Okt 092009
 

 Zum 100. Geburtstag des Dramatikers Alfred Matusche1

 

Jubiläen haben keine innere Bedeutung. Ob einer vor 100 Jahren geboren wurde oder vor 99 Jahren und 366 Tagen, es macht in Hinblick auf die Sache keinen Unterschied. Doch gibt es Punkte, an denen wir Anlaß haben anzuhalten, uns umzuwenden und die Frage zu stellen, was in der abgelaufenen Zeit passiert ist und was wir für den, dessen Geburtstag gefeiert wird, getan haben. Wenn etwa ein Dichter, an dessen Bedeutung kein Zweifel bestehen kann, 100 Jahre nach seinem Geburtstag immer noch für tot gehalten wird, dann muß man sich fragen, ob man wirklich alles richtig gemacht hat. Alfred Matusche ist heute vor 100 Jahren geboren worden; er war ein bedeutender Dichter, und er wird heute weitgehend für tot gehalten. Ein Zustand, den zu ändern auch eine Frage der Selbstachtung ist.

Ich darf also vorstellen: Matusche, Alfred; geboren am 8. Oktober 1909 in Leipzig. Der Vater fällt im 1. Weltkrieg, die Mutter versorgt mit Heimarbeit die Familie. Für Alfreds literarisches Interesse bringt sie kein Verständnis auf; eines verrückten Tages soll sie alle Bücher, die ihr Sohn mit dem selbstverdienten Geld gesammelt hatte, verbrannt haben, um zu verhindern, daß er weiterhin durch nächtliches Lesen die Stromrechnung belastet. 1923 beginnt Matusche eine Lehre als Schlosser, fällt jedoch in die Arbeitslosigkeit, nimmt ein technisches Studium auf, das er aus der Entscheidung heraus abbricht, sich ganz dem Dichten zu widmen. Ab 1925 erscheinen Lyrik und kurze Prosatexte in Zeitungen; Matusche arbeitet für den Rundfunk. Er beginnt, sich politisch zu verorten, bei den Linken natürlich. Gelegentlich ist er auf Wanderschaft, zu einem steten Leben kann er sich nicht entschließen. Mit der Machtübernahme der Nazis wird seine literarische Entwicklung unterbrochen. Im Zusammenhang einer Hausdurchsuchung, mit folgender Vernehmung durch die Gestapo, werden die literarischen Arbeiten Matusches vollständig vernichtet. Der Dichter ist auf den Anfang zurückgeworfen und zur Untätigkeit gezwungen. Dem Fronteinsatz im 2. Weltkrieg kann er sich, obgleich rekrutiert, entziehen. Nach 1945 arbeitet Matusche wieder für den Leipziger Rundfunk. Sein erstes Stück, »Welche, von den Frauen?«, entsteht 1952. Drei Jahre später wird mit »Die Dorfstraße« am Deutschen Theater Berlin zum ersten Mal ein Matusche-Stück aufgeführt. Weitere Uraufführungen folgen, allerdings zögerlich und oft erst Jahre nach der Entstehung. 1959 zieht Matusche in die Umgebung Berlins, er arbeitet als Dramaturg für das Maxim Gorki Theater Berlin und das Hans-Otto-Theater Potsdam. Hier entstehen die meisten seiner Stücke, darunter seine besten: »Der Regenwettermann« (1965), »Die Nacht der Linden« (1965/66) und »Kap der Unruhe« in einer ersten Fassung (1966). 1969 zieht Matusche nach Karl-Marx-Stadt, wo er als Dramaturg tätig wird. Kurz vor seinem Tod erhält er den Lessing-Preis der DDR und erlebt, schwerkrank und in Begleitung zweier Ärzte, die Uraufführung seines Stücks »Van Gogh«. Am 31. Juli 1973 stirbt der Dichter.

Wie bereits dieser Lebenslauf zeigt, lag eine Schwierigkeit, die sich von Beginn an mit der Erscheinung Matusches bot, in dem Umstand, daß dieser ein Wanderer nicht nur im örtlichen Sinne war, sondern auch einer zwischen den Zeiten. Der Dichter war kein Kind der DDR; er näherte sich ihr von außen, brachte sein Denken und Sentiment bereits voll ausgebildet in sie mit. Als junger Mensch der zwanziger Jahre ist er wesentlich durch diese Zeit geprägt. In seinen Dramen bleibt der Einfluß von Hauptmann und Barlach, von Naturalismus und Expressionismus durchgängig spürbar. Aus dieser Lage fiel er in die dreißiger Jahre, worin sein Dichten und somit seine dichterische Entwicklung unterbrochen wurde. Diese Zeit muß, was ohnehin an Rigorosität im Wesen Matusches vorhanden war, noch verstärkt haben. Schließlich fällt er in einem Alter, in dem andere beginnen, ihr Reifewerk zu bilden, in die gänzlich neuen Umstände der DDR hinein und muß bzw. darf dort eine Art zweites Debüt als Dichter geben. Die Chronologie seiner Stücke zeigt, wie sich der Dramatiker allmählich der DDR und ihren eigentümlichen Fragen nähert. Das Verhältnis von Dichter und Zeit, wohl immer schwierig, verliert hier bis zum Schluß seine Spannung nicht. Ohne Zweifel hatte Matusche es schwer mit seiner Zeit, doch eine Zeit, die es nicht schwer mit einem wie Matusche gehabt hätte, ist schlechterdings nicht denkbar. Zu stark war seine Eigenwilligkeit, sein Beharren auf Autonomie, sein vollkommener Unwille zu Kompromissen. In gewisser Hinsicht vermag diese Haltung zu beeindrucken. Alfred Matusche ist eine Persönlichkeit, wie sie auch zu seiner Zeit schon rar geworden war und der man im Angesicht der Unterwerfung, die dem Einzelnen heute vom Willen der Mehrheit abverlangt wird, mit der größten Hochachtung gedenken muß: ein ausschließlich von innen geleiteter Mensch, dessen Denken durch sich und nicht von seiner Umgebung bestimmt ist. Matusche war etwas wie der Wittgenstein der DDR; sehr eigen, sehr privat, aber offenkundig geleitet von einem unverstellbaren moralischen Kompaß, den er mit äußerster Konsequenz verfolgt, so konsequent, daß es der Außenwelt schon wieder als Asozialität erscheinen muß, obgleich es doch im Kern zutiefst sozial gedacht und gefühlt ist.

Keine Haltung, die nicht absurd würde, wo sie absolut gesetzt ist. Was im Widerschein des demokratischen Meinungszwangs wohltuend souverän und individuell wirkt, stößt in Bezug auf das gesellschaftliche Ganze leicht an seine Grenzen. Unfähigkeit zu Kompromissen, Sturheit und Subjektivität sind keine Tugenden, wenn man für sich in Anspruch nimmt dazuzugehören. Wo die Einsicht in Notwendigkeiten das subjektive Wollen auf das, was zu wollen realistisch ist, zurückwirft, endet der Sturm und Drang und beginnt die Klassik. Matusche blieb Zeit seines Lebens ein Stürmer und Dränger. Er war Kommunist, aber sein Kommunismus blieb ein jugendlicher.

Zwei Dinge indes war Matusche nicht: Er war kein Verfolgter der DDR-Regierung, und er war kein Dichter des inneren Exils. Für ersteres gibt es keine Anzeichen, und letzteres schließt sich schon deshalb aus, weil Matusche sein Werk stets als Beitrag zu seiner Gegenwart empfunden hat.2 Ich erwähne das eigens, weil es natürlich auch im Fall Matusche nicht an alten Freunden und gutgesinnten Publizisten gefehlt hat, die den Versuch unternahmen, ihren Dichter mit einem zeitgemäßen Upgrade zu versorgen. Man sollte immer mißtrauisch werden, wenn spezifizierte Rezeptionskonzepte ins Spiel gebracht werden. Ein Matusche für alle – das genügt vollkommen. Von der Rezeptionsfrage zu unterscheiden ist natürlich die Frage des Verständnisses. Auch der eigenwillige Matusche war ein Spiegel seiner Zeit; auch in seinem Werk wird, wenngleich verzögert, die Wirklichkeit der DDR in der Subjektivität des Poeten gebrochen. Matusche kann genossen werden von einem jeden, der an Schönheit, Geist und dem menschlichen Leben interessiert ist, doch wer ihn wirklich verstehen will, muß etwas von den Verhältnissen verstehen, in denen und für die er schrieb. Es ist nicht immer leicht, dem Wirrwarr aus subjektiven Berichten von Weggefährten und Verehrern, aus persönlichen Aufzeichnungen des Dichters selbst sowie aus merkwürdigen Studien politisch interessierter Publizisten (von denen jede Seite die ihren hat) etwas Handfestes zu entnehmen. Da blüht es linker Hand und rechter Hand, und wer dem entgehen will, sollte graden Weges gehn. Der gerade Weg aber ist, sich an das Wesentliche zu halten, und das ist bei einem Dichter allemal sein Werk.

Die Bauart der Matusche-Dramen ist vielfältig; das Tableau reicht vom weiträumigen Stationendrama bis zur Einheit von Ort, Handlung und Zeit, von eher analytischer bis zur konzentrierten Entscheidungsdramaturgie, von einer in die Breite getragenen Handlung bis zum gleichfalls epischen Verfahren personaler Erzählweise auf der Bühne. Die dramatische Objektivität ist in den Stücken auf seltsame Weise unvorhanden-vorhanden. Im Grunde sind alle Stücke Matusches Identifikationsstücke. In einem jedem von ihnen finden sich Figuren, die nicht nur die ganze Sympathie des Verfassers besitzen, sondern regelrechte Selbstbildnisse sind; so etwa Ulrich, Gleß, Fred, Kate, Max, Vincent und Kap (in »Prognose« trägt eine Figur gleich und ohne alle Umwege die Kennung »Ich«). Die Tugend ist hier Beharrlichkeit, Unerschütterlichkeit, moralische Konsequenz. Darin liegt die Größe der Helden Matusches. Dagegen aber fallen die übrigen Figuren ab. Die dramaturgische Notwendigkeit eines ausgeprägten Gegenspiels, das zu Beginn noch fast vollständig fehlt, scheint vom Autor mit der Zeit zwar begriffen worden zu sein, aber Umwelt und Gegenspieler der Helden sind nie, weder dramatisch noch moralisch, auf deren Höhe. Und doch ist es eine Eigenart von Matusches Stücken, durch das Gesamtspiel der Figuren dem einzelnen Spiel des Helden die Grenzen aufzuzeigen. Alles ist gewissermaßen aus der Perspektive des Helden geschrieben, aber der reibt sich an seiner Umwelt und erlangt auf die Weise Einsicht in die realen Möglichkeiten seines Handelns.

Mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwei Widerstands-Stücke machen das deutlich: »Der Regenwettermann« (1963-65) und »Das Lied meines Weges« (1967) handeln von Zivilcourage in finsteren Zeiten, von der Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen. Doch während der Soldat Gleß im »Regenwettermann« den Freitot wählt, weil er die Ermordung der jüdischen Bewohner eines polnischen Dorfes nicht aufhalten kann, durchbricht der junge Dichter Fred in »Das Lied meines Weges« seine Grenzen. Auch indem sie durchbrochen werden, können Grenzen markiert werden; um das zu tun, muß Fred ein anderer werden: vom Außenseiter zum gesellschaftlichen Wesen. Er sagt: »Ich muß das Leben als einen Vorgang haben, erschüttert sein, nicht belehrt.« Man kann Matusches Weise, Wirklichkeit zu begreifen, nicht treffender ausdrücken. Die Kommunistin Herta benennt Fred seine Grenzen: »Ohne Organisation ist jeder verloren.« Bald darauf wird sie tot sein, aus dem Fenster gestoßen vom SA-Mann Bruno. Der Außenseiter Fred aber wird die ortsansässigen Kommunisten retten, indem er die Mitglieder-Liste der Partei vor der SA in Sicherheit bringt.

In beiden Stücken fragt Matusche nach den Möglichkeiten von Außenseitern zu gemeinnützigem Handeln. Eine Frage, die in allen Epochen eine aktuelle ist und sich auch in denjenigen Stücken wiederfindet, worin DDR-Stoffe gestaltet sind. Des Dichters erstes Stück, »Welche, von den Frauen?« (1952/53), handelt vom Umgang mit dem Erbe der Nazizeit. Auch hier ist der Held, Ulrich Goetzke, ein Außenseiter, einer, der keineswegs zur Spitze der Exilanten gehörte, und der nun, zurückgekehrt, einen Rundfunksender aufbauen soll. Er ist wenig daran interessiert zu vergeben, allein, er muß es tun. Die gesellschaftliche Situation erfordert Kooperation, und man kann den Aufbau einmal nur mit den Menschen betreiben, die da sind. Matusche demonstriert die nur bedingte Tauglichkeit der Exilanten für die Gestaltung des neuen Staates. Diese Generation hatte sich im Kampf gegen den Faschismus abgearbeitet, verbraucht. Die Wer-wen-Zeit hatte alle gesellschaftlichen Fragen auf eine große reduziert. Das Denken der Menschen dieser Epoche war dadurch unempfindlich für Zwischentöne geworden, ungeschickt im Umgang mit Widersprüchen, die in der neuen Zeit nicht mehr auf den Tod auszufechten, sondern zu vermitteln, ins Gleichgewicht zu bringen waren. In genau diesem Sinne stößt Ulrich immer wieder an seine Grenzen. Die Lösung kann nur sein Rückzug aus dem Tagesgeschäft sein. Bemerkenswert indes das Arrangement, das er trifft. Er findet eine Regelung, die für alle Parteiungen akzeptabel ist. Der ehemalige Kollaborateur Dr. Lahr, dessen sämtliche, gute wie schlechte, Fähigkeiten »auf Grund des Gelderwerbs beruhen«, wird auf den Posten des kaufmännischen Direktors abgeschoben. Der Widerständler Eddie wird Intendant. Das sagt zweierlei: erstens, die inhaltliche Arbeit (das Rundfunkprogramm) soll von politisch zuverlässigen Leuten verrichtet werden; zweitens aber wird die neue Zeit auch für die zahllosen anderen Menschen Verwendung haben. Ein modus vivendi für alle: Exilanten, Widerständler, Kollaborateure und Vertreter des inneren Exils.

Dieses Thema wird in »Die Nacht der Linden« (1965/66) auf verschlüsselte Weise wieder aufgenommen. Die Handlung trägt sich zwischen zwei Brüdern und einer Frau zu. Der Gutsherrensohn Landmann hatte den Bastard Hanke bei den Nazis denunziert, worauf dieser für zwölf Jahre ins Zuchthaus kam. Am Tag der Befreiung von der Naziherrschaft entlassen, hatte Hanke es seinem Bruder heimgezahlt, der nun seinerseits Zuchthaus mußte. Beider Motive waren, so deutet das Stück an, weniger politisch als vielmehr persönlich. Beide liebten Kate, die Wirtin des örtlichen Gasthauses. Als Landmann, auf Betreiben des inzwischen zum Bürgermeister aufgestiegenen Hanke hin vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen wird, bricht der Kampf um Kate erneut aus. Sie endlich, vor die Wahl gestellt, entscheidet sich – für keinen von beiden. Entschließt man sich, die Fabel eine Parabel sein zu lassen, dann ist kaum zu übersehen, für wen die beiden Brüder stehen: der politisch unzuverlässige, aber wirtschaftlich tüchtige Landmann steht für das Bürgertum; der vormals arme, jetzt zum Bürgermeister aufgestiegene Hanke für die Arbeiterbewegung. Landmann wurde nicht aus Güte aus dem Zuchthaus entlassen, sondern deswegen, weil die LPG seiner Fähigkeiten als Landwirt bedarf. Hanke wiederum obliegt ganz die politische Führung des Ortes. Die Entstehungszeit des Stücks liegt um 1965, inmitten des Neue Ökonomischen Systems also. Kates Entscheidung stünde in dieser Lesart sodann für eine Regierungsweise, die es sich nicht in der Subjektivität einer bestimmten politischen Richtung bequem macht, sondern eine Politik betreibt, in der die Interessen aller Teile der sozialistischen Gesellschaft bedient werden. Zugleich aber ist ihre Entscheidung auch eine Mahnung. Die Vermischung politischer und persönlicher Interessen, die beiden Brüdern unterläuft, steht für die Anmaßung gesellschaftlicher Teile über das hinaus, was ihnen zusteht. Eine fast schon klassische, zentristische Position. Ungewöhnlich, eine solche Fabel gerade bei Matusche zu finden, doch wir erkennen hier auch den modus vivendi aus »Welche, von den Frauen?« wieder. Im selben Sinne lassen dann Kates abschließende Worte sich lesen: »Die Liebe ist ein wild weites Land. / Es blüht rechter Hand, es blüht linker Hand. / Willst Rosen du in dieser Wirrnis sehen, / mußt graden Weges du gehn.«

Matusches bestes Stück, »Kap der Unruhe« (1968), ist zugleich auch sein erfolgreichstes.3 Hier hat der Dichter Probleme der Gegenwart in einer Dichte verarbeitet wie in keinem seiner anderen Stücke. Auch dieses Stück stellt wieder die Frage nach dem Einfluß des Außenseiters auf die gesellschaftliche Bewegung. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Kranführer Kap, ein intellektueller und eigensinniger Arbeiter. Seine Baubrigade erhält die Möglichkeit, sich in einer jener Planstädte, an denen sie mitgebaut hat, niederzulassen, um dort als Reparaturbrigade tätig zu werden. Kap behagt das nicht, er will »weiter, nur weiter!« Das trennt ihn von den Kollegen, und doch ist er eine besondere Art Außenseiter, einer – anders als Gleß oder Fred – in der Mitte der Gesellschaft, ein »Schrittmacher«. Kap steht für den Lebenshauch der sozialistischen Gesellschaft, dafür, daß deren endlicher Zweck die Bewegung, die Unruhe war. In dem Maße, in dem Kap jedoch exemplarisch für die Gesellschaft ist, wird er zum Außenseiter. In einer idealen Welt bestünde der Sozialismus ausschließlich aus Kaps, in der wirklichen Welt ist das Typische ein Grenzfall. Treffend bemerkt Christoph Schroth: »Eine Gesellschaft ohne Kaps ist ebenso undenkbar wie eine Gesellschaft nur mit Kaps.«

»Kap der Unruhe« behandelt drei gesellschaftliche Widersprüche. Der erste ist der zwischen Unruhe und Ruhe. Revolutionärer Elan, Fixierung auf das je Neue, das ständige Weiterziehen auf der einen Seite, auf der anderen Saturiertheit, Wohlstand und Genuß. Dieser Widerspruch weist auf den Doppelcharakter des Sozialismus hin, der einerseits Transformationsperiode (zum Kommunismus) sein sollte, zum anderen aber selbst eine Gesellschaft mit einer bestimmten sozial-ökonomischen Form war, also auch ein gewisses Potential zur Ruhe besaß. Die Frage, ob Kaps Haltung verallgemeinerbar ist, scheint Matusche, der Vagabund, der Unruhige, emphatisch zu bejahen. Er ist auch hier wieder ganz auf der Seite seines Helden, und doch markiert das Stück objektiv, durch sein Spiel, die Grenzen des Helden. Kap, zeigt sich, ist einer, der – in der Arbeit wie in der Liebe – sich nur für das Schaffen, nicht für das Erhalten begeistern, der viel beginnt und nichts zu Ende bringen kann. Der zweite Widerspruch besteht zwischen zwei Formen des Fortschritts: des wissenschaftlich-technischen, der sich im Wachstum von Produktivkräften, Konsumtion und Wohlstand zeigt, und des Fortschritt in der Gesittung, der sich in den Produktions- und Staatsverhältnissen ausdrückt, mithin im gesellschaftlichen Verkehr der Menschen untereinander. Kap fragt, ob die neue Stadt auch schon von neuen Menschen bewohnt wird und urteilt, man fülle »alten Wein in neue Schläuche«. Nichts anderes ist gemeint, wenn er der Kellnerseele Bobrinski, die »nach oben« steigen will, sein »nach vorn« entgegenhält. Der dritte Widerspruch ist ein ganz konkreter. In der Zuspitzung der dramatischen Kollision kommt auch die Lebensqualität der neuen Stadt zur Sprache. Kap formuliert den Widerspruch von Zweckmäßigkeit und Schönheit in der zeitgenössischen Architektur. »Die Zweckmäßigkeit allein«, sagt er, »schafft es nicht«, und er steigert sich in den Ruf nach einem Bauwerk gleich einem Dom: »Rag aus Stein und Beton heraus!« Worauf das hinauswill, hat der Autor in einem Gespräch mit dem Regisseur Christoph Schroth ausgeführt: »So ein Dom ist doch völlig unzweckmäßig. Aber die Menschen wollten hoch hinaus. Das ist eine schöne und kühne Sache der Menschheit. Was wir jetzt machen, ist zappenduster.« Der Dom erinnert die Menschen daran, was es heißt, menschlich zu sein, und daß eben das Menschsein einmal etwas Großes und Bedeutendes sein sollte. Vielleicht ist das der eine große Zweck, der die Religion auch in einem Zeitalter, in dem der Glaube ausgestorben sein sollte, nicht überflüssig macht. Und vielleicht liegt hierin auch der Grund für Matusches Interesse an der Religion. »Und daß etwas aufragt, das nicht allein der Zweckmäßigkeit dient und zur Mittelmäßigkeit verführt«, heißt es im Stück.

Man hat sich gelegentlich gefragt, warum ausgerechnet »Kap der Unruhe« das auch nach 1990 erfolgreichste Stück war. Man irrt kaum, wenn man annimmt, daß die Formulierung des Widerspruchs zwischen Schönheit und Zweckmäßigkeit, an dessen Nichtvermittlung auch die Architektur unserer Tage krankt, einen Anteil daran hat, daß das Stück auch heute noch als aktuell empfunden wird. Hinzu kommt der Umstand, daß das Stück vermöge seiner dramatischen Qualität (eine Eigenschaft, die es dem oft gelobten, aber selten erfolgreichen »Van Gogh« voraushat) nicht nur ein damaliger Beitrag zur damaligen Gegenwart war, sondern auch geeignet ist, als Metapher für heutige Zeitprobleme zu gelten. Das damals Gegenwärtige im Stoff ist uns heute ein Historisches; aus einem sehr guten Gegenwartsstück kann durchaus eine gute Historie werden. Woran der Autor scheitern könnte, das wäre, daß seine Behandlungsweise an seiner Gegenwart kleben bleibt. Diese Hürde hat Matusche mit »Kap der Unruhe« eindrucksvoll genommen.

Wir sollten also durchaus darauf bestehen: Alfred Matusche war nicht nur ein Autor, der ganz in seiner Gegenwart lebte und dessen Stücke voller sensibler Reflexionen auf ebendiese Gegenwart sind, sondern er war auch ein Dichter, dessen Wirksamkeit mit seiner Gegenwart nicht verlorengegangen ist, der uns auch heute noch etwas zu sagen hat. Einer Matusche-Renaissance auf dem Theater steht im Grunde nur eines im Wege: ein weiterhin unwilliger Theaterbetrieb; am Publikum wird es nicht liegen. 100 Jahre Matusche sind ein guter Anlaß, eigene Versäumnisse zu erkennen und einen großen Dichter wieder in den Stand der Gespieltheit zu befördern. Einen Anfang hierzu machen eine Festschrift und eine erste Werkausgabe seiner Dramen.4 Über diese Absicht hinaus steckt in den beiden Editionen die zarte Hoffnung, durch Verbesserung der Material- und Diskussionsbasis den allgemeinen Erkenntnisstand zu Dichter und Werk ein wenig zu heben. Es muß vor allem darum gehen, Matusche erst einmal kennenzulernen, das heißt: sein Werk zu verstehen. Dieses ist zu vielseitig und zu gut, um es den Einäugigen zu überlassen. Halten wir es, wie Goethe es mit Schillern hielt, denn er ist unser.

  1. erschienen in: junge Welt v. 8. Oktober 2009. []
  2. Aufzeichnungen Armin Stolpers zufolge störte sich Matusche an der Sterilität der bundesdeutschen Verhältnisse und sagt über die DDR: »Insofern sehe ich für die Kunst hier viel größere Möglichkeiten.« []
  3. Von den insgesamt 41 Inszenierungen aller 10 Matusche-Dramen fallen allein 13 auf »Kap der Unruhe«. []
  4. Alfred Matusche: Dramen, hrsg. v. G. Fischborn, Mainz (VAT) 2009; Das Lied seines Weges. Festschrift für den Dichter Alfred Matusche (1909–1973), hrsg. v. G. Fischborn, Mainz (VAT) 2009. []

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