Jun 152012
 

Dulden muß der Mensch, sagt Shakespeare, aber er hätte ruhig hinzufügen können, daß für gewöhnlich gerade diejenigen, die am meisten der Duldung bedürfen, selbst am wenigsten duldsam sind. Gelassenheit ermöglicht sich leichter von oben, und ganz folgerichtig existiert zwar das Wort Giftzwerg, nicht aber das Wort Giftriese. Der Feuilletonist & Discjockey Reinhard Jellen z.B. ist auch so einer, um dessentwillen die moderne Logik nicht hätte erfunden werden müssen, da bei ihm der Existenzquantor und das Prädikat Giften schlechthin in eins fallen. Nur, wenn er giftet, lebt er, und solange er lebt, wird er giften. Das Resultat fühlt sich denn auch danach an. Die eitle Esoterik, mit der Jellen als Rezensent bzw. Verfasser seiner Wochenendkolumne in der jungen Welt auftritt, seine penetrant belehrende Unduldsamkeit gegen alles, was er nicht gleich versteht, sein intellektualistisches Gegockel, das den unsystematischen Autodidakten verrät, all das ist nicht eben dazu gemacht, Gleichmut zu stiften – doch bleibt in derlei verwickelt zu werden immer etwas peinlich, und man entzieht sich dem lieber, denn anders, als man in Zwergenkreisen glaubt, gilt Zwergenwerfen unter Riesen als äußerst unschicklich.

Anderseits: Wer sagt denn, daß Riesen stets Schickliches tun?

Vorgestern ist mir ein anonymer Text über den Weg gelaufen, eine Rezension des eben erschienenen Briefwechsels zwischen André Thiele und Peter Hacks, von der es hieß, daß sie in der Wochenendausgabe der jungen Welt erscheinen soll. Jetzt aber, nachdem Thiele witzig genug war, die Rezension vor ihrer Veröffentlichung zu veröffentlichen – und ihr damit die einzige Eigenschaft nahm, die für sie sprach: ein Paukenschlag zu sein nämlich – jetzt also wird der Text, wie inzwischen zu erfahren ist, nicht erscheinen. Der Urheber des Textes darf uns aber noch ein wenig beschäftigen; es handelt sich erkennbar um den erwähnten Reinhard Jellen, und in dem kleinen Machwerk kommt zusammen, was den Kritiker Jellen ausmacht. Die Rezension ist unzweifelhaft die Krönung seiner bisherigen Laufbahn. Er sollte jetzt aufhören zu schreiben – besser wird er nicht mehr werden. Tatsächlich findet sich darin nicht ein Gedanke, was vermutlich beabsichtigt ist und bezeugen soll, daß auch in dem rezensierten Briefwechsel kein Gedanke enthalten sei. Ich finde den Schluß nicht sehr schlüssig, aber doch originell genug, um ihn als die Boshaftigkeit, die er ist, würdigen zu können.

Woher ich denn weiß, daß der Text von Jellen ist? Nun, das Profiling kommt hier ganz ohne weiträumige Rasterfahndung aus. Wir haben eine kräftige Portion bis heute unverarbeiteten Thiele-Hasses, die Neigung, Rezensionen ohne Inhalt zu veröffentlichen, die Wochenendausgabe der jungen Welt als bevorzugten Ort der Publikation und einen wiederkennbar schlechten Schreibstil, dessen penetrantestes Merkmal die kontinuierliche Verwendung des pluralis majestatis ist, den der Autor offenbar für eine Art pluralis modestiae hält, nicht wissend, daß diese Form nur als Gemeinsamkeit stiftender Ausdruck zwischen Autor und Leser und nicht bei persönlichen Berichten verwendet werden kann. Wie Lothar Matthäus von sich stets in der Dritten Person und bei voller Nennung seines Namens redet – ein Lothar Matthäus tut dies, ein Lothar Matthäus tut das –, spricht Reinhard Jellen, geht es um ihn persönlich, von sich in der Ersten Person Plural: »Wir halten es dabei für nicht besonders tadelnswert, daß der Kommunikationsaustausch von Seiten Thieles …«; »Für uns zählen Georg Wilhelm Friedrich Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ zu den eher unangenehmen …«; »Heute morgen sind wir recht spät aus dem Bett gekommen und haben verabsäumt, uns Stullen zu schmieren …« etc. etc.

