Sep 052010
 

Daß man nach gefühlten 200 Jahren an den Bühnen des DT wieder einen Hacks gibt, ist ein Ereignis, dem man nicht anders als froh gegenüber stehen kann. Daß man den Hacks dort auf eine Weise gibt, die wenig mit dessen Vorstellungen von Theater zu tun hat und dafür viel mit denen unserer Zeit, ist etwas, das man erwarten konnte. Jürgen Kuttner und Tom Kühnel haben die Erwartungen übertroffen, indem sie sie enttäuscht haben. Man steht ein bißchen davor wie Hacksens Ascher, zufrieden und unzufrieden zugleich: „Ich habe es gewollt, und ich habe es bekommen, und ich habe es nicht so bekommen, wie ich es gewollt habe – das versteht sich ja für uns Menschen von selbst.“ Fröhlich resigniert eben, und ich scherze nicht. Wenn der Preis der Aneignung des Dichters Hacks der ist, daß die Zeit ihn auf ihre Weise aneignet, dann soll es sein. Freilich muß sie sich dann auch gefallen lassen, daß man ihre Ergebnisse mit denen anderer Zeiten vergleicht. Erfolg rechtfertigt vieles, Mißerfolg ist nicht zu rechtfertigen.

Der andere Hingucker ist Jürgen Kuttner. Eine Legende im Berliner Sprechfunk, an dessen Lippen wir jeden Dienstag hingen. Wir, das ist die Generation, die den Zusammenfall des gesellschaftlichen und persönlichen Chaos erlebte, Leute, deren Flegelzeit also in die frühen Neunziger fiel. Kuttner war schon damals zu alt für uns, und er ist auch heute noch älter als sein Publikum, obwohl sein Publikum mit ihm gealtert ist. Es ist weniger, was er macht, sondern wie er es macht. Ein lebendes Kunstwerk. Und nun nähert sich dieses Kunstwerk dem größten Künstler der zurückliegenden Epoche, nähert sich Peter Hacks. Das ist ein bißchen wie die Beatles und die Stones auf demselben Cover. Man weiß, das geht eigentlich nicht, aber der Gedanke ist viel zu verlockend, ihn nicht zu mögen.

Wer die „Sorgen“ inszeniert, muß sich dem Problem stellen, daß Stoffebene und Rezeption einander zu fremd sind, als daß mit Erfolg ohne weiteres gerechnet werden kann. Natürlich funktioniert dieses Stück als dramatisches Gebilde, aber die Sujets, das Milieu, die zugrunde liegenden Widersprüche der frühen DDR-Zeit sind dem heutigen Publikum allzu fremd, als daß sie unvermittelt auf dem Theater Erfolg haben könnten. Die Regie kann diese Vermittlung leisten, indem sie entweder aktualisiert oder aber – besser – das Stück mittels Reflexionen bricht. Die Regisseure haben sich für den letzten Weg entschieden. Die Fabel wurde angereichert mit bzw. unterbrochen von zahlreichen handlungsfremden Elementen, vornehmlich Hacks-Texten sowie Material zum „Sorgen“-Skandal von 1962/63. Das begann schon mit dem Prolog, in dem anstelle des Hacksschen Blankverses die Rede des Genossen Schröder und der vielbeachtete Essay von Frank Schirrmacher referiert wurden – eine gelungene Konfrontation damaliger und heutiger Rezeptionshaltung. Das setzte sich fort, als zu Beginn des zweiten Bildes im ersten Aufzug Valeska und Hede sich über das Berliner und Münchener Theaterpublikum unterhalten und dabei die Worte benutzen, die Peter Hacks 1974 benutzt hat. Und es beschließt sich in einem nicht ganz verständlichen Finale, in dem – dazu später – die Handlung direkt in die eines anderen Stücks umschlägt.

Manche Unterbrechungen – eine Biermann-Einlage z.B. – waren arg erzwungen, häufiger aber, wie ich meine, waren die Eingriffe glücklich, will sagen: Es ließ sich etwas bei ihnen denken. Natürlich wurde es zum Vergnügen, wenn man den Intellektuellen Jost Birkenbihl über Kunst reden hört und dabei Passagen aus Hacksens frühen Essay zum „Realitischen Theaterstück“ wiederkennt. Eine Aufgabe für den Heimweg war der Bezug zwischen den Produktionsproblemen im Stück mit Hacksens Ulbricht-Ballade „Der Fluch“, in der über die Produktionsprobleme der späten DDR gehandelt wird. Und wenn zu Beginn der Handlung der „Bergarbeiterball“ eingespielt wird, der Bestandteil einer früheren Fassung des Stücks ist, konnte man sich im Publikum anstubsen und zuzwinkern. – Gag erkannt? – Aber ja! Den ironischen Höhepunkt erreichte die Inszenierung, als Hede und Valeska über die Bühne flanierten und dabei Passagen aus Hacksens Aufsatz „Über das Revidieren von Klassikern“ sprachen: Der Inhalt des Gesagten – daß man Eingriffe in klassische Texte nur bei äußerster Not wagen darf – widersprach auf amüsante Weise der Tatsache, daß es gesagt wurde, denn natürlich war die Rezitation des Textes ein ganz unnötiger Eingriff in das Stück.

Die Brechungen der Handlung erzeugen den Eindruck der Montage, und Montage hat immer etwas Hemdsärmliges, da sie im Gegensatz zur streng konstruierten Handlung die Aufmerksamkeit des Publikums nicht fesselt. Die Zusammenhänge wirken fast immer künstlich hergestellt, weil sie in der Montage stets künstlich hergestellt sind. In der Tat war die Inszenierung eher theatralisch als dramatisch, was ja, sofern dies das Kunstziel war, vertretbar ist. Es ist doch keine schlechte Tradition, die sich zwischen Aristophanes, dem Faust und dem Epischen Theater entspannt und der im übrigen auch Hacks selbst, der zweifelsohne sehr dem Dramatischen zuneigte, einige Werke („Schuhu“, „Plunderweilern“ z.B.) beizugeben wußte. Vertretbar sind solche Griffe allemal, wenn, wie anfangs gesagt, eine stoffbedingte Schwierigkeit in der Rezeption besteht. Dieses Stück „Die Sorgen und die Macht“ kann nicht unverändert auf die Bühne genommen werden.

Zumal bemerkt sein will, daß in das Gerüst der Fabel nicht eingegriffen wurde. Nichts dramaturgisch Notweniges wurde gestrichen, der Fluß der Handlung wurde durch die Einlagen zwar unterbunden, aber die Handlung selbst wurde nicht beschädigt. Bis auf eine – und leider sehr wesentliche – Ausnahme. Die zweite Szene des fünften Aufzugs bringt die Entscheidung, und gerade diese Szene wird zwar ordentlich angespielt, jedoch nicht beendet. Die Niederlage Zidewangs kommt nicht zur Anschauung. Sein berühmter Hitler-Satz, mit dem die Szene endet und der große Wirkung macht, wird so nebenbei gesprochen und erscheint im Angesicht der auf der Bühne nach wie vor ungelösten Situation ganz sinnlos. An dieser Stelle kippt die Handlung in die eines anderen Stücks um. Auftritt Herr Wesselbrunner, ein westdeutscher Alteigentümer, bekannt aus dem Hacks-Stück „Fafner, die Bisam-Maus“, das gute 30 Jahre nach den „Sorgen“ geschrieben wurde und die gesellschaftliche Situation nach der Deutschen Einheit widerspiegelt. Ein Kunstgriff, den neun von zehn Zuschauern mit Sicherheit nicht verstanden haben, weil sie das späte Stück von Hacks, das zu einem seiner seltenstgelesenen gehört, nicht kennen. Das Publikum zerfiel damit in zwei Teile, den einen, der aufgrund seiner nicht mehr als gewöhnlichen Kenntnis des dramatischen Werks von Hacks ratlos vor der Veränderung stand, die Veränderung womöglich nicht einmal als solche erkannte, und in den anderen, der zwar verstand, was da passierte, der aber, weil ihm das Warum dieses Eingriffs gleichfalls unklar blieb, ebenso ratlos war.

Auf die Art geriet die Inszenierung zu einer Nudge-and-wink-Parade; unterhaltsam für den Kenner, für den Großteil Publikum gelegentlich unverständlich. Und auch wenn das Vergnügen an diesem Stück hörbar groß war, und wohl niemand ganz unbefriedigt den Saal verließ, wäre doch wünschenswert gewesen, das gewöhnliche Theaterpublikum mehr mitzunehmen. Die wenigsten Menschen gehen ja ins Theater, weil sie ein Stück gelesen haben, sondern besuchen ein Stück, um es nicht lesen zu müssen.

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Deutsches Theater Berlin: Die Sorgen und die Macht. Regie von Jürgen Kuttner und Tom Kühnel. Premiere vom 4. September 2010. Eine ausführliche Rezension erscheint im kommenden Argos.

  2 Responses to “Nudge-and-wink-Parade”

  1. Ob Sie mir freundlicherweise mitteilen, wo „Fafner, die Bisam-Maus“ veröffentlicht ist? Ist es in Buchform erhältlich? Bei VAT werde ich nicht fündig. Für die Antwort Dank vorab.

  2. Das Stück ist bislang zweimal gedruckt worden:

    Peter Hacks: Die späten Stücke, Band 1, Hamburg (Edition Nautilus) 1998
    Peter Hacks: Werke, Band 7, Berlin (Eulenspiegel) 2003

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