tat des europäischen Antisemitismus die in Europa lebenden Juden zum Umdenken und Handeln zwangen. Auch deshalb ist es ein einziger Hohn, wenn heutige Kritiker Israels gegen den Zionismus vorbringen, er sei älter als der Faschismus. Der Rassenwahn der Nazis kam nicht aus dem Nichts; er bereitete sich von langer Hand im 19. Jahrhundert vor, und wer etwa die Schriften eines Hartwig von Hundt-Radowsky liest, wird sich fragen, was am etwa 100 Jahre späteren »Mein Kampf« so außerordentlich neu gewesen sein soll.

Und auch der arabische Antisemitismus, wenngleich er, wie kein zurechnungsfähiger Beobachter bestreiten wird, in der jüdischen Besiedlung Palästinas eine weiternde Quelle und praktischen Anlass fand, kann nicht einfach nur als Reaktion auf die zionistische Bewegung gesehen werden. Die Damaskus-Affäre liegt lange vor der ersten Ansiedlungswelle, und das Wachstum des Antisemitismus in der Region stellt sich zunächst als ordinäre Xenophobie einer Mehrheit gegenüber einer rasch wachsenden Minderheit dar. Mit Balfour beginnt das Kräfteverhältnis sich freilich zu ändern, aber auch dieser Vorgang ist kein Anfang, sondern nur eine Etappe in der Gründungsgeschichte Israels, ganz wie auch die Aussagen des Mufti al-Husseini vor der Peel-Kommission, die organisierten Pogrome seit Beginn der zwanziger Jahre, die innige Beziehung mit dem deutschen Nazireich oder die Tatsache, dass die Möglichkeit eines palästinensischen Staats 1947/48 von der Arabischen Liga verspielt wurde, die sich im Gegensatz zur Jewish Agency nicht mit einem Kompromiss abfinden wollte.

Differenziertes Denken muss fähig sein, zwischen Ursprung und Funktion zu unterscheiden. Auch wenn der Zionismus heute von der politischen Rechten Israels instrumentalisiert wird, ist er in seinem Ursprung nicht die chauvinistische Ideologie eines imperialistischen Staates, sondern die Nationalidee eines unterdrückten Volks. Auch der Islam wird von den heutigen arabischen Staaten für partikulare Interessen benutzt, ohne dass diese Nutzung etwas an seinem Ursprung ändert. Gewiss ist es richtig, nicht nur zu fragen, was der Zionismus ist, sondern auch, was er wurde. Und gewiss hat man selbst dann, wenn man ganz unbefangen und ohne alle historische Umsicht fragt, was der Zionismus heute ist, die Pflicht, seine sämtlichen Funktionen, und möglichst im Zusammenhang, darzustellen. So und nur so wäre Kritik am Zionismus möglich.

Die Grenze zwischen einer solchen Kritik und einem antisemitisch motivierten Antizionismus zieht sich wie natürlich an der Frage des Existenzrechts von Israel. Selbst die fundamentalste Kritik an Staaten wie den USA oder der BRD wird von den Traditionslinken nicht in die Form einer Verneinung der Existenz gebracht. Dort spricht man wie selbstverständlich von der Umstrukturierung der Gesellschaft, von sozialen oder politischen Revolutionen, vom grundlegenden Eingriff in die Produktionsverhältnisse. Allein bei Israel scheint man darauf versessen zu sein, die soziale Frage national zu stellen, dem Staat seinen jüdischen Charakter auszutreiben oder ihn gleich ganz von der Landkarte zu streichen. Es ist wirklich schrecklich einfach: Wer das Existenzrecht von Israel nicht anerkennt, die Abschaffung dieses Staats fordert oder ihm seine Wehrfähigkeit nehmen will, ist ein Antisemit, gleich, aus welchen Gründen er zu argumentieren glaubt. Alle politischen Vorgänge, die darauf hinauslaufen, Israel zu schwächen, sind eine – und keineswegs hypothetische – Gefahr für das Leben von Juden in und außerhalb Israels. Wer konkret entsprechende Forderungen stellt, muss sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen.

