Okt 202020
 

»Viele meinen, der Künstler müsse sich immer mitteilen, wie es ihm ums Gemüt sei. Die anderen wieder leugnen das gar nicht, mögen indessen nicht einsehen, wieso dieser richtige Satz den Künstler hindere, gelegentlich einen Blick in die ersten Abschnitte von ›Was tun?‹ zu werfen. Gewiß ist die Vorstellung, man könne die Vorzüge des Sozialismus mit den paar noch übrigen Vorzügen des Imperialismus verbinden, angenehm. Aber sie ist, zur gegenwärtigen Zeit, eine ungebildete Vorstellung. Es ist der Wunsch nach einem schokoladenen Leninismus, und ein Lenin, der aus Schokolade wäre, würde schnell schmelzen. […]
Wolf Biermann ist nicht so gut, wie man annimmt. Ich erwähne das nicht zum erstenmal, und ich würde es hier nicht wiederholen, wenn es ihn nicht erklärte. Biermann übernahm sich. Und in je höherem Maße er sich übernahm, desto mehr bedurfte seine Kunst, neben dem Gedicht und der Gitarre, des Skandals.«
(Die Weltbühne 49/1976)

Wer wissen will, was den Namen Cancel Culture wirklich verdient, der schaue auf Hacks. 1976, als er seinen treffenden & bis heute maßgeblichen Text über Biermann schrieb, haben zwei Theaterbetriebe – der der DDR und der der BRD – seine Stücke nahezu flächendeckend blockiert. Nicht ein einzelner Veranstalter, ein einzelner Verlag, ein einzelner Sender (wie heute bei Sarrazin, Steimle, Jebsen, Eckhart, Maron und den anderen Langweilern), sondern mehr oder weniger alle.

Das Spektrum des Kulturbetriebs damals bestand aus drei großen Gruppen: den linientreuen Kommunisten (die Hacks respektierten, aber nicht mochten, ihn zuerst zensiert hatten, aber auch später nicht so recht was mit ihm anfangen konnten), den Hyperkommunisten (denen der Sozialismus nicht kommunistisch genug war) und den Antikommunisten (denen er nicht bürgerlich genug war).

In der Biermann-Affäre hatten die zweite und dritte Gruppe sich gegen die erste zusammengeschlossen, und Hacks, der für den Sozialismus und gegen diese zwei Gruppen Partei ergriff, konnte nicht damit rechnen, von der ersten Gruppe aufgenommen zu werden; man blieb sich bei aller Parteilichkeit fremd, und der Einfluss dieser Gruppe auf den Theaterbetrieb war ohnehin der geringste von den dreien.

Kurzum, Hacks bezog eine Position, die inhaltlich richtig war, aber genau deswegen zu einem lange währenden Boykott gegen den bis dahin erfolgreichsten lebenden Dramatiker im deutschsprachigen Raum führte. Gejammert hat er darüber übrigens nie. Er, der lange, bevor es den Begriff gab, tatsächlich erlebte, was Cancel Culture ist, nahm den Vorgang als das, was er war: einen politischen Kampf auf dem Feld der Kunst. Wer in diesen Kampf tritt, sollte – wenn er schon nicht recht hat – das wenigstens mit Haltung tun. Hacks hatte recht  und Haltung, die Dissidenten von heute haben weder das eine noch das andere, und dieses Gefälle ist nicht nur eins zwischen den Persönlichkeiten, sondern auch zwischen ihren Epochen.

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