Jul 302014
 

Niemand ist friedlich. Man kann im Sittlichen nichts tun, erwägen oder unterlassen, das nicht ihm, ihm oder dem da auf die Nerven fallen wird. Schon dadurch, daß wir sind, beleidigen wir, weil jede Haltung, die man irgend einnehmen kann, ihr Gegenteil und damit ihre unversöhnlichen Feinde hat. Den wahrhaft Durchgeknallten erkennt man daran, daß er im besten Glauben betont, wie friedlich er ist. Er tut das unablässig und besonders gern vor dem je nächsten Wutausbruch. Das zwanghafte Versichern, bei all dem Gekeile dennoch den Frieden im Herzen zu tragen, hat was von prospektiver Selbstentlastung. Man betont, wie man wäre, wenn nichts wäre. Man ist der friedlichste Mensch der Welt, solange man außer der Welt ist.

Des Antisemiten Leidenschaft ist, darüber zu reden, wie schön die Welt wäre, wenn die Juden außer ihr wären. Das ist seine ganz besondere Art, außer der Welt zu sein, denn er weiß, daß er schwerlich selbst außer der Welt sein kann, also denkt er sie sich ohne das, was seine Wut erregt. Der Antisemit ist ein Utopist ohne Utopie, einer, der die Welt verbessern zu wollen glaubt, dem dazu aber nichts anderes einfällt als sie zu reinigen. Der Herr Zeisig, heißt es in den »Flüchtlingsgesprächen«, räumte jeden Morgen den Schreibtisch des Physikers Ziffel auf, indem er alle herumliegenden Notizzettel in den Mülleimer warf. Als die Nazis an die Macht kamen, trat er bei. Brecht war ein großer Realist. Antisemiten können sich unter Ordnungschaffen nichts anderes vorstellen als den Staubsauger anzuwerfen. Sie wissen nicht, wie sie die Teile anordnen sollen, also ins Nichts mit ihnen. Nur das Ganze ist das Wahre, und daher neigt, wer im Theoretischen das Ganze nicht zu fassen bekommt, eher dazu, im Praktischen nach der ganzen Lösung zu rufen.

Wie überall jedoch gibt es auch in der Unduldsamkeit Grade und Übergänge. Manch einer, der auf der Stiege bloß ein paar Stufen tiefer steht, glaubt sich nicht auf demselben Holzweg. Den jüngsten Fall solcher Selbstaufwertung macht die Einheitsfront gegen ruchbar gewordene Exzesse vorzüglich muslimisch sozialisierter Teilnehmer der gerade laufenden Gaza-Solidaritäts-Demonstrationen. Dort kann man Sinnsprüche wie »Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!«, das unvermeidliche »Kindermörder Israel!« oder simpel: »Adolf Hitler! Adolf Hitler!« ebenso hören wie der unbehinderten Jagd auf des Judentums verdächtige Passanten beiwohnen. In Hagen lieh die Polizei den Demonstranten endlich ihr Dienstmegaphon – was man so tut, um zu deeskalieren. Irgendwo hört der Spaß aber auch, selbst für die bürgerliche Mitte. BILD trommelte daher am 25. Juli unter dem Titel »Stimme erheben: Nie wieder Judenhaß!« ein gesamtdeutsches Gefolge aus Konzernlenkern, Fußballprominenz, Talkmastern, Politikern, Schauspielern, Journalisten und anderen Tuis zusammen, unter denen auch der Pastor Gauck nicht fehlen durfte. Und der hatte schon zwei Tage zuvor Bahnbrechendes für die Antisemitismusbeforschung geleistet – zwei Sätze, die mir jetzt Anlaß sein sollen, ein Phänomen auszuleuchten, das beinahe durchgängig zu kurz kommt: den Antisemitismus der bürgerlichen Mitte.