Der sich als Antizionismus deklarierende Antisemitismus ist verräterisch in seiner Ausführung: Wenn an Israel andere Maßstäbe angelegt werden als an andere Staaten, wenn gegen Aktionen der IDF heftiger polemisiert wird als gegen andere Armeen, wenn man Israel die alleinige Schuld am Nahostkonflikt zuschiebt und bedingungslose Solidarisierung mit den antiisraelischen Kräften fordert, wenn die konkret-politischen Forderungen dieser Kräfte ausgeblendet, beschönigt oder bagatellisiert werden, wenn die Existenz Israels als ein zu korrigierender Fehler der Geschichte ausgegeben wird, wenn man die Verfassung des Staates als rassistisch bezeichnet und seine Gleichsetzung mit dem Nazireich vornimmt, wenn man die Politik der israelischen Rechten mit dem Staat insgesamt gleichsetzt und die Juden, in Israel wie anderswo, als Einheit aufgefasst und kollektiv für die politischen Vorgänge in Nahost verantwortlich gemacht werden – in all diesen Fällen ist Antisemitismus im Spiel, sei es bewusst oder unbewusst. Man kann antisemitisch sein, ohne es zu wissen; durch die Art, wie man denkt und durch das, was man glaubt. Antisemitisch, sagte ich oben, in der Ausführung. In der Ausführung aber, schrieb Hegel vor mehr als 200 Jahren, liegt das Wesen einer jeden Philosophie. Und was für die Philosophie gilt, gilt erst recht für die Ideologie, denn die Ideologie ist nichts als bloß Ausführung.

All das ließe sich vertiefen, und ich will nicht ausschließen, dass sich bei längerem Nachdenken noch manches finden läßt, an dem man, wie an einem Haken, den Antisemitismus im Geflecht der antizionistischen Vorstellungen zu fassen bekommt. Das wichtigste Schibboleth heutiger Israelfeinde indes ist die Forderung der sogenannten Einstaatenlösung. Das Wort ist dem Ausdruck Zweistaatenlösung nachgebildet, und seine verkorkste Grammatik spricht auf eine Weise Wahres; es zeigt schon sprachlich, wie gleichgültig den Verfechtern, die sich unter ihm versammeln, ist, ob das, was sie zusammengebracht sehen wollen, auch wirklich zusammengeht. Bezeichnend ist, dass innerhalb der israelkritischen Linken häufig die Zweistaatenlösung abgelehnt wird, denn für diese Ablehnung gibt es eigentlich keine rationalen Gründe. Ginge es tatsächlich um die Emanzipation der Palästinenser, wäre die Zweitstaatenlösung das natürliche Ziel, und dieses Ziel hätte außerdem für sich, dass die israelische Regierung es akzeptieren würde. Ein eigener, souveräner Staat – ist es nicht das, was die Palästinenser wollen? Doch viele deutsche Israelkritiker fordern mit Vehemenz jenen binationalen Staat, in dem Araber und Juden gemeinsam und – natürlich – demokratisch leben, und der dann – natürlich – Palästina heißen muss. Die Lust an der Einstaatenlösung erklärt sich daraus, dass ein solcher gemeinsamer Staat niemals Israel sein könnte. Es geht darum, den einzigen jüdischen Staat aus der Region zu entfernen, und dieser Wunsch ist so intensiv, dass seine Verfechter völlig aus den Augen verlieren, wie viel auch ganz praktisch gegen eine Einstaatenlösung spricht und wie sehr dieser scheinbar fromme Wunsch an der Wirklichkeit vorbeigeht. Die Einstaatenlösung ist einfach ein anderer Ausdruck für die Vernichtung Israels, die Beseitigung also der einzigen Zone auf der Welt, in der Juden vor allen Verfolgungen geschützt wären, die sich aus keinem anderen Grund an ihnen vollziehen als dem, dass sie Juden ist. Was immer Israel sonst noch ist, es ist stets dieser Ort der Zuflucht, und der Gedanke, dass die jüdische Bevölkerung Israels diese Möglichkeit preisgeben sollte, ist ebenso feindselig wie illusorisch.

Natürlich billigt fast jeder Antizionist den Juden ein Lebensrecht im Nahen Osten zu. Was sie, seine Gnade zu erhalten, einzig tun müssen, ist, sich wehrlos denjenigen Kräften auszuliefern, deren konsensfähige Raison die Vernichtung oder Vertreibung der Juden vom »arabischen« Boden ist. Der feste Glaube, dass der arabische Antisemitismus – sofern seine Existenz überhaupt konzediert wird – keinen anderen Grund habe als das Wirken des Zionismus, lässt die Antizionisten annehmen, ein einseitiges Waffenstrecken Israels führe unmittelbar zum Frieden in der Region und nicht etwa zu allerlei Jagd- und Schlachtfesten. Naivität ist das bei weitem freundlichste Wort für Gemeingefährlichkeit.

Naivität ist etwas für Kinder. Es gibt ein Alter, da hört man auf, einfach Ergebnis der Erziehung zu sein, die man genossen hat. Man ist vielleicht mit größter Selbstverständlichkeit in der Ablehnung Israels aufgewachsen. Man wusste, dass der Zionismus eine zu verurteilende und mindestens rassistische Ideologie ist; man glaubte auch dann, ihn bekämpfen zu müssen, wenn man wenigstens die Existenz Israels selbst nicht in Frage stellte. Man hatte dem Staat gegenüber, seiner Politik wie seiner Verfassung, äußerste Skepsis an den Tag zu legen und tat es bereitwillig. In dieser Frage ist – eigenartig genug – zwischen der ostdeutschen und westdeutschen Sozialisation kein Unterschied. Die Emanzipation von diesen Vorstellungen geschieht, wenn sie denn geschieht, in Ost wie West unter denselben Ausgangsbedingungen. Es kostet Mühe, sich von Irrtümern, mit denen man aufgewachsen ist, zu lösen; das gilt vor allem dann, wenn man sich in diesem Prozess von Vernunft leiten lässt. Von einem Schwachsinn in den folgenden zu kippen ist ganz leicht. Die vernunftgemäße Lösung vom Antizionismus heißt nicht Zionismus; sie bedeutet vielmehr, sich dem Phänomen des Zionismus mit Nüchternheit zu nähern, es historisch und psychologisch einzuordnen, und nicht zuletzt, es praktisch zu beurteilen. Es geht nicht darum, alles zu dulden. Erklären bedeutet nur dann Dulden, wenn sich in der Erklärung die Notwendigkeit des zu erklärenden Sachverhalts erweist. Der Zionismus existiert, weil es den Antisemitismus gibt, nicht umgekehrt. Eine Welt ohne Zionismus ist nur vorstellbar unter der Voraussetzung, dass kein Antisemitismus mehr existiere. Aber eine Welt ohne Antisemitismus, das wäre wie eine Welt ohne Dummheit, will sagen: ein erfreulicher Gedanke, aber es fällt schwer, an seine Realisierbarkeit zu glauben.

Der Antizionismus selbst erscheint zunächst als unproblematisch. Schnell begreift man, dass diese Ideologie veritablen Antisemiten eine Gelegenheit bietet, ihre Bedürfnisse auszuleben, ohne sich direkt als Antisemiten offenbaren zu müssen, aber man neigt dazu, das für eine Randerscheinung zu halten, die bei einiger Aufmerksamkeit kontrollierbar sei. Dagegen spricht, dass Antizionisten grundsätzlich kein Maß halten können und Schwierigkeiten haben, in den einzelnen Momenten ihrer Kritik zu unterscheiden, wogegen sie sich gerade richten: gegen den Likud, gegen Israel oder das Judentum überhaupt. Im Antizionismus vermischen sich all jene Unterscheidungen zu einem diffusen Aggregat. Aus dieser irrationalen Gefühlslage erklären sich all jene merkwürdigen Verhaltensweisen heutiger Israelkritiker, die kaum untereinander konsistent und noch weniger mit einem insgesamt rational fundierten Kalkül in Einklang zu bringen sind. Auch deswegen muss man sich die Frage stellen, ob der Antizionismus wirklich nur ein Vorwand für Antisemiten ist, oder nicht auch aus sich selbst heraus eine Tendenz zu antisemitischen Denkstrukturen entwickelt.

Das mindeste, was sich sagen lässt, ist dies, dass der Antizionismus selbst dort, wo er mit größter Vorsicht gegen ein Abdriften betrieben wird, die eigentlichen Verhältnisse auf den Kopf stellt. Er beschränkt sich ja nicht darauf, dem Zionismus eine Teilschuld am Nahostkonflikt zuzuschreiben oder ihn als eine den Antisemitismus nicht nur bekämpfende, sondern zum Teil auch befördernde Strategie hinzustellen, sondern in der Wahrnehmung der Antizionisten ist der Zionismus, wo nicht überhaupt das einzige, so doch jedenfalls das größte Problem im Nahostkonflikt, dessen hauptsächlicher Verursacher und eigentlicher Aggressor. Auch dort, wo man ihm seine historische Verursachung durch die Jahrhunderte währende Judenverfolgung zubilligt, wird dieser Vergangenheit das Bild einer verkehrten Gegenwart entgegengesetzt, in der der Jude kein Verfolgter mehr und der Staat der Juden ein Täterstaat geworden ist – als sei es möglich, in der Geschichte einen Schnitt zu setzen, von wo aus ein Vorgang sich ganz ohne Rücksicht auf das zuvor Vorgefallene ins Werk setzen könne. Dadurch aber, dass der Antizionismus den Juden eine Wahl zubilligt, den Arabern jedoch nicht, indem er jene als Aggressoren und diese als Reagierende ausgibt, enthält er selbst die Implikation, der Zionismus sei die Ursache des heutigen Antisemitismus. Der praktische Schluss ist dann, dass die Abschaffung des Staates Israel die notwendige Bedingung für die Beseitigung des Antisemitismus ist.

Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich Ihnen am Anfang jene unhöflich private Schnurre erzählt habe. Nicht wenige Antizionisten leben in genau diesem Glauben, manche drücken sich drastischer aus, andere mit Vorsicht; das ist eine Frage der Begabung, nicht der Gesinnung. Aber wenn dieser Glaube an den selbstverschuldeten Antisemitismus kein Antisemitismus sein soll, was überhaupt ließe sich dann noch als antisemitisch bestimmen? Im klassischen Antisemitismus, wie man weiß, ist der Jude an allem schuld. Die heutige Spielart des Antisemitismus ist, den Juden, wenn schon nicht an allem anderem, doch wenigstens die Schuld am Antisemitismus zu geben. In dieser Argumentation steckt ausnahmsweise kein Fehler; sie folgt aus den gesetzten Prämissen, die einem hartnäckigen Geschichtsrevisionismus entnommen sind. Wenn also Antizionismus nicht in Antisemitismus umschlägt, dann gerade deswegen, weil die Logik des Antizionismus nicht konsequent verfolgt wurde, weil eine gesunde Intuition oder eine politische Vorsicht den Betroffenen riet, zurückhaltend zu sein. Hier sind Inkonsequenz und moralische Skrupel das, was Schlimmeres verhindert. Besser freilich, wenn man die Denkweise gleich selbst abwehren kann. Doch wenn man schon dazu nicht fähig ist, ist es doch beruhigend, wenn wenigstens Bammel vor den eigenen Gedanken einen Riegel vorschiebt.

[Juni 2011 | April 2015]

Noten

[1] http://www.memritv.org/clip/en/0/0/0/0/0/0/2415.htm; vgl. auch seine am 19. März 2010 gehaltene Rede: http://www.memritv.org/clip/en/2430.htm

[2] exemplarisch hierfür: »Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen. Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung. In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.« (MEW 4, 479).

[3] vgl. z.B. seinen Artikel »Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien« (MEW 9, 220ff.).

[4] vgl. z.B. LW 22, 347–350.

[5] vgl. z.B. SW 6, 127f.

[6] Hinter dem gestochenen und scheinbar rationalen Wortmaterial tritt ein simples, manichäisches Schema hervor, das die Welt in Gut und Böse teilt und nichts dazwischen kennt: »Die Welt im Nahem Osten ist in zwei Fronten geteilt, da sind die arabischen Völker, die von den progressiven Kräften der Welt im Sinne des Fortschritts unterstützt werden, demgegenüber stehen die zionistischen Kreise, die jüdische Bourgeoisie und Monopole in und außerhalb Israels, die von der ganzen kapitalistischen Welt unterstützt werden.« (UZ v. 13. März 1975) Anstatt einen Machtkampf zwischen stärkeren und schwächeren Staaten am Werk zu sehen, die sich hinsichtlich ihrer kapitalistischen Strukturen ähneln und lediglich in betreff ihrer Möglichkeiten, den Kampf zu gewinnen, voneinander unterscheiden, konstruiert die antiimperialistische Ideologie einen Block des Imperialismus und einen des Antiimperialismus. Aus dem imperialistischen Block muss sie dann zwingend eine ausgesuchte Gruppe von Staaten herausreißen und auf die Seite der Unterdrückten stellen. Wie den Iran zum Beispiel. So spricht der antiimperialistische Dauerredner Pirker dann mit Blick auf die vergangenen Unruhen im Iran vom Versuch, »die volle Wiedereingliederung des Iran in das System der imperialistischen Weltordnung« (junge Welt v. 22. Juni 2009, S. 8) zu erreichen, womit sichtbar wird, dass aus der Umdeutung einiger imperialistischer Mächte zu antiimperialistischen (als sei letzteres überhaupt ein Strukturmerkmal) eine Auffassung von Imperialismus folgt, die in ihm nichts anderes als ein einheitliches Organ mit fester Ordnung sehen kann. Wer allerdings nicht begreift, dass die Menge imperialistischer Staaten kein »System« bildet, sondern eine die Welt umgreifende Sammlung von partikularen Gewalten, von dauerhaften Kämpfen, aus denen man nicht durch außenpolitische Entscheidungen austreten kann, der folgt, aller Rabulistik zum Trotz, nichts anderem als seinem Gefühl. Wenn man Kriege, Krisen, Armut usw. nicht aus den Widersprüchen der gesellschaftlichen Verhältnisse erklärt, sondern die Weltlage als monolithisches Konstrukt auffasst, muss man ein moralisches Erklärungsmodell heranziehen: Dann können Kriege usw. nur das Ergebnis bösartiger Absichten sein, und sie wären so nicht Folge gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern personell installierter Selbstzweck.

[7] Übrigens hat Lenin diese Differenz auch direkt deutlich gemacht, indem er beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs – zu einer Zeit also, da die Kommunisten nicht an der Macht waren – in seinen Polemiken gegen die II. Internationale einen revolutionären Defätismus formulierte, demnach es nicht die Aufgabe der kommunistischen Bewegung sei, sich im gegenseitigen Kampf der imperialistischen Mächte auf eine der Seiten zu stellen, sondern man die Verhältnisse im eigenen Land anzugreifen und sich also auf die Arbeit des Klassenkampfes zu konzentrieren habe.

[8] Da es immer wieder großen Spaß macht, Werner Pirker mit dessen eigenen Worten als den Nazi bloßzustellen, der er ist, weise ich im Zusammenhang mit der Vernichtung der Tudeh-Partei auf einen Kommentar Pirkers zu den jüngsten Protesten im Iran hin, die er – in unstillbarem Hass gegen jeglichen Hedonismus und gegen den Wunsch nach persönlichem Glück – der Kommunisten mordenden Islamischen Revolution als »asoziale Revolution« entgegensetzte: »Was sich im Iran abzeichnet, ist die konterrevolutionäre Revanche an der Islamischen Revolution als Emanzipationsprozeß der Volksklassen.« (junge Welt v. 20. Juni 2009, Beilage, S. 3).

[9] Ganz scharf lässt sich diese Grenze sicher nicht ziehen, da sie nicht nur durch die meisten Parteien, sondern oft auch durch die einzelnen Personen hindurchgeht. Die DKP z.B. hat es geschafft, bei ihrer Gründung 1968 zugleich einen Kommunismus zu wollen als auch eine »antimonopolistische Demokratie« zu fordern, womit eine der klassischen Vokabeln des Antiimperialismus etabliert wurde. Wenn Fitzgerald im »Crack-Up« schreibt, dass die wahre Probe des erstklassigen Denkens darin bestehe, zwei gegensätzliche Ideen im Gehirn zu behalten und dennoch weiterhin zu funktionieren, dann mag das stimmen, soweit es das erstklassige Denken betrifft, aber es bleibt doch der Umstand, dass das einfältige Denken nichts anderes tut als genau das. Ein Ansammeln disparater Ideen im selben Kopf, der dann mit seinen krausen Gedanken irgendwie durch den Alltag kommt, ist keine Kunst, sondern in der Tat die geistige Form des Opportunismus. Die Kunst beginnt erst dort, wo einer versteht, die sich widersprechenden Ideen angemessen zu vermitteln, wozu natürlich auch die Erkenntnis gehört, dass bestimmte Ideen sich gar nicht miteinander vermitteln lassen. Fitzgerald entschuldigt ein wenig, dass er die DKP nicht gekannt hat – ein natürlicher Vorzug, um den ihn die heutige Welt beneiden muss.

[10] Moishe Postone: Anti-Semitism and National Socialism, in: New German Critique 19 (1980), S. 97–115.

[11] Das schwierige Erbe der Dimitroffschen Faschismusdefinition ist, dass sowohl ihre Gegner als auch ihre Verfechter den Fehler machen, sie für eine universelle Erklärung zu halten. Die Definition ist dort sinnvoll, wo man ihre Geltung beschränkt, und sie wird falsch, wo man versucht, den Faschismus als Phänomen insgesamt unter ihren Begriff zu bringen. Erstens beschreibt sie nicht den Ursprung des Faschismus, sondern seine Funktion, zweitens beschreibt sie von den verschiedenen Funktionen des Faschismus nur eine (nämlich die auf den Klassenkampf bezogene) und drittens gilt sie, wie Dimitroff selbst sagt, für den Faschismus an der Macht, den man vom Faschismus als politische Bewegung und von der faschistischen Ideologie unterscheiden muss. Es ist unvermeidlich, dass dort, wo diese Definition allein waltet, eine gewisse Schwäche in der Theorie entsteht, mithin eine Unfähigkeit, neuere Phänomene, wie etwa den arabischen Antisemitismus, richtig einzuordnen.

[12] Streng genommen ist der Vorgang sogar dreiteilig, indem nach der Verwandlung des konkreten Kapitals in ein abstraktes und der Verwandlung des abstrakten Kapitals in die konkrete (jüdische) Gestalt diese so gewonnene anschauliche Gestalt sich recht eigentlich als Abstraktion erweist, sei es als der Jude oder in der Vorstellung eines Weltjudentums.

[13] Was den Boykott israelischer Waren betrifft, so ist weniger die Reminiszenz an das Deutsche, kauft nicht beim Juden! ein Problem, und auch der Umstand, dass es Deutsche sind, die zu diesen Boykotten aufrufen, zeugt eher von einem Mangel an Fingerspitzengefühl als von veritabler Bosheit. Was der Sache eine antisemitische Note gibt, ist der zugrunde liegende Gedanke: Der Boykott, der die Regierung Israels treffen soll, trifft in Wahrheit israelische Staatsbürger, die auf die Art für die Politik ihrer Regierung haften sollen. Niemand, interessanterweise, fordert z.B. aus Protest gegen die USA einen Boykott amerikanischer Produkte. Im Boykott israelischer Waren kehrt ein klassisches Element des Antisemitismus wieder, nach dem das Judentum stets als, wo nicht gar verschworene, so doch gleichstrebende Gemeinde aufgefasst wird und jeder Jude die Taten eines anderen Juden unbedingt billige. Ich erinnere mich einer TV-Diskussion, in der Norbert Blüm den deutschen Staatsbürger Michel Friedman anlässlich des Umstands, dass Israel einen UN-Kommissar nicht ins Land gelassen hatte, anfuhr: »Was habt ihr …« und »Lasst den rein …«. – »Es herrscht im allgemeinen der Wahn«, schreibt Saul Ascher 1818, »daß in den Juden der Jude überhaupt enthalten sei, daß sie sich nicht belügen, betrügen, verleumden und verfolgen, denn man hält sie für ein Ganzes, für einen Leviathan, und wo, fügt man corollarisch hinzu, ist das Wesen, das in seinen eigenen Eingeweiden mit dem Dolch wühlt?« (Flugschriften. Theoretische Schriften. Band 1, Mainz 2011, S. 209f).

[14] Daniel Rapoport: Die reizlose Seite des Humanismus. In: Argos 5 (2009), S. 175.

[15] GS 3, 198.

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