Die Pose, in der Jellen bevorzugt auftritt, ist die des Verteidigers großer Männer. Dieser Attitüde tut es keinen Abbruch, daß mit den großen Männern eigentlich immer nur der kleine Reinhard gemeint ist. Denn dieselbe Insuffizienz, die Jellen daran hindert, die Texte derjenigen, die er kritisiert, zu verstehen, setzt ihn außerstande, selbst das, was er zu verteidigen vorgibt, zu begreifen, so daß es sich bei seinen Kritiken in aller Regel um seltsame Aggregate irgendwie oder halbwegs stimmiger Elemente mit ganz eigenen Auffassungen handelt, die dann als weltbekannt und jedermann einsehbar hingestellt werden. Im September 2008 etwa gerierte Jellen sich anläßlich eines gar nicht so üblen Essays von André Thiele als Hacks-Pfaffe, der den großen Dichter gegen Verfälschung in Schutz nehmen muß, und er ließ sich neben anderen Peinlichkeiten z.B. zu der Bemerkung hinreißen, er werde einen Besen fressen, »wenn Immanuel Kant für Hacks ein prägender Philosoph war.« Der Besen steht, soviel man hört, nach wie vor ungefressen in Jellens Münchner Buchte, obwohl man schon damals wissen konnte, was inzwischen auch durch die Forschung abgesichert ist: daß Immanuel Kant, noch vor Hegel, Hacksens erster und wichtigster Zugriff auf die Theorie der Deutschen Klassik war. Man kann natürlich die Frage stellen, warum ein Autor, der in seinem Leben nicht einen substantiellen Gedanken zu Peter Hacks hervorgebracht hat, sich berufen fühlt, den geistigen Sach- und Nachlaßverwalter des Dichters zu geben. Und diese Frage stellen bedeutet schon, sie zu beantworten. Es ist ein Muster, das sich wiederholt.

Zwei Jahre später ging der Gesinnungswächter gegen mich vor. Anläßlich einer kurzen Passage in einer Studie zu Hegels Vorrede der Rechtsphilosophie unternahm Jellen an sechs aufeinander folgenden Wochenenden, den Weltmarximus gegen mich zu verteidigen, denn ich hatte gewagt, Marxens Hegel-Rezeption im Vorbeigehen einer konzisen Kritik zu unterziehen. Das tut man natürlich nicht, denn erstens hat Marx sich nie geirrt, und zweitens, wenn etwa doch, darf nur Reinhard Jellen darüber schreiben, daß und wie. Zwischen all dem Unsinn, der da nun zu lesen stand, vertrat Jellen im vollen Ernst die These, Marxens Interpretation der Hegelschen Philosophie beruhe nicht auf den zwei Hauptthesen, die jeder, der will, an unzähligen Stellen in den Schriften von Marx oder auch Engels nachlesen kann, daß nämlich Hegel die Wirklichkeit aus dem Gedanken deduziere und daß Hegels Staatstheorie in Bezug auf die bestehenden Verhältnisse einen apologetischen Charakter besitze.

Es ist ein seltsames Phänomen, daß gerade Inquisitoren oft nicht bibelfest sind. Daß sie die Ketzer nicht verstehen, mag noch angehen, aber es bleibt häufig die traurige Aufgabe des Ketzers, anläßlich seiner dräuenden Hinrichtung nicht nur seine eigene Position zu verteidigen, sondern zugleich dem Apologeten das erklären zu müssen, was der da gegen ihn, den Ketzer, zu verteidigen glaubt. Doch die Pose des Verfolgers ist schon als solche abgeschmackt. Niemand mag Menschen, die immerfort damit beschäftigt sind, anderen vorzuhalten, daß sie das Vermächtnis irgendwelcher Autoritäten verraten. Niemand mag Kinder, die petzen. Oft, vermute ich, wurde Jellen nicht auf Kindergeburtstage eingeladen. Oder ist es nicht eher andersherum? Wem die Schulkameraden die Schnürsenkel zusammenbinden, wem sie auf dem Schulhof die Hornbrille von der Nase ziehen und wer einzig dann beliebt ist, wenn das nächste Deutschdiktat ansteht, der wird zum schmähsüchtigen Feuilletonisten, voll Eifersucht auf jeden Zeitgenossen blickend, dem einmal irgend etwas besser gelungen als ihm. Der liebt es nicht, wenn Leute, die von ihm geliebt werden, andere lieben, die er nicht liebt, und ganz besonders nicht, wenn Leute, die er liebt, von solchen geliebt werden, die er nicht liebt.

Damit hätten wir die beiden Leitmotive des Jellenschen Werks beisammen: die Unfähigkeit, das, was dasteht, und das, was (seiner Meinung nach) dastehen sollte, auseinanderzuhalten, und die Eifersucht auf alles Gekonnte.

Was mich auf einen dritten Fall bringt, der sich noch früher ereignet hat und den es ebenfalls nicht gäbe, wäre da nicht Reinhard Jellen mit seiner Neigung, sich zu unpassenden Gelegenheiten auf unpassende Weise zu äußern. Opfer des Serientäters waren diesmal die Herren Gerhard Stadlmaier und Dietmar Dath. Den Anlaß gab einmal mehr die Beschmutzung eines Jellenschen Hausgottes: Als Peter Hacks im Spätsommer 2003 gestorben war, erschien in der FAZ ein gleichfalls nicht übler Nachruf mit dem Titel »Der Marxist von Sanssouci«. Der Autor war Gerhard Stadlmaier, und Reinhard Jellen – der Unduldsame – schrieb einen Leserbrief an die FAZ, in dem sich folgende Passage findet: »… auch wenn es in Ihrem Nachruf auf Peter Hacks von Entstellungen und Fehlurteilen wimmelt, deren kognitiver Standard gar nicht so leicht zu unterbieten ist – auf alle Fälle bedanke ich mich, daß er nicht von Dietmar Dath war.«

Wir haben uns damals sehr amüsiert über diese peinlich-wichtigtuerische Wortmeldung, und ich schrieb im Flax und in Anlehnung an eine alte Parodie auf Schillers Glocke vier Zeilen, von denen ich zu meiner Entschuldigung anzugeben weiß, daß sie – anders als im Fall Jellens & seiner Glossen – nicht den Höhepunkt dessen darstellen, was ich zu leisten imstande bin: »Denn was der Heiner für den Hacks ist / Und der Thurn ist für den Taxis / Und was das Contra ist beim Skat, / Das ist der Jellen für den Dath«.

Was ich damals noch nicht wußte, war, daß auch Dietmar Dath in seinem zombiotisch-pornographischen Weltgeist-Epos »Für immer in Honig« den Vorgang auf ebenso spöttische wie irgendwie auch Mitleid gewährende Weise verarbeitet hat. Und weil es bemerkenswert ist, daß Dath nach der Lektüre eines einzigen Jellen-Satzes bereits das gesamte Dilemma erfaßt hat, schließe ich diesen Text mit der betreffenden Passage aus »Für immer in Honig ab«, die der alliterierende Dietmar Dath seinem gleichfalls alliterierenden Abbild Robert Rolf dort in den Mund legt:

»Als ich fast schon zwei Jahre bei der Zeitung war, die sich das im Weltmaßstab dann doch nicht ganz allmächtig einheimische Großkapital so lange gehalten hat, wie es eine Zeitung brauchte, die mehr als nur die brutalsten bürgerlichen Grundspielregeln – Eigentum und Antikommunismus – zu verteidigen versteht, habe ich die Werkausgabe eines kommunistischen Schriftstellers besprochen. Ich lobte den kommunistischen Schriftsteller dafür, daß er seiner kommunistischen Sache diente, indem er zeigte, daß kommunistische Schriftsteller im Zeitalter einer von ihren eigenen sinnlosen Siegen demoralisierten und von den Folgen dieser Siege angefressenen Bourgeoisie etwas können, das bourgeoise Schriftsteller nicht mehr können: Klassik erstreben und alle Kriterien für Klassik, die nicht beim Publikum oder der Überlieferung liegen – diese beiden sind zufällig und der Befassung unwürdig –, auch erfüllen. Daß ich nicht dazuschrieb, daß ich die kommunistischen Ansichten des Schriftstellers teile, war nicht feige, sondern sinnvoll. Wie hätte das denn ausgesehen, wie kokett und dumm, außerdem anmaßend. Vorausgesetzt, es wäre da stehengeblieben. Auch keine Kleinigkeit.

Eine Weile später starb der kommunistische Schriftsteller. Ich war an dem Tag, als das geschah, fern der Redaktion und ihrer kleinen Außenstellen, mein Handy war nicht eingeschaltet. Spät abends erst hörte ich meine Mailbox ab und erfuhr, daß der kommunistische Schriftsteller tot war. Ich hatte die Gelegenheit verpaßt, ihm einen Nachruf zu schreiben, und war froh drum, denn daß er tot war, regte nicht zur Überlegungen an, wie sie die Werkausgabe ausgelöst hatten. Tod regt eh selten an, und dieser war nur schlimm und machte alles dunkler.

Am nächsten Tag erschien in der angeschossenen bourgeoisen Zeitung, der ich als ihr Liebling dienen durfte, ein sehr netter Nachruf eines Nichtkommunisten, der mein Kollege war und fast keine antikommunistischen Ergebenheitswendungen in seine vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen völlig ordentliche und gerechte Würdigung des Toten einbaute. Bald darauf hielt ich mich wieder in der Redaktion auf, und dort zeigte mir der Kollege einen Leserbrief. Der Leserbrief stammte von einem Menschen, der in München lebt und dort den Marxismus erforscht, anstatt die Welt mit dem Marxismus, wie Kommunisten sollten. Der Brief bestand aus wenigen Zeilen Text und tobte da so rum, was das für ein Scheißnachruf gewesen sei, aber ja wenigstens nicht von mir, den man nämlich als ex-links nur verachten könne. Zum Abschluß bekundete der Marxismus-Forscher aus München, der außerdem Musik von Schwarzen liebt und viel darüber spricht und schreibt, noch einmal unaufgefordert seinen großen Respekt vor dem Toten. Weder der Kollege, der geschmäht wurde, noch ich, den es mit erwischt hat, haben je in einem Wort den Respekt vor jenem Toten verletzt. Der Leserbriefschreiber aber nutzte die erste sich bietende Gelegenheit, nach dem Tod des von ihm angeblich Geliebten diesen zu ehren, indem er zwei Leute ohne den Schatten einer Begründung anspuckte, die den Toten mit ihren ja vielleicht untauglichen, aber immerhin doch real genutzten Mitteln noch einmal ins Bewußtsein der faulen und trägen Öffentlichkeit hatten heben wollen, wo sein Name bald wieder im Dreck des sonstigen Getues und Gemaches versinken würde, um anderseits der kleinen Ewigkeit Nachruhm dann aber ja vielleicht doch erhalten zu bleiben. An jenem Brief verstand ich, was mein Beruf bei der Zeitung war. Er diente – auf schrullige Weise – dem Herstellen und Evidentmachen komischer Wahrheiten, die mich persönlich – anders als einige wissenschaftliche, ästhetische und philosophische Wahrheiten sonst – gar nicht besonders interessieren. Eine davon ist die:

Wenn man schreibt, ist es egal, was man schreibt, sobald Leute es in die Finger kriegen, die erstens auch gern geschrieben hätten und zweitens nicht lesen können.

Die Auffindung dieser Wahrheit in jenem Leserbrief glich dem, was ich als Kind mal getan habe nach dem Scheißen: am morgen den Haufen in der Schüssel anstarren; es liegt nur da, es ist unerfreulich, aber es ist wahr.«

  One Response to “Mentalinsuffizienz & Schreibneid”

  1. […] hat Felix Bartels in seinem Blog »Neuestes vom Parnassos« heute den Nachweis geführt, daß Reinhard Jellens spezifisches Talent schon vor immerhin fast […]

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