Mein Koordinatensystem wär arg demoliert gewesen, hätte Joachim Gauck das eine Mal, das er dann doch auf der richtigen Seite stand, die Sache nicht gleich wieder vor die Wand gefahren. Natürlich kann einer, bei dem überhaupt schwer zu erkennen ist, ob Antisemitismus[1] dem Antikommunismus folgt oder umgekehrt, nichts Wesentliches beitragen, wenn es darum geht, einen antisemitischen Mob auf den Begriff zu bringen. Er wird, soll das heißen, selbst diese Gelegenheit nutzen, seine Prioritäten durchzudrücken. Wer keinen Gedanken gegen den Nationalsozialismus artikulieren kann, ohne immer auch gleich auf den Sozialismus zu kommen, dessen Prioritäten sind kenntlich. In seinen trübsten Stunden setzt Gauck DDR und Nazireich einfach in eins, während seiner nüchternen Phasen ist er versierter und setzt beides bloß permanent in Beziehung, wodurch eine Art Gleichsetzung der Gewohnheit entsteht. Es ist wie bei den leichten Mädchen am Hafen. Man muß ihnen nicht nachweisen, daß sie selbst stehlen, saufen und die Zeche prellen, es reicht, wenn man erwähnt, daß sie dauernd in Gesellschaft von Schurken anzutreffen sind.

Die Vergemeinschaftung von Sozialismus und Nationalsozialismus hat für einen, der von Gaucks Standort her denkt, zwei Vorteile. Einesteils wird der Nationalsozialismus verharmlost und die Entschuldung der deutschen Volksseele vermittels Relativierung der Naziherrschaft vorangetrieben. Zumal in der rhetorischen Figur von den zwei deutschen Diktaturen ein gleitender Übergang zur Jetztzeit geschaffen ist, in dessen Ablauf wenigstens die Befreiung von der zweiten Diktatur dem Deutschen Volke ganz allein gelungen ist. Andernteils wird die eigene Biographie aufgewertet, weil man sich als Gegner eines Quasi-Faschismus inszenieren kann. Der ostdeutsche Dissident a.D. sehnt sich, auch ein wenig Weiße Rose gewesen sein.

Wo Gauck gezwungen ist, ganz in der Gegenwart zu bleiben, muß folglich ein Ersatzmuster her, das die erwähnten Funktionen – Reinigung und Sublimierung – bedient, und ich zitiere jetzt endlich seine zwei Sätze:

»Antisemitismus, auch wenn er neu ist, wenn er aus ausländischen Gesellschaften importiert wird, der wird genauso wenig geduldet wie ein alter, autochthoner Antisemitismus, den es in einigen rechtsradikalen oder linksradikalen Milieus gibt. Wir nehmen alles ernst.«[2]

Der zweite Satz ist zugleich sehr ehrlich und sehr gelogen. Interessant ist, welchen sozialen Ort der Rhetor hier unerwähnt läßt, seinen eigenen nämlich. Es gibt demnach einen muslimischen Antisemitismus, einen linken und dann noch einen rechten.

Zunächst hätten wir hier die Unterscheidung eines importierten von einem autochthonen Antisemitismus, was historisch zwar auseinandergehalten werden muß, bei Gauck aber bereits der Aufwertung des eigenen Standorts dient. Der deutsche Antisemitismus, soll damit angedeutet werden, hetze lediglich in den Worten, der aus dem Orient hergebrachte zugleich über die Straßen. Nur ist der keineswegs stärker verbreitet als der eingeborene der Deutschen, weder insgesamt noch anteilsmäßig in den betreffenden Schichten. Er ist bloß primitiver in der Wortwahl und rabiater. Er kommt aus Köpfen, die nach ganz einfachen Strickmustern arbeiten, die irgendwo zwischen dem 7. Jahrhundert bei Mekka und dem 16. vor Wien hängengeblieben sind, die die geistige und technische Verfeinerung der Moderne wie die moralische Erschütterung des Holocausts nicht durchlaufen haben, denen vernichtungsblinde Parolen in Verbindung mit dem Ausdruck »Jude« ungehemmt von den Lippen gehen, denen leichtfällt, den Holocaust für eine Lüge und die Juden für geheime Weltregenten zu halten, denen Rassismus als Herleitung des eigenen Herrschaftsanspruchs – gestaltet in den komplementären Mythen von der eigenen Grandiosität und vom Minderwert der Juden – ein unverdächtiges Mittel ist, die Darwin für einen Scharlatan und Homosexualität für eine Sünde halten.

Diese primitiven Atavismen in einer Zeit der Aufklärung, Komplexität und Beweglichkeit sind verstörend, aber sich darauf zu kaprizieren hieße den Antisemitismus verkennen, der sich mühelos in jeden sozialen und kulturellen Kontext übertragen kann und in das Zeichensystem eines jeden Zeitzusammenhangs so integriert, daß er als genuines Element der Gegenwart erscheint. Gerade in der Anpassung bewahrt er sein Wesen. Was sich ändert, sind Ausdrucksform, Terminologie, Herleitungen und die Beispiele, die herangezogen werden. Was sich nicht ändert, ist das zugrunde liegende Unbehagen, das seine Lösung nur in der Eliminierung des ausgesuchten Elements finden kann.

Gauck ist dem, was er sich kritisch vornimmt, näher, als ihm klar sein kann, was mit der Scheidung des autochthonen Antisemitismus in einen rechten und einen linken noch deutlicher wird. Er reproduziert einfach seine zwei deutschen Diktaturen im politischen Spektrum der Gegenwart, und ein Antisemitismus der bürgerlichen Mitte ist damit nicht vorgesehen. Gauck hätte die Zeit gehabt, ihn zu erwähnen; er hat es nicht getan. Daß er rechts und links vergemeinschaftet, ist seine Gewohnheit, aber auch Gewohnheiten werden einem Menschen nicht zugeteilt, er nimmt sie aus seinem Handeln heraus mit der Zeit an, und sie bedeuten was.

Die bürgerliche Mitte ist die comfort zone der Bourgeoisie, der Ort, an dem das Bürgertum gern bei sich ist und ungern Abweichung duldet. Es sieht sich als gemäßigt zwischen den Rändern, ohne zu begreifen, daß diese Ränder bereits Teil von ihm selbst sind; es sieht sich als Weg der Vernunft, obgleich das, was es für die Vernunft der goldenen Mitte hält, nichts anderes ist als das Graubild eines Mangels an Phantasie. Der Judenhaß kommt in der Vorstellung dieses Milieus nicht aus der Gesellschaft selbst, nicht aus ihren Strukturen oder ihrer Normalität, er findet nur dort statt, wo man mit ihr aus diesen oder jenen Gründen unzufrieden ist und seine Unzufriedenheit nicht hat bewältigen können. Es ist allerdings seit etwa einem Jahrzehnt fast ein Gemeinplatz geworden, daß Antisemitismus an allen Orten der Gesellschaft zu finden ist. Die Konservativen, die Liberalen, die Grünen, die Sozialdemokraten, die Linken, die Kommunisten – sie alle, ausgenommen die völkische Rechte, zerfallen in einen antisemitischen Teil und einen, der es eher nicht ist. Das juste milieu, das sich nicht selbst in Frage stellen darf, behandelt diese Evidenz daher wie eine unerfreuliche Abweichung. Das nicht zu leugnende Vorkommen des Antisemitismus der Mitte erscheint als eine Ansammlung bedauerlicher Einzelfälle. Man separiert – ganz so wie dieser Tage mit rechten Sektor auf dem Maidan – eine wahre Mitte von der realen.

Die Ahnungslosigkeit ist organisiert und schließt Ignoranz ein. Während es keinen völkischen Rechten gibt, der nicht auch Antisemit wäre, hat die Linke schon lange eine starke Bewegung gegen den Judenhass hervorgebracht, die mehr zur begrifflichen Erschießung des Phänomens beisteuern konnte als sonst ein Lager. Wenn es hingegen ein Milieu gibt, in dem der Antisemitismus zugleich mehrheitlich, unbegriffen und verleugnet geblieben ist, dann ist das in der Tat das bürgerliche, an dem Sozialdemokraten, Grüne, Liberale und Konservative – jenes ekelhafte Konsensdeutschentum, das auf einen Präsidenten Gauck sich zu einigen imstande war – gleichen Anteil haben.

Daß es sich nicht um ein bloßes Denkproblem handelt, sieht man daran, daß auch befugte Köpfe dieses Milieus affiziert sind, will sagen: auch solche, die die Mechanismen des Antisemitismus gut kennen, den Ort der bürgerlichen Mitte, dem sie selbst angehören, vor dem hartem Urteil bewahrt sehen wollen. Es war fast rührend zu lesen, wie etwa Monika Schwarz-Friesel im Zusammenhang der Bewerbung ihrer Studie über die Sprache der Judenfeindschaft nicht müde wurde, sich darüber zu wundern, daß die ruchbaren Stereotype und Denkmuster ausgerechnet von Vertretern gesitteter Kreise (Akademikern, Lehrern usw.) mit besonderem Eifer gepflogen werden. Mag sein, daß diese Verwunderung taktische Motive hat, dann wäre die Taktik falsch, denn sie bestärkt das Milieu in seinem ungebrochenen Verhältnis zu sich selbst. Wo die bürgerliche Mitte als Gestalt des gesellschaftlichen Verkehrs grundsätzlich affektiv besetzt ist, muß es in der Tat ganz sonderbar scheinen, daß der Antisemitismus auch aus dieser Mitte kommen kann. Tatsächlich aber hat er gerade in ihr seine Quelle.

Retrospektiv erscheint der Antisemitismus dem oberflächlichen Verstande als untrennbar verbunden mit der Praxis des Völkermords und damit als Grenzfall, der von der Normalität zu trennen sei. Der Holocaust ist jedoch das Ende eines langen Prozesses, und zwar, obgleich das furchtbarste, eines unter mehreren. Der Vorwurf des Antisemitismus bedeutet zunächst durchaus nichts anderes, als das Vorhandensein einer bestimmten Denkart, einer bestimmten Abneigung zu konstatieren. Ironischerweise macht sich das lebendige Ressentiment die geschichtliche Verbundenheit der antisemitischen Haltung mit dem Holocaust zunutze, indem es sich mit dem Verweis auf den nicht zu leugnenden Unterschied zwischen der eignen Manier und der Bestialität der Nazis einen Ablaß verschafft. Diether Dehms berüchtigtes: »Antisemitismus ist Massenmord und muß dem Massenmord vorbehalten bleiben!«[3] hat hierin seinen Hintergrund, aber man darf auch an Jakob Augsteins weniger plumpe Verteidigung gegen das SWC denken, in der er feststellte, daß Vorwürfe gegen seinen »kritischen Journalismus« den Kampf gegen den wahren Antisemitismus schwächen. Zwischen diesen beiden Varianten ungefähr bewegt sich das abwehrende Denken der bürgerlichen Mitte. Die tausendfach zu Tode gerittene Standardphrase »Kritik an Israel ist nicht antisemitisch« und ihre zahllosen Schwestern wären nicht möglich ohne diesen Grundgedanken. Der Völkermord wird zum Schutzschild des gemäßigten Antisemitismus, wir sehen das lebendige Ressentiment in seiner zweckmäßigen Aneignung der Singularitätsthese.

Das umstandslose Identifizieren des Antisemitismus mit dem Holocaust hat aber einen weiteren Vorteil. Zum einen, wie eben angerissen, nutzt der moderne Antisemit diese Gleichsetzung, um sich selbst unverdächtig zu machen. Da ihm niemand im Ernst vorwerfen kann, er betreibe oder plane gerade einen Völkermord, sieht er sich aus dem Schneider und kann alle konkrete Kritik seiner Äußerungen als gegenstandslos vom Tisch fegen, ohne sich ihr selbst stellen zu müssen. Der andere Vorteil liegt darin, daß man durch die Bindung des allgemeinen Ressentiments an die besondere Erscheinung des Nazistaats das Volk, also jenen Organismus, dessen Teil man ist und in dem man sich eigentlich recht wohl fühlt, nachträglich und vor allem auf die Gegenwart hin entschulden kann. So erscheint das Volk als bestenfalls anfällig für Verführung und allemal als Opfer einer staatlich organisierten Umschulung. Der Holocaust wird rationalisiert, als blankes Wirtschaftsunternehmen verstanden oder als Maschinerie mit einer unheimlichen Dynamik, die die Beteiligten hinfortgerissen habe.

Diese Verschiebungsarbeit von der Gesellschaft auf den Staat wird in einer weiteren, kaum minder populären Lesart aufbewahrt, die den Antisemitismus als eine Version des Etatismus deutet. Zwar geht dieser Ansatz an die Graswurzeln zurück, aber er mittelt die Sehnsucht nach autoritärer Herrschaft und, im Gefolge Sartres, die Angst vor der Freiheit als die eigentlichen Quellen des Antisemitismus aus und setzt sodann diese Stimmungen dem Etatismus gleich, was keiner der beiden Seiten gerecht wird, denn natürlich hat es immer auch reflektierten und nicht einfach bloß affektiv besetzten Etatismus gegeben, und wichtiger: Der Antisemitismus als Haltung geht im autoritären Charakter nicht vollständig auf. Die Vorstellung des Etatismus als Dehnstufe des Antisemitismus oder des Antisemitismus als Schwundstufe des Etatismus etabliert sich ungeachtet der historischen Wege des Judenhasses, ungeachtet auch des besonderen Charakters der nationalsozialistischen Einrichtung, die Franz Neumann als Behemoth beschrieben hat, als un-staatlichen, partikularen, dauerhaft terroristischen Staat, der das Ständische auf der Ebene des Staatlichen reproduziert und damit die Staatlichkeit im Staate austilgt.

Historiographisch muß die anti-etatistische Lesart einen nicht geringen Teil der vitalen Quellen des Judenhasses ausblenden, und hier wäre nicht erst die Tradition der Judenfeindschaft im nationalen Liberalismus zu erinnern (Freytag, Raabe, Beuth, List, Treitschke usw.). Bereits das Trachten von Ernst Moritz Arndt, Jakob Friedrich Fries & Hartwig von Hundt-Radowsky kann ebenso wenig für etatistisch gelten wie das heutige Gezeter unserer Grasse & Augsteine, während zum anderen das sich emanzipierende Judentum im deutschen Bonapartismus (Hardenberg, Dalberg, Montgelas) seine mächtigste Schutzmacht hatte.

All das seien nur Streifzüge; sie sollen nicht das Ressentiment einer bestimmten politischen Strömung zuordnen, sondern im Gegenteil zeigen, daß es sich einer allein nicht zuordnen läßt. Man muß es, ich wiederhole mich, weniger im Inhalt als vielmehr in der Haltung suchen. Und in der Tat kommt man dieser näher, wenn sich durch das liberale Milieu Zugang verschafft. Durch den Gedanken der ständischen Freiheitlichkeit. Jene Freiheit im Sinne des Rotte, der sich selbst befreienden Brothers in Crime, der Subjektivität, die ihre Privilegien verteidigt oder neidvoll ihre wirtschaftlichen und politischen Niederlagen verarbeitet. In diesem Bewußtsein sieht man im Juden ebenso sehr einen privatwirtschaftlichen Konkurrenten, wie man an ihm, der von öffentlicher Ordnung und Gleichheit vorm Gesetz profitiert, die Idee der Staatlichkeit haßt.

Der Zusammenhang wird verdeckt, weil der Forschungs- und Schriftbetrieb unserer Tage von neoliberalen und neokonservativen Denkern sowie vom ex-linken Flügel der Ideologiekritik beeinflußt ist; worin ein lebhaftes Interesse herrscht, das verabscheute Modell des Sozialstaats zu diskreditieren – ein Phänomen, über das gesondert zu handeln wäre. Aus dieser Deutung jedenfalls folgt, und sogar stringent, daß die eigentliche Heimat des Judenhasses bei den Rändern der Gesellschaft zu suchen sei. Die Juden aber stehen in der Tradition des Antisemitismus nicht nur für das Geld (also den freien Markt), sondern wurden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert (den Emanzipationsedikten, der bonapartistischen Befreiung usw.) insbesondere als Nutznießer und Gehilfen, schließlich gar als geheime Lenker des modernen Staats genommen. Die Romantik hat dem modernen Beamtenstaat ihre Idee des Ständischen entgegengesetzt – verkörpert ebenso in den völkischen Entwürfen Arndts und Jahns wie in der Verehrung des Mittelalters durch Novalis u.a. Der Rottengeist der Stände focht gegen den Code civil, gegen eine die Gleichheit aller Bürger bestimmende Verfassung. Die Juden wurden in diesem Kampf zum Code dieser Entwicklung. Die Zuschreibung blieb dynamisch; sie setzt sich fort, nicht bloß zu den Nazis, sondern bis hin zu Teilen der heutigen Israelkritik. In der antisemitischen Haltung fallen Angst vor der Freiheit (ungeregelte Konkurrenz des Marktes) und Angst vor der Unfreiheit (Staatlichkeit) zusammen.

Daß sein Judenbild disparat ist, darf ausgerechnet beim Antisemitismus nicht wundern. Geschichtliche Dialektik erscheint im schlichten Bewußtsein immer als Irrationalität, aus Widerspruch wird Widersinn, wodurch dieses Bewußtsein sich dann stets zu abwegigen Deutungen provoziert sieht. Der zur wirtschaftlichen Stärke tretende politische Aufstieg der Juden wird in den geläufigen ideologischen Verarbeitungen nicht begriffen, aber gespiegelt. Joseph Süß Oppenheimer ist nicht bloß reich, sondern zugleich Berater des Fürsten, und dem Staate Israel wird noch heute, bald siebzig Jahre nach der Gründung, sein künstlicher Charakter vorgeworfen, dem der naturale, organische Charakter der arabischen, vorgeblich »autochthonen« Bevölkerung entgegengesetzt wird. In den »Protokollen der Weisen von Zion« wird den Juden das Gedankengut Machiavellis (Version Joly) untergeschoben, also einer abstrakt-etatistischen Position.

Auf eine Weise ist in dieser Paradoxie des Juden die Paradoxie des Staates selbst ausgedrückt, die das Bürgertum stets fühlt. Der Staat erscheint als machtvoll, damit garantiert er einerseits die ruhige Entfaltung von Handel und Wandel, schränkt aber andererseits die Freiheit ein. Das erfolgreiche Bürgertum will Recht & Ordnung, aber keine Zölle & Steuern. Das nicht erfolgreiche Bürgertum will eine gewisse Absicherung vor der Armut, Rache sicher auch an den Emporkömmlingen, aber keine staatliche Willkür. Im Staatsbild konvergieren die Ängste der Gewinner und Verlierer der bürgerlichen Gesellschaft. Im Antisemitismus, wie gesehen, tun sie das auch. Sein personeller Bestand reicht von Verlierern wie Hundt-Radowsky bis zu Gewinnern wie Henry Ford. So erscheint der Staat als von Juden unterwandert oder diese zumindest begünstigend, und natürlich liegt schon in der Unterscheidung von künstlichen und natürlichen Staaten die Auflösung des Staatsbegriffs, weil alle Staaten künstlich gebildet sind und in der Vorstellung eines Naturstaats jene ständische Hoffnung auf Freiheit im Tun und Sicherheit im Erleiden Ausdruck erhält. Der Naturstaat ist die mit letzter Konsequenz ins Praktische gewendete Idee jenes paradoxen Verhältnisses des Bürgertums zur eigenen Umgebung, zu Gesellschaft und Staat, der zwanghafte Versuch, beides zu verschmelzen, was nichts anderes als die Rücknahme des Staates in die Gesellschaft bedeutet. Die vitale Vereinigung dessen, was sich nicht vereinen läßt und folglich, in der Praxis, einen Zustand des anhaltenden Terrors hervorbringen muß.

Von diesem Terror will die Ideologie des Naturstaats indessen nichts wissen. Solange sie ganz bei sich, also, wie oben gesagt, außer der Welt ist, dünkt sie sich friedvoll. Sie nimmt das Konstrukt der Volksgemeinschaft her und nutzt diese Vorstellung eines vermeintlich gewachsenen und natürlichen Gebildes als Grundlage und insbesondere Kitt, besagte Paradoxie in seinem Staats- und Gesellschaftsbild zu stopfen. Und das funktioniert, wie oben angedeutet, der Gestalt nach ebenso gut ein paar Stiegen tiefer, also dort, wo nicht unbedingt biologische Begründungen herbeigeholt werden müssen, um der Gemeinschaft ihre Einheit zu verschaffen. Auch die moderne Volksgemeinschaft braucht den Ausschluß des inneren Feindes ebenso wie den des äußeren. Sie braucht ein gereinigtes Wir.

Ich komme jetzt auf Gaucks »Wir nehmen alles ernst« zurück. Das ist ja ein ausschließendes, ein gereinigtes Wir, das im Resultat nicht nur die feindlichen Elemente ausgestoßen, sondern sich selbst damit als makellos hergestellt hat. Die schmutzige Realität wird zugunsten der reinen Idee abgestoßen. Der bloß ideale Zugriff auf Verhältnisse, die eigentlich begriffen sein wollen, ist offensichtlich, die Identifikation damit auch. Es ist zwar nie ganz sicher, ob Gauck, wenn er »Wir« sagt, nicht eigentlich doch wieder bloß »Ich« meint, doch in jedem Fall muß der immanente Widerspruch des eigenen Geflechts ausgelagert werden, damit die Gesellschaft, in der Gauck sich gleichsam selbst erkennt, weiterhin dem ähnelt, was Gauck für ebenso gaucksch wie anbetungswürdig hält. Der Rechtsstaat also soll reingehalten werden, indem seine unreinen Elemente auf negative Objekte übertragen werden, die diese dann als Vergegenständlichung des Unreinen auf sich nehmen. Und das ist haargenau der Mechanismus, in dem Antisemitismus von jeher funktioniert hat, weshalb auch nicht verwunderlich ist, daß die Gedankenbahnen des juste milieu, das ja bloß dem Namen nach das gerechte und tatsächlich das selbstgerechte ist, besonders geeignet scheinen, in veritablen Antisemitismus umzuschlagen. Ich sage das nicht, um den subjektiv sicher ehrlich gemeinten Kampf gegen bestimmte Formen des Antisemitismus zu diskreditieren. Ich sage es, um zu zeigen, daß Gauck und sein Milieu selbst in der Kritik des Antisemitismus noch dessen grundlegende Muster reproduzieren.

Natürlich ist die bürgerliche Mitte voll von allem Möglichen. Je nach Kriterium neigen zwischen 40 und 60 von 100 mehr oder minder zum Antisemitismus.[4] Man trifft hier glühende Antizionisten ebenso wie erklärte Freunde des israelischen Staates. Und dazwischen brechen sich die Schattierungen des guten Bewußtseins, das schon mal solidarische Kritik mit Israel übt, den jüdischen Gemeinden in Europa zurät und sich sorgenvoll fragt, wohin das freche Treiben der Lobby uns noch bringen werde. Oder, von der anderen Seite, jene Gestalten, die ihre Solidarität mit dem Judenstaat nicht ohne rassistische Ausfälle gegen die arabische Seite durchhalten können und in dieser Solidarität zugleich ein affirmatives Deutschlandbild zu retten suchen, was heute weniger grobschlächtig funktioniert, doch schlechterdings mit der BILD-Zeitung seinen Anfang nahm, die im Juni 1967 Moshe Dajan als den »Rommel Israels« bezeichnete und damit noch im Beistande Israels den positiven Bezug auf den Nationalsozialismus wieder herstellte.

Immer geht es in diesem Milieu um Positionszwang. Was die Überlegung nicht leisten kann, soll die Standfestigkeit kompensieren. Regelrecht besessen kreist man um die Frage, bis wohin Solidarität mit der einen oder der anderen Seite gehen darf und kann. Einige setzen die Grenze beim Existenzrecht, andere beim Umschlag ziviler Formen des Widerstands in Terror. Und jeder, aber auch wirklich jeder hat einen Friedensplan in der Tasche und weiß ganz genau, was passieren muß, damit endlich Harmonie waltet. Man kann dieses gesamte Milieu, wie es trinkt und haßt, an eine Fensterscheibe halten und mit dem Bleistift zu einem Weichbild abpausen. Was wir erhalten, ist eine Typologie, also ein Portrait ohne Namen und Adresse, aber mit einer gewissen Aufenthaltswahrscheinlichkeit, deren Unschärfe sich daraus ergibt, daß wir seinen Impuls präzis bestimmt haben. Also das Bildnis des AdbM, des Antisemiten der bürgerlichen Mitte, dessen charakteristischer Spleen, wie eingangs behauptet, unbegriffen und verleugnet ist.

Derart bestimmt kann man das Abstraktum ins Konkrete zurückholen und sich z.B. der Berichterstattung großen Zeitungen erinnern, der Fernsehsender, privater und staatlicher, der manipulativen Headlines von Spiegel Online (»Israel droht mit Selbstverteidigung«, »Weiter Raketen auf Israel, aber Waffenruhe hält vorerst an«, »Israel erwidert trotz neuer Waffenruhe Beschuss aus Gaza« etc). Mitzudenken wäre die grobe Masse, die in den Kommentarspalten und Leserbriefen darauf anspringt, zu denken also an ein Ganzes aus Produzenten und Konsumenten dieses Betriebs – dann erhält man einen plastischen Eindruck von der bürgerlichen Mitte. Wir reden von Leuten, die Bonuspunkte sammeln, informierte Verbraucher sind, wählen gehen, ZDF schauen und sich freuen, wenn unsere Jungs ins Finale der WM kommen. Die finden, daß Angela Merkel unser Land toll repräsentiert, die Joachim Gauck für einen Intellektuellen halten. Die glauben, daß die Menschen in der Ukraine ihre Freiheit bekommen, wenn ein und dieselben Oligarchen ihre Geschäfte mit der EU statt mit Rußland machen. Die einen Beitrag leisten wollen, sich gründlich informieren und auch mal den Mut haben, Amerika zu kritisieren. Die ins Spiegel-Sachbuch-Ranking gucken, wenn sie wissen wollen, was sie schenken sollen. Man kann es nicht übersehen: Der wahre Rand liegt in der Mitte, und er führt in den Abgrund.

Es geht im juste milieu selten um erklärten Antizionismus. Der AdbM gesteht Israel in aller Regel generös ein Existenzrecht zu – das nämlich, denkt er, sei es: ein Recht und kein Erfordernis –, und nur in Ausbrüchen, in der Bedrängnis der Diskussion, wenn er in Rage ist oder einfach zur fortgeschrittenen Stunde am Stammtisch, entfleuchen ihm Gedanken, wie etwa, daß »die«, wenn sie sich weiter so verhalten, allmählich ihr Recht verspielen, selbstbestimmