Jul 072011
 

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Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß1

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Das Ende der Deutschen Klassik, das sich irgendwann zwischen der ersten Nummer des Athenäum und dem Tod Goethes vollzog, kann von verschiedenen Seiten her begriffen werden. Es läßt sich als Ergebnis des heraufziehenden Kapitalismus beschreiben, als Resignation einer jungen Generation gegenüber einer gefühlten Unüberbietbarkeit der klassischen Periode oder als Verzweiflung des einzelnen Subjekts, das sich mit der in der Moderne zunehmenden Freiheit auch zunehmend seiner Möglichkeiten, auf die Welt zu wirken, beraubt sieht. Der Gründe sind viele, und soweit ich sehe, ist das einzige, was am Untergang der Klassik wirklich ganz unschuldig ist, ausgerechnet jenes Ereignis, dem man am häufigsten die Schuld daran gegeben hat: die Erfindung der Dampflok. Von welcher Wurzel man sich immer der Sache nähern mag, im Zentrum des Problems stellen sich Krise und Ende der Klassik als Verlust einer äquivalenten Publikumshaltung dar. Die Klassik, heißt das, fiel auf einen Boden, auf dem sie nicht fruchten konnte, weil die Menschen zunehmend Schwierigkeiten hatten, die überkommenen Ideen mit ihrer Gegenwart in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen. Klassik bedeutet, die Welt als Einheit aufzufassen und seine Gedanken in eine entsprechende Form zu bringen. Die Moderne ist dagegen jenes Zeitalter, worin die Formen des menschlichen Verkehrs immer weniger einsichtig und die Welt insgesamt immer weniger überschaubar wurde. Das Ich, folglich, gerät in eine geistige Krise. Es ist Gottfried Benn, der vermocht hat, diese subjektive Seite der Moderne auf den Punkt zu bringen:

»Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
und was die Menschheit wob und wog,
Funktion nur von Unendlichkeiten –
die Mythe log.

Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen,
kein Evoë, kein Requiem,
du möchtest dir ein Stichwort borgen –
allein bei wem?«

Das Gedicht, in dem sich diese Verse finden, ist schön, was da herrührt, daß es eben die Eigenschaften, deren Fehlen es an der Welt auszusetzen hat – geglückte Form und gedankliche Einheit –, selbst besitzt. Auch Niedergänge wollen auf den Begriff gebracht sein; auch die Misere verlangt nach dem vollkommenen Ausdruck.

Kann man die Welt »zerdenken«? Offenbar. Nicht einmal die Naturwissenschaften – und die weißgott am ehesten – erscheinen nach Einstein und Planck noch als festgefügter Bau. In den Wissenschaften des Geistes ist der Gegenstand durch unzählige Neuansätze im Laufe der sich über Strömung und Gegenströmung fortsetzenden Geistesgeschichte so sehr zerfasert, daß nicht nur der Begriff des Lehrgebäudes, sondern auch bereits der des Wissensfeldes obsolet geworden scheint. Dem gegenüber steht eine Philosophie, die ihrer vornehmsten Aufgabe, nämlich das Ensemble der Einzelwissenschaften zu ordnen und nach dem zu fragen, was dieser Mannigfaltigkeit allgemein sein mag, nicht mehr gewachsen ist. Die Zeit der Systeme ist vorbei. Die Folge dieses Zustandes ist die Auflösung des Traditionellen (»die Mythe log«) und zwar sowohl in strukturell-theoretischer (»was die Menschheit wob«) als auch in ethisch-normativer Hinsicht (»was die Menschheit […] wog«). Vorherrschend ist das subjektive Gefühl der Unendlichkeit, d.h. der Nichterkennbarkeit der Welt, was einen Begriff hervorbringt, der zwar weit davon entfernt ist, ein wirklicher Begriff der Unendlichkeit zu sein, aber der Übermacht der äußerlichen Welt gegen das Denken immerhin Rechnung trägt. Mit dem Verlust des geordneten, systematischen Weltbegriffs geht der Menschheit auch jegliche Vorstellung von Vergangenheit (»Woher«) und Zukunft (»wohin«) verloren: Utopie und Geschichte stürzen gemeinsam ins Nichts einer formlosen Gegenwart, in der das Alte nicht vollends verschwunden ist, die jedoch auch nicht im Begriff scheint, etwas Neues zu werden (»nicht Nacht, nicht Morgen«) und somit weder Tragik (»kein Requiem«) noch Optimismus (»kein Evoë«) als Haltungen zuläßt. Zurück bleibt der Wunsch nach einem Ansatz (»Stichwort«), der dem verlorenen Ich hilft, mit der unendlichen und nicht begriffenen Zeit fertig zu werden, aber Hilfe (»allein bei wem?«) kann das Ich in der Vergangenheit, deren Lösungen nicht mehr hinlangen, nicht finden.

Hier angelangt, hätten wir zwei Möglichkeiten. Wir könnten über Hegel sprechen, der – gerade zwei Jahre älter als Friedrich Schlegel –, noch während die Klassik im Sterben lag, unternahm, sie zu retten, indem er ein philosophisches System modellierte, dessen Hauptzweck darin bestand, das Unendliche mit den (naturgemäß) endlichen Mitteln des Denkens zu erfassen, das Unbestimmbare bestimmbar zu machen, das Bewegliche als ein Bewegliches im Begriff festzuhalten. Wir könnten entdecken, daß sich jeder Gedanke der Moderne bei Hegel nicht nur wiederfindet, sondern auch zu einer höheren Einheit aufgehoben ist, und wir müßten am Ende wohl den Hut ziehen vor einem System, das zugleich seine eigene Negationen mit in sich begriffen und den Gegensatz des Endlichen und Unendlichen in eine Form, also wiederum in ein Endliches, gefaßt hat. Die andere Möglichkeit wäre, ganz salopp über den Hegel hinweg in das Jahr 1960 zu springen und zu fragen, wie ein 32 Jahre alter Dramatiker namens Peter Hacks inmitten des modernen Zeitalters auf die Idee kommt, eine neue Epoche der Klassik auszurufen. Sicher, einiges spricht dafür, daß er seinen Hegel auch damals schon gelesen hatte, dennoch ist anzunehmen, daß Hacksens Entwurf einer Klassik noch andere Gründe hat als nur diesen.

 

Die klassische Haltung

Wenn Hacks betont, daß er den Begriff der Klassik »typologisch« benutze und damit »eine bestimmte Weise, Kunst zu machen« (BD II, 267), meint, gebraucht er ihn nicht literaturgeschichtlich, sondern ästhetisch. Zugleich weist er mit seinem Rekurs aufs Ästhetische auch über das Ästhetische hinaus, geht auf den Grund des Menschlichen und faßt die Klassik, ganz unabhängig von der Kunstherstellung, als eine bestimmte Haltung zur Welt auf.

Das erste Element der klassischen Haltung ist die Affirmation. »Das Recht, sich zu äußern«, sagt Hacks über die Weimarer Klassiker, »gründete sich auf die Pflicht, etwas Bejahendes zu äußern« (HW XV, 248). Aus der »Bejahung der menschlichen Möglichkeiten« folgt, daß Klassik »regierungsfreundlich« ist, denn »der gesellschaftlich mächtige Mensch steht in der Klassik für die Macht des Menschen« (BD II, 269) überhaupt. Eine affirmative Haltung setzt jedoch Verhältnisse voraus, die zu bejahen möglich ist (HW XIII, 29). Solche Zeiten ermöglichen die »Aufhebung der revolutionären Tradition in der klassischen« (HW XIII, 34). Letzteres zielt schon stark auf eine bestimmte Klassik ab: Für Hacks ermöglicht sich postrevolutionär eine Klassik im Sozialismus, die die Revolution zwar zur Voraussetzung hat, mit der verneinenden Haltung des Revolutionärs aber wenig anfangen kann. In einem Aufsatz über Fritz Cremer beschreibt der Dichter Ähnliches, indem er von der »Überwindung der Tugend« zugunsten des Glücks spricht: »Wie das Ziel einer Gesellschaft sich im Kampf gegen die Unmenschlichkeit nicht erschöpfen darf, sondern darin liegen muß, selbst eine menschliche Gesellschaft zu sein, ist das höchste und schwerste Ziel der Kunst, auf bejahende, ungebrochene, nicht an einem Feind sich stützende Art den Inhalt eines erstrebenswerten und hochherzigen Lebens herzuzeigen« (HW XIII, 157).

Die klassische Haltung ist somit konservativ. Klassik ist immer in der Defensive, aber ihr Konservatismus bezieht sich auf einen Zustand, der in seiner Ruhe Bewegung regelt. Das Verhältnis von Tradition und Neuerung ist ein vermitteltes: »Ein Klassiker [ist] einer, der die Bewegungsgesetze der Welt so gründlich begriffen hat, daß er alle Fahrwege des Fortschritts zu erkennen und auf den Schultern seiner Vorgänger und selbst seiner Gegner zu stehen vermag« (HW XIII, 76). Die klassische Haltung ist aber nicht bloß nicht-rückschrittlich, sie sucht nach einem Fortschritt im Bewahren und einem Bewahren im Fortschritt: »Wir, die wir dem Neuen alles zu danken haben und das Geschäft des Änderns mit Eifer und Glück betreiben, stoßen hier auf ein mächtiges Bedürfnis nach dem Alten und Beharrenden. Dieser Widerstand kann unser Denken weiser machen. Das Neue ist nutzlos, wenn es nicht angestrebt wird, um sich zu bewähren, das Ändern ein Unfug ohne vorgestellten Erfolg des Änderns. So wie das Alte seine Tauglichkeit beweist durch die Fähigkeit, in Neues umzuschlagen, muß das Neue, taugt es was, umschlagen können in Altes« (HW XIII, 110). Und diese Vermittlung schlägt sich bei Hacks auch ästhetisch nieder: durch den Rückgriff auf künstlerisch erprobte Mittel und die Bildung eines literarischen Kanons.

Wo das Spannungsverhältnis zwischen Alt und Neu die Bewegung einer Epoche bestimmt, entwickelt der Geist ein gesteigertes Interesse am Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit. Dort beginnt die Utopie auch große Köpfe zu beschäftigen. Die klassische Haltung unternimmt, die Utopie ins rechte Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen, d.h. nach den Möglichkeiten ihrer Realisierung zu fragen. Die »fast einzige Denkaufgabe der deutschen Klassik« war, so Hacks, »die Untersuchung des gesellschaftlichen Stellenwerts des Idealismus […]. Wohin […] führt das reine Wünschen?« (HW XIII, 213). Hierbei richteten sich die Klassiker gegen beide Abirrungen: »gegen alle Heiligung des Unvermeidlichen […] und gegen all jenes Wegsehen vom Unvermeidlichen« (HW XIII, 237), in gleicher Weise gegen Opportunismus und Voluntarismus also, deren stille Gemeinsamkeit in der Unterlassung liegt, den Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu vermitteln. Hacks findet in Anlehnung an Goethe eine eigentümliche Formel, um diese mittlere Haltung zwischen dem Gedachten und dem Gemachten zu beschreiben: die fröhliche Resignation (FR, 25f.).2 Der Widerspruch zwischen Haupt- und Beiwort dieser Formel ist ihre Pointe. Die Resignation bleibt selbst bei äußerstem Bemühen nicht aus, weil das Ideal nie vollständig realisiert werden kann (XIII, 235; FR, 26), aber in der Beschränkung liegt zugleich ein Gewinn, nämlich die Umsetzung einer Idee in die Wirklichkeit, auch wenn sie dabei eine Deformation erfahren muß: »Die Utopie beschränkt sich handelnd; die Resignation – ich rede ohne Unlust – ist schöpferisch« (HW XV, 126).

Aus dem bislang Gesagten läßt sich ein weiteres Element der klassischen Haltung ablesen: die Suche nach der Mitte. »Klassiker«, schreibt Hacks 1975, »sind nie einseitig« (HW XIII, 172). In seiner Polemik gegen die Romantik ist es insbesondere die Vorliebe für Grenzfälle und die Abneigung gegen die Mitte, das »Pendeln zwischen Außenseiterei und Außenseiterei«, was Hacksens Kritik findet: »Das Extrem ist […] das Auswuchern eines Gedankens oder einer Handlung, welches über These oder Gegenthese hinaus und ins nur Unfruchtbare führt, aus dem Extrem erwächst nichts, schon gar kein Umschlag« (HW XIII, 261). Die Mitte aber ist nicht das Ergebnis eines platten Kompromisses; sie ist eine hergestellte höhere Einheit (HW XV, 175–177). Die »Wahrheit liegt, wo sie gewöhnlich liegt, beim ausgeschlossenen Dritten« (HW XIII, 330). Über das Epistemologische hinaus erhält die Mitte bei Hacks auch eine politische Bedeutung; es ist dieser Begriff, der letztlich den Kern der Hacksschen Theorie vom Staat ausmacht, dessen allgemeine Funktion die Vermittlung von Partikularinteressen zu einer höheren Einheit ist.3 Der Dichter ist vorsichtig mit dem Begriff der Harmonie (HW XIII, 32 u. 92), den er als politisches Ideal der Klassik identifiziert (HW XIII, 32 u. 394), aber wenn Harmonie bedeutet, eine stabile Lage zwischen widerstreitenden Kräften aufrecht zu erhalten, dann ist, was Hacks als gesellschaftliche Grundlage seiner Klassik annimmt, dasselbe, was auch die Grundlage der vormaligen Klassiken war: das Ideal einer in sich stimmigen Ordnung, in dem jedes seinen Platz hat und keines folglich die Alleinherrschaft – die Idee der, wem dieser Begriff eher zusagt, Gerechtigkeit.

 

Klassik als ästhetische Erscheinung

Wenn schon von den Elementen der klassischen Haltung gilt, daß sie Hacksens Denken durchdringen, so kommt bei der Betrachtung der ästhetischen Fragen eine Vielzahl an Beziehungen hinzu, die sich speziell aus der Natur der Kunst ergeben. Das Ästhetische ist aufgrund seines Reichtums an Beziehungen zwischen Kunstwerk, Künstler und Publikum, zwischen dem einzelnen Kunstwerk und seiner Gattung und zwischen den verschiedenen Gattungen, mithin aufgrund der merkwürdig unberechenbaren Art, in der ästhetische Erfahrungen in Erfolg umschlagen, der nie ganz auflösbaren Differenz zwischen den ästhetischen Gesetzen und den ästhetischen Erscheinungen, zwischen künstlerischer Praxis und dem Wissen darüber und schließlich aufgrund der engen Verflochtenheit der Kunst mit dem Gesellschaftlichen, mit der Zeit, in der sie stattfindet und sich zu bewähren hat, kaum – und dieser langgezogene Satz mag selbst einen Eindruck davon geben – bestimmbar. Die Kunst ist bestens geeignet, nach gut Bennscher Art »zerdacht« zu werden, und es ist unmöglich, das Ästhetische zu bestimmen, ohne dabei nicht eine große Zahl von Sätzen, die ebenfalls stimmen, auszuschließen. Kunst ist ein Phänomen, das sich konstitutiv aus Widersprüchen zusammensetzt, und man erkennt einen guten Ästhetiker nicht daran, wie er die Widersprüche auflöst, sondern daran, ob er sie in seine Theorie aufzunehmen bereit ist. Zum Beispiel hat die Kunst bei Hacks drei Funktionen: Abbildung, Vermittlung von Haltung, Herstellen von Schönheit (HW XIII, 429). Sie hat Form und Inhalt als widersprüchliche Einheit (HW XIII, 224), sie verwirft und macht Vorschläge (HW XIII, 214), sie schlägt das Ideal vor, aber spiegelt auch Wirklichkeit wieder, sie unterhält, moralisiert und lehrt zugleich. Es ist nicht immer eindeutig, welchen dieser Funktionen Hacks den Vorrang gegenüber den anderen einräumt. Tatsächlich hat er sich häufig dazu geäußert und nicht immer konsistent. So ist ihm die Kunst mal in der Hauptsache ein Erkenntnisinstrument (HW XIV, 12), mal recht eigentlich von praktischer Natur, indem die Spielfunktion zu ihrer Hauptsache erklärt wird (HW XIII, 161). So ist die Form mal das eigentliche Politikum an der Kunst (HW XIII, 65) und mal die Magd des Inhalts (HW XIII, 45). Auch setzt Hacks den Erfolg als eigentliches Kriterium für Klassizität (HW XIII, 171), während er andernorts das Ästhetische über die künstlerische Wirkung stellt (HW XIV, 24), was seiner Auffassung widerspricht, daß alle Kunst zunächst und vor allem von der Gattung her verstanden und betrieben werden muß (HW XIV, 9), während zugleich gelten soll, daß Gattungs- und Realismusfrage zusammenfallen (HW XIV, 8). Das sind ein paar Divergenzen zu viel, um die Aussagen vorderhand in einen stimmigen Zusammenhang bringen zu können. (Wie es nach reiflichen Vermittlungsversuchen aussieht, steht auf einem anderen Blatt.) Wichtiger aber ist, daß Hacks alle diese Aussagen hatte, denn sie alle machen Seiten jener Totalität des Ästhetischen aus, der nahezukommen der Ästhetiker wohl unternehmen muß, die ganz zu erreichen ihm allerdings verwehrt bleiben wird. Das Ästhetische – und Hacks selbst wußte es (HW XIV, 8f.) – entzieht sich dem Versuch, es zu definieren, doch: »ein Schlegelianer, wer immer nur entweder alles oder nichts sagen will« (HW XIII, 347). Wer nicht alles sagt, sagt doch immerhin mehr als nichts, und ganz im Sinne dieser schöpferischen Resignation soll auch hier nicht der geringste Gram ob einer Unvollständigkeit bleiben.

Wenn es ein ästhetisches Merkmal gibt, das Hacks vor allen anderen als klassisch ansieht, dann ist das wohl die Vollkommenheit. »Erstes Kriterium der Kunst ist Perfektion« (HW XIII, 22), ihr Wert liegt »in der Sorge um das Vollkommene« (HW XIII, 223), und sie schlägt »den vollkommenen Menschen vor« (HW XIII, 214). Vollkommenheit also sowohl als »Ausdehnung des Inhalts zum idealen Entwurf« wie auch als »Erhöhung der Form zur Utopie des Gutgemachten« (HW XIII, 224). Daß die Form vollkommen sei, leuchtet ein, aber es stellt sich die Frage, ob die Forderung nach dem vollkommenen Inhalt dem von der Klassik verlangten Realismus (BD II, 273 u. 298f.; HW XIII, 115 u. 237) widerspricht. Doch eben darin liegts. Wiewohl die Kunst auch abbildet, hat Hacks sich oft und entschieden gegen eine ästhetische Theorie gerichtet, die die Kunst in der Hauptsache als Instrument der Widerspiegelung von Welt auffaßt, sie also auf ihre Erkenntnisfunktion reduziert: »Die Dichter können, was bleibt, stiften, weil sie über das, was ist, eigentlich nur nebenbei reden« (HW XIII, 223). Das Subjektive am Kunstwerk ist kein Makel, sondern Voraussetzung des Geschäfts. In der Dichtung, sagt Gorgias, ist der Betrüger der Gerechte und der sich betrügen läßt der Weise (B 23 DK). Entsprechend sagt auch Hacks, daß in der »Unfähigkeit zur Objektivität etwas wie eine Absicht steckt« (HW XIII, 428). Der Realismus unterscheidet sich vom Naturalismus darin, daß er die Wirklichkeit nicht bloß aufnimmt, sondern auf ihre Möglichkeiten hin befragt. Gehören die in den Zeitumständen angelegten Möglichkeiten nicht ebenso zur Wirklichkeit wie die Umstände selbst? So wird verständlich, warum Hacks, der den Idealismus der Weimarer Klassik als »genaueste Widerspiegelung der statthabenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Möglichkeiten« beschreibt, hinzufügen kann: »Realismus also« (HW XIII, 237).

In der Vollkommenheit steckt auch die Vollendung. Klassische Kunstwerke sind nicht offen, und wir sind wieder beim Begriff der Endlichkeit. Klassik, so wurde am Beginn behauptet und wird inzwischen deutlich geworden sein, ist das Bestreben, eine Sache abzuschließen. In jeder Vollendung steckt aber zugleich Verzicht, weil kein Ding herstellbar ist, das schlechthin alles leistet. Bestimmte Eigenschaften können nicht nebeneinander bestehen, wenn Form und Einheit statthaben sollen. Dramatische Strenge z.B. schließt epische Breite aus. Wenn es darum geht, ein bestimmtes Kunstziel zu erreichen, müssen alle Teile des Kunstwerks in eine Anordnung gebracht werden, die dem Kunstziel dient. Friedrich Schlegel hat hiergegen die Destruktion des Werkbegriffs vorgeschlagen und das Fragment zur eigentlichen Kunstform erklärt. Den Grund für diese Entscheidung kennen wir schon: Er liegt in der Unüberschaubarkeit der modernen Welt, der die klassischen Werke mit ihrer Abgeschlossenheit nicht mehr beikommen können. Peter Hacks hat sich bereits 1946 in einer Arbeit, die er offenbar im Zusammenhang mit seinem Schulabschluß verfertigte4, dezidiert zu diesem Thema geäußert. Der Abiturient versucht – bei deutlicher Sympathie für die Klassik – eine Stellung zwischen Klassik und Romantik zu beziehen. Er spricht vom Intellektualismus der Romantik, der die Grenzen des Verstands sprengt, und das bezieht sich auf nichts anderes als auf Schlegels Argumentation. Der 18jährige scheint sie alle gelesen zu haben: die Romantiker, die Klassiker, Heine – alle, bis auf den Hegel, der in der gesamten Arbeit nicht einmal erwähnt wird und dessen Figur des übergreifenden Allgemeinen, die gemacht ist, den Widerspruch zwischen Verstand und Unendlichkeit aufzuheben, auch der Sache nach nicht in der Argumentation auftritt. So bleibt der Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit in dualer Form gefaßt: Die Klassik hat den Vorteil der ästhetischen Vollendung, die Romantik den der philosophischen Überlegenheit. Ich überspringe einen Exkurs darüber, daß solche Bestimmungen selbst famose Zeugnisse eines nach Vollendung strebenden Geistes sind, daß das Verhältnis von Klassik und Romantik beim jungen Hacks demnach eine durchaus klassische Behandlung findet, und komme zurück auf das Jahr 1976, worin der reife Hacks seine Einwände gegen Schlegel erhebt. Dessen Argument, die Unendlichkeit der Welt könne nicht in eine Form gebracht werden, daher das Fragment – die Nicht-Form – die einzig angemessene Form sei, ist – ob immer es trifft – philosophisch, nicht ästhetisch. Soweit war der frühe Hacks auch schon. Der reife Hacks aber holt aus; zunächst ästhetisch: »Das Fragmentarische […] soll die Unendlichkeit des Auszusagenden andeuten. Das Vollendete, wende ich ein, deutet die Vollkommenheit des Auszusagenden an. Ein Könner unterscheidet sich vom Nichtkönner dadurch, daß er wohl weiß, in welchem Grade auch das fertigste Kunstwerk Bruchstück wird geblieben sein müssen. Es gibt keine Sorte von Autoren, die ihre Sachen für unübertrefflich erachten, ausgenommen die Verfasser von Fragmenten« (HW XIII, 259). Dann philosophisch: »Auch wir nehmen gern Ableitungen vom und zum Weltganzen vor. […] Wir geben, so rechtschaffen, wie wir können, Auskunft über die Vermittlungen zwischen den Einzelheiten und der Wesenheit, auch die widersprüchlichsten, und je unzweideutiger wir sagen, was wir begriffen haben, je deutlicher weisen wir auf das hin, wovon uns der Begriff noch fehlt« (ebd.). Der klassische Weg besteht in der Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Erkenntnishaltung, in dem Verfolgen eines bestmöglichen Scheiterns, das nur gelingen kann, wenn man sich bewußt stellt, als sei das Scheitern nicht unvermeidlich.

Schwieriger wird der Klassik-Begriff freilich in dem Maße, als die Klassik zum Kampfbegriff gegen die Romantik wird. Schon Stephan Hermlin hat Hacks in der Akademie-Diskussion um Schlegel vorgeworfen, mit seiner Polemik gegen die Romantik sein eigenes Credo der Mitte5 zu verletzen. Hacks hielt Hermlin entgegen, daß die Romantik »die Enden der Welt […] zur Mitte gemacht und die Mitte negiert«6 habe. Obgleich hierin eine gewisse Logik liegt – schließlich: Es gibt keine Mitte zwischen der Mitte und dem Extrem –, wird Hacks den Widerspruch in seiner Haltung nicht ganz los. Indem er Klassik und Romantik gegeneinander in den Kampf führt, stellt er den gemeinsamen Boden her, den die darüber liegende Mitte und die Ränder eigentlich nicht haben. Jeder Kampf macht die Kontrahenten in gewisser Weise gleich. Sie können noch so verschiedene Kampfmittel bevorzugen, noch so verschiedene Absichten und Niveaus haben, aber sie müssen sich doch wenigstens auf einen gemeinsamen Schauplatz einigen. So wird die Mitte in ihrem Kampf gegen die einzelnen Seiten selbst zu einer Seite.7 Nicht also Hacksens Weigerung, zwischen Romantik und Klassik zu vermitteln, ist das, worin er sich selbst widerspricht, sondern die Entscheidung, mit der Romantik in den Kampf zu treten, und die wird überhaupt nur dadurch verständlich, daß Peter Hacks um 1975 herum zu ahnen beginnt, daß seine Richtung in der Minderheit ist und aus der Literatur der DDR verdrängt zu werden droht.8 Klassik, sagte ich oben, ist immer in der Defensive, aber was macht sie, wenn es ihr an die Existenz geht?

Vor allem verliert sie stellenweise das, was sie stark gemacht hat, ihr tertium datur. Der Kampf, den sie führt, wirkt auf ihr Inneres zurück. Von der Mitte der siebziger Jahre an reichert sich der Hackssche Klassik-Begriff mit Elementen an, die eher von einem Dualismus Klassik-Romantik ausgehen als von einer Aufgehobenheit aller Seiten in einer Mitte, die man Klassik nennt. Galt z.B. noch 1969 das Publikum als eine Einheit, wurde der Begriff des Erfolgs ohne weiteres auf die Gattungsfrage zurückgeführt und von der Verständnisfrage getrennt9, so heißt es 1977: »Klassische Kunst schläfert die Dummen ein und regt die Klugen auf; romantische Kunst regt die Dummen auf und langweilt die Klugen« (HW XIII, 133). Das Publikum ist damit gespalten, und durch den vormals festen Bau der Hacksschen Ästhetik brach sich ein langer Riß.10 Ein gleiches gilt für Hacksens Versuch, das Verhältnis ästhetisch zu bestimmen: »Klassische Kunst«, schreibt Hacks 1977, untersuche »inwieweit die Zeit zur Kunst, [romantische], inwieweit die Kunst zur Zeit paßt« (ebd.). 1973 hatte Hacks denselben Widerspruch noch vermittelnd beschrieben: »Es ist aber einer der unzähligen Widersprüche der Kunst – vielleicht einer der wichtigsten – der zwischen den Gesetzestafeln, die vom Genre aufgestellt werden, und denen, die eine Zeit errichtet. Er ist für gewöhnlich unlösbar, was nicht sehr viel schadet. Schließlich macht das Wesen der Kunst, daß sie unentwegt Aufgaben löst, die sich nicht lösen lassen« (HW XIV, 11). Daß der Künstler seine Nachrichten aus der Fülle des Zeitgeschehens nach der Frage auswählt, wie verträglich diese mit dem Genre sind, in denen sie verhandelt werden sollen (HW XIV, 16), ist das eine. Daß er aber nicht irgendwelche Nachrichten auswählt, nur weil sie für die Gattung brauchbar sind, sondern solche, die wichtig und neu sind, hat Hacks im April 1974 noch selbst betont: »Was mich interessiert, ist, ob das Problem, das ich behandele, ein neuestes ist oder eins, das vor 20 Jahren auch schon hätte behandelt werden können. Wenn man mir das nachweist, dann habe ich etwas falsch gemacht« (FR, 47).

Eine bemerkenswerte Folge dieser Entwicklung ist allerdings, daß das Interesse für Gattungsfragen stieg. Auch der »Versuch über das Libretto« ist, obgleich bereits 1973 entstanden, im Zusammenhang der Romantik-Polemik zu sehen, denn er richtet sich gegen die Felsenstein-Schule und das Konzept des Gesamtkunstwerks von Richard Wagner. Es folgen Untersuchungen über die Lyrik (1974), das Märchendrama (1978), die Ballade (1984) und die Pornographie (1988). Und das Bemühen um die Gattung hat zugleich eine Nebenwirkung. Hacksens ohnehin von Beginn an vorhandene Affinität zur sogenannten U-Kunst11 weitet sich dahin, daß er diese gegen die Romantik mit ins Feld führt. So stellt er etwa gattungsbedingte Ähnlichkeiten zwischen der Französischen Klassik (Corneille, Racine) und dem Schwank (Franz von Schönthan) fest (HW XV, 275) oder schreibt mit Blick auf Gerdt von Bassewitz: »Gemessen am Anblick heutiger Autoren, die gar nichts wollen, ist es eine Herzenslust, einen Schriftsteller am Werk zu sehen, der Geld verdienen will. Ein Kontoauszug ist nicht das schlechteste Lehrbuch der Dramaturgie. Wer nur an seine Börse denkt, vergißt doch wenigstens eines nicht: das Publikum« (HW XIV, 136). Die »heutige[n] Autoren« und das »wenigstens« sind die entscheidenden Vokabeln. Peter Hacks hat die Spätphase der DDR nicht nur als einen gesellschaftlichen, sondern auch als einen ästhetischen Niedergang erlebt. Ihm blieb wohl bewußt, daß sich das Ästhetische und das Vergnügliche nie ganz decken (HW XIV, 24), doch U-Kunst, das ist Gattungstreue minus Ernst, was – für Hacks – weitaus mehr war als das, was die Romantik anzubieten hatte.

 

Wann entsteht Klassik

Wir können nun, durch Kenntnisse bereichert, die eingangs gestellte Frage aufnehmen: Was ermöglichte Peter Hacks, inmitten der Moderne eine Klassik nicht nur anzukündigen, sondern auch umzusetzen? Sicher, im Anfang war das Wort, und das Wort war ganz bei Hacks. Kein anderer war auf die Idee gekommen, und das erste Werk, das dem klassischen Anspruch in vollem Umfang genügte, war mit der »Margarete in Aix« erst sechs Jahre nach dem Postulat (HW XIII, 12–36) entstanden. Am Anfang also stand ein Versprechen, aber das Versprechen erklärt nicht, wieso es gehalten werden konnte. Wie also erklärt Hacks Hacks?

Ich überspringe die frühen Versuche, die unter ihren klugen Gedanken auch Irrtümer enthalten.12 Es ist das Jahr 1977, in dem Peter Hacks, an Goethes Aufsatz zum »Literarischen Sansculottismus« anknüpfend, die Frage Wann und wo entsteht ein klassischer Nationalautor? zu beantworten versucht. Hacks findet Goethes Antwort unzureichend, und ich will mich – so interessant es wäre – nicht bei der Frage aufhalten, wie stichhaltig Hacksens Goethe-Kritik ist, sondern komme gleich zur Antwort, die Hacks gibt. Er nennt drei Bedingungen für das Zustandekommen von Klassik: (1) Vermittlung eines neuen Lebensinhalts mit überlieferten Formen des Lebens; (2) eine klassische Lage der Gesellschaft; (3) Bewegung zum Besseren; ferner zwei förderliche Umstände: (4) ein mittlerer Reichtum und (5) ein mittlerer Grad der Entfremdung. Das ist eine Menge Holz, und ein Blick auf die Theoriebildung hilft hier weiter. Hacks stellt den Begriff der Klassik nicht selbst zur Diskussion, er wendet ihn an. Klassisch ist, was als klassisch gilt (BD II, 367f.), die Klassik demnach ein Evidenzbegriff. Man kann nicht begründen, daß ein Kunstwerk klassisch ist, sondern bestenfalls, warum es klassisch ist. Wovon Hacksens Untersuchung ausgeht, ist das gegebene Phänomen, und das Ziel der Untersuchung sind die Gründe seines Erscheinens.13 Es sind aber genauer die gesellschaftlichen Gründe, nach denen Hacks fragt. Begabung und Erziehung, als natürliche und individuell-biographische Voraussetzungen, sind natürlich gleichfalls Ursachen14, hier allerdings außer Betracht. Eine weitere Einschränkung betrifft die Gattungsperspektive. Hacks – der Ästhetik Hegels folgend – setzt den Höhepunkt der Dichtung mit dem Höhepunkt des Dramas gleich (HW XIII, 130). Den Roman, dessen Höhepunkt er zu Recht im 19. Jahrhunderts verortet (HW XIII, 228), nimmt er damit aus dem Zusammenhang heraus, was vielleicht daran liegt, daß Hacks die Prosa generell geringer gewichtet. Die Theorie der Klassik wird dadurch natürlich angreifbar, weil sie nicht die gesamte Literatur faßt, aber gleich, ob man Hacks hierin folgt, man wird einsehen, daß es sich nicht um eine theoretische Leerstelle handelt, sondern um eine im vollen Ernst gebildete Kunstauffassung (HW XIII, 115). Diese Probleme abgehakt, doch nicht erledigt, will ich endlich zum Kern kommen.

Das Allgemeine der fünf Voraussetzungen für Klassik ist, daß sie einen wohlgeordneten, aber nicht vollkommenen Zustand bedeuten. Der Ausgangspunkt der Theorie ist der durch den Vergleich weltgeschichtlicher Phasen mit den Kunstepochen beförderte Zweifel an der zunächst einleuchtenden Vorstellung, daß kulturelle Höhe und gesellschaftlicher Erfolg klassische Dichtung hervorbringen. Hacks vertritt dagegen, daß nicht die »reine Höhe eines wie immer gearteten Zustandes« der Gesellschaft, sondern »ausschließlich die Form seiner Bewegung« (HW XIII, 130) Klassik ermögliche. Solche Bewegungen nämlich, »in deren Richtung das Ziel der Kunst als angelegtes sich schon ein wenig finden« lasse, weswegen es weniger um die Frage der »äußeren Stattlichkeit einer Gesellschaft« als vielmehr um »ihr[e] vorläufig[e] Menschenähnlichkeit« (ebd.) gehe. Es ist die Gesittung, die darüber entscheidet, ob Klassik stattfinde, und nicht der Reichtum einer Gesellschaft. Der Gedanke läßt sich in die marxistische Terminologie übersetzen: nicht der Stand der Produktivkräfte, sondern die Beschaffenheit der Produktionsverhältnisse. Ich folge der Numerierung Hacksens.

(1) Ein »neu und rühriger Lebensinhalt« soll auf eine »vorhandene Lebensweise von Kultur« treffen, und dies aber »nicht so unmittelbar feindlich« (HW XIII, 131). Ein widersprüchliches Verhältnis des gesellschaftlichen Lebens demnach, und die Entgegensetzung ist zweifach, denn es begegnen einander Alt und Neu wie Inhalt und Form. Die Nachrichten der Kunst müssen neu sein, um einen Mitteilungswert zu besitzen (HW XIII, 16); ferner, wo Neues am Werk ist, ist noch genügend Raum für die Ziele der Kunst, die Ideale, denn Kunst lebt eher von Vorhaben als von Gegebenheiten (HW XIII, 131). Aber der neue Lebensinhalt darf nicht das alleinherrschende Prinzip sein. Er muß in »einer Art mißbilligender Anerkennung« überkommenen Lebensformen Raum lassen, um sie »im Wetteifer aufzuheben« (ebd.). »Kunst darf es nicht eilig haben«, und wo, wie in der Revolution, ein Zweck alle anderen Zwecke überlagert, sind keine günstigen Bedingungen für Kunst (HW XIV, 35). Wir erkennen hierin einige Elemente der klassischen Haltung wieder: das Streben nach der Mitte, das Verhältnis von Tradition zur Neuerung, und es mag, wer diesem Gedanken folgen will, hierin den Grund sehen, warum – trotz der neuen Lebensinhalte – nicht nur das England Oliver Cromwells keine große Zeit für die Kunst war, sondern auch z.B. das von der Kulturrevolution gezeichnete China nicht.

(2) Eine »klassische Lage der Gesellschaft« ist ein gesellschaftlicher Zustand, in dem keine politische Richtung oder Klasse allein zu herrschen imstande ist (HW XIII, 131; BD II, 268–273). Nur eine solche »vorerst unentscheidbare Zusammensetzung der Dinge« kann Gerechtigkeit – im Sinne einer Aufhebung partikularer Interessen – zum geistigen Überbau haben. (HW XIII, 131). Wenn das Drama Gerechtigkeit zwischen allen seinen Subjekten walten läßt, kann es vollkommen sein. Der hohe Standpunkt macht möglich, daß es seiner eigenen Natur folgt und nicht zur »Armut naiver Parteilichkeit« (HW XIII, 9) hinabsinkt. Allerdings betont Hacks, daß die Vermittlung der Richtungen nur dann ästhetisch fruchtbar ist, wenn der Konflikt als »Kollision zweier halber Wahrheiten erscheint« (BD II, 271).  Beides – die klassische Lage wie die Wichtigkeit des Konflikts – war in der DDR gegeben.15

(3) Die »Bewegung der klassischen Lage zum Besseren« (HW XIII, 131f.) impliziert, daß die Lage nicht vollendet, Klassik also nur in Übergangsgesellschaften möglich ist. Der Dichtung ist die Gegenwart ein Vergangenes, ihre eigentliche Gegenwart die Zukunft (HW XIII, 222). Kunst braucht »nicht die Zeiten der großen Zustände, sondern die Zeiten der großen Vorhaben« (HW XIII, 131), und die Bewegung zum Besseren ist der Ort, wo allein »Zuversicht und Hang zum Wirklichen« (HW XIII, 132) aufeinandertreffen können. Dieser Zusammenfall von Optimismus und Realismus ermöglicht sich, wo der revolutionäre Fortschritts-Begriff durch den evolutionären ersetzt wird (AEV, 24f.).

Die Bedingungen (4) und (5), die Hacks als förderliche Begleitumstände ausgibt, sind ein Reichtum, der »einerseits die Kunst aus der Not setzt, Elend zu vergeistigen, andererseits nicht bis zur Trägheit sättigt« (HW XIII, 132) und ein »mittlerer Grad an Entfremdung«, worunter Hacks einen einheitlichen, aber heterogenen Zustand der Gesellschaft versteht: eine weitgehende, aber nicht vollständige Vergesellschaftung der Produktionsmittel, eine vorhandene, aber »in ihren Grenzen gebändigte« Verwaltung, Möglichkeiten persönlicher Initiative einzelner Menschen sowie eine »permeable Zensur« (ebd.).16 Es fällt schwer, einen geschichtlichen Zustand zu finden, der damit besser beschrieben wäre als gerade die Zeit, in der Hacks seine besten Stücke geschrieben hat, die Zeit des Neuen Ökonomischen Systems in der DDR.

Es bleibt ein Punkt, der in Hacksens Versuch, klassische Nationalliteratur zu erklären, nicht eigens auftaucht, von dem ich allerdings meine, daß er wesentlich ist. Ich habe diesen Aufsatz mit der Frage eröffnet, wie ein Dichter inmitten der modernen Erkenntnis- und Sinnkrise zur Klassizität finden, wie er im Angesicht einer unüberschaubaren und kaum beeinflußbaren Wirklichkeit an Form und Erkennbarkeit der Welt wie an Handlungsspielraum für das Individuum glauben konnte. Die Antwort ist: Weil er einen Ort gefunden hatte, an dem die Moderne wieder aufgehoben war. Zu den unverrückbaren ästhetischen Grundeinsichten von Hacks gehört die Auffassung, daß die dramatische Kunst Anschaulichkeit hervorbringt und somit von anschaulichen Verhältnissen zehrt. Das dramatische Prinzip von Spiel und Gegenspiel ist nur möglich, wo Handlungen Wirkungen hervorrufen, Kollisionen können nur stattfinden, wo Widersacher einander begegnen. Das Drama bedarf daher einer »sinnlich faßbare[n] Einheit« (HW XIII, 9), in der die politischen Kämpfe stattfinden, und die Epochen, denen Hacks diese besondere Qualität zuschreibt, sind die Attische Polis und der europäische Absolutismus (ebd.) – Epochen also, die Klassiken hervorgebracht haben. Über die Leichtigkeit, mit der die Antike gesellschaftliche Widersprüche gestalten konnte, sagt Hacks: »Der alte Himmel hängt niedriger als der neue« (HW XV, 148). Das Drama der frühen Neuzeit muß schon stärkere Vermittlungsarbeit zwischen Gegenstand und Kunstzweck leisten (daher die Mehrfabligkeit, daher die breitere Personage). An Richard Wagner endlich spielt Hacks das Problem der nicht mehr schwindenden, sondern bereits verschwundenen Anschaulichkeit durch (HW XIV, 32–34). Die anonyme und verwickelte Bewegung des Kapitalismus mag für den Denker interessant sein, für den Künstler ist sie, gerade weil sie zu sehr zur Theorie provoziert, die Erklärung der Darstellung daher den Platz nimmt, außer Betracht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse des Sozialismus besitzen für Hacks einen entscheidenden Vorteil: Sie stellen eine verhältnismäßige Anschaulichkeit wieder her. Verhältnismäßig ist sie, weil auch die DDR ein weitgespanntes, nationales Gebilde war und auf Basis der Industriegesellschaft funktionierte. Aber die zentrale Wirtschaftsplanung, die straffe Organisiertheit der Gesellschaft und der Zusammenfall politischer Macht und politischer Repräsentation stellten eine »neue Anschaulichkeit der gesellschaftlichen Verkehrsformen« (HW XIV, 147) vor. »Offenkundig«, schreibt Peter Hacks 1973, »ist das Poetischste an der [sozialistischen] Gesellschaft die ihr zugrundeliegende Eingerichtetheit. […] Auch in Betreff der Anschaulichkeit ist der Sozialismus gar nicht übel beschaffen. Natürlich sind sehr verwaltete Länder nicht eben naturwüchsig, aber die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, sind doch durchsichtiger, als sie seit zweihundert Jahren waren. Die Macht ist nicht namenlos; wer vorgibt, sie auszuüben, übt sie gewöhnlich auch aus. Ja, die Rangleiter der Macht wird sogar gern durch ein gewisses Brauchtum ihres Auftretens, eine Art Hofsitte, sinnfällig hergezeigt, was doch verrät, daß keine geheimen und eigentlichen, nämlich wirtschaftlichen Gewalten hinter ihrer Außenseite sich verbergen. Die Herrschaft wie die Kämpfe der Klassen erscheinen ziemlich offen als solche; die Taten der Mächtigen sind in Wirklichkeit Taten und haben voraussehbare Folgen« (HW XIV, 36f.).

Auf die Art wird der Sozialismus zur Grundlage der klassischen Kunstkonzeption bei Peter Hacks – als eine Idee, an der der Dichter sich ästhetisch und weltanschaulich aufrichten konnte, mithin als Geflecht von Widersprüchen, das interessant genug ist, einer Behandlung durch das Drama würdig zu sein, und überschaubar genug, von der dramatischen Gattung gefaßt werden zu können.

 

Siglen

AEV : Peter Hacks: Am Ende verstehen sie es. Politische Schriften 1988 bis 2003. Nebst einem Briefwechsel mit Kurt Gossweiler 1996 bis 2003, hrsg. v. André Thiele u. Johannes Oehme, Berlin 2005.
BD : Berlinische Dramaturgie. Gesprächsprotokolle der von Peter Hacks geleiteten Akademiearbeitsgruppen, hrsg. v. Thomas Keck u. Jens Mehrle, 5 Bde., Berlin 2010.
DWF : Peter Hacks / Heinar Kipphardt: Du tust mir wirklich fehlen. Der Briefwechsel, hrsg. v. Uwe Naumann, Berlin 2004.
FR : Gottfried Fischborn / Peter Hacks: Fröhliche Resignation. Interview, Briefe, Aufsätze, Texte, Berlin 2007.
HW : Peter Hacks: Werke, 15 Bde., Berlin 2003.
NÄV : Peter Hacks / Hans Heinz Holz: Nun habe ich Ihnen doch zu einem Ärger verholfen. Briefe, Texte, Erinnerungen, hrsg. v. Arnold Schölzel, Berlin 2007.

  1. zuerst erschienen: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 34 (2010), S. 33–51. []
  2. Zum Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit, zum Begriff der fröhlichen Resignation und den entsprechenden Traditionsbeziehungen siehe meine Studie: Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks, Mainz 2010, S. 36–38, 98f., 170–172 (Anm. 15–17). Genaueres zur Tradition des Ideal-Begriffs bei Bernd Leistner: Zum Schiller-Bezug bei Peter Hacks, in: Selbsterfahrung als Welterfahrung, hrsg. von Horst Nalewski u. Klaus Schuhmann, Berlin/Weimar 1981, S. 98–117; Ndr. in: Ders., In Sachen Peter Hacks, Mainz 2011, S. 19–47. []
  3. hierzu: Leistung und Demokratie, a.a.O., S. 152–168. []
  4. DLA Marbach, Nachlaß Peter Hacks, Die deutsche Romantik und ihre Stellung zur Klassik (Abiturarbeit, unveröffentlicht). – Der Aufsatz wird voraussichtlich im Frühjahr 2013 im dritten Band einer circa 2.500 Druckseiten umfassenden Ausgabe des Frühwerks von Peter Hacks, die alle bis Sommer 1955 entstandenen Arbeiten enthalten soll, von Gunther Nickel ediert werden. []
  5. Die Mitte der klassischen Kunst äußert sich inhaltlich als Koinzidenz der Gegensätze und formal als angemessenes Verhältnis der verschiedenen Teile des Kunstwerks. Sie ist generell davon gekennzeichnet, Widersprüche zu vermitteln und eine höhere Form der Gerechtigkeit herzustellen (HW XIII, 131). Das zeigt sich auch in ihrem Verhältnis zur Aufklärung, mit der die Klassik die vernunftgemäße Haltung gemein hat, über die sie aber zugleich hinausgeht. Heidi Urbahn de Jauregui weist darauf hin, daß der klassische Ansatz davon ausgeht, daß Wahrheiten auch über das Gefühl verständlich gemacht werden können und daß die Aufklärung in diesem Punkt zurückbleibt (Dies.: Die schwierige Vereinbarkeit von Glauben und Kunst bei Bert Brecht und Peter Hacks, in: Kai Köhler (Hrsg.): Gute Leute sind überall gut. Zweite wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft, Berlin 2010, S. 10). Im Anschluß hieran verweise ich auf eine Stelle, die exemplarisch diesen Übergang zur vollständigen Humanität verdeutlicht. In seinem Cremer-Essay greift Hacks den alten Gegensatz zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen auf und verortet die klassische Position nicht auf der Seite des Apollinischen, sondern als Aufhebung dieses Gegensatzes: »Auch ich komme aus einer Schule, wo die Linie vor dem Ton geht, der Gedanke vor der Sinnlichkeit, die Moral vor dem Fressen. Auch ich habe lernen müssen zu lieben« (HW XIII, 157). []
  6. Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege (1. 6. 1976). 1. Quartal 1976, AdK, Berlin, Akademie der Künste-Ost-Archiv, Nr. 894, Blatt 45. – Auch Helmut Baierl spricht dieses Problem an (BD II, 282f.). []
  7. Auch die Mitte ist auf sich selbst bezogen ein Extrem, und die Gerechtigkeit kennt, da sie selbst bereits die Mitte ist, nur die Ungerechtigkeit als Gegenteil, die freilich viele Spielarten hat, da, wie Aristoteles sagt (EN 1106b33f.), es leichter ist, die Mitte zu verfehlen als sie zu treffen. Für die Mitte aber sind alle Extreme bis zu einem gewissen Grad gleich. So äußert Hacks etwa über einen seiner mittleren Helden: »Der Gegenspieler von Numa ist das niedrige Niveau, wo und in welcher Form es immer erscheint« (BD I, 119). []
  8. »Mein Ziel ist, die sozialistische Literatur zu erfinden und durchzusetzen. Den leichteren Teil der Sache, den ersten, habe ich erreicht« (HW XIII, 219). – Noch weitgehend ununtersucht ist der Einfluß, den Hacks auf den Kunstbetrieb der DDR hatte. Manfred Salow berichtete mir, daß Hacksens Idee einer Klassik im Sozialismus in den sechziger Jahren in der Tat viele Anhänger hatte. []
  9. »Die Idee, man könne eine Kunst machen, die bestimmten Leuten gefiele und bestimmten Leuten wieder nicht, ist ganz kindlich und wird durch kein Beispiel bestätigt« (DWF, 118). []
  10. Es mag dies der Grund sein, aus dem Hacks versucht, den Gedanken der romantischen Tradition mit dem Bild eines künstlich durch Mühlräder in Bewegung gesetzten Wasserlaufs zu beschreiben (HW XV, 103f.). Aber indem er direkt im Anschluß daran auf die anthropologischen Voraussetzungen des Romantischen zu sprechen kommt, konterkariert er wiederum seine eigene Vorstellung davon, daß es kein natürliches Bedürfnis nach Romantik gebe (HW XV, 104–107) und gesteht implizit zu, daß das Vergnügen am Unvollkommenen, Unendlichen usf. nicht nur künstlich hergestellt wird, sondern auf einen auch ohnedies fruchtbaren Boden fällt. []
  11. hierzu, exemplarisch am Fall der Musik, Marcus Dick: Innere Objektivität versus abstrakte Innerlichkeit. Peter Hacks und die Musik, in: Argos 7 (2010), S. 9–37, hier: 15–25. []
  12. Irrtümer nicht nur in dem Sinne, daß der Autor dieses Aufsatzes sie für falsch hält, sondern auch in dem, daß Peter Hacks selbst sie später revidiert oder nicht mehr vertreten hat. So etwa die Annahme einer Gleichzeitigkeit von Autor und Publikum als Voraussetzung für Klassik (HW XIII, 17); so die Behauptung, daß Klassizität keine Wertbezeichnung sei, sondern einfach einen Stücktypus meint (HW XIII, 30), so die Annahme, die Klassik werde nicht große Entwürfe, sondern große Abbildungen herstellen (HW XIII, 35), so der Glaube, der Sozialismus werde eine vollkommene Offenheit im Umgang mit der Kunst an den Tag legen können (ebd.). []
  13. In der Evidenz liegt allerdings naturgemäß etwas Subjektives. Die Eigenschaft klassischer Kunstwerke, keine Zugeständnisse an den Zeitgeist zu machen und vom Menschen überhaupt zu handeln, erklärt durchaus die Nachhaltigkeit ihrer Wirkung, doch wenn man den Erfolg zur Grundlage des Klassikbegriffs macht, und sei es der anhaltende Erfolg, dann wirft das mehr Fragen auf als es beantwortet. []
  14. zur Begabung etwa: HW XIII, 18 u. 458; zur Normalbiographie des Klassikers: HW XIII, 181 u. 251. []
  15. Leistung und Demokratie, a.a.O., besonders: S. 13–17 u. 152–168. []
  16. zur permeablen Zensur: BD III, 172f. []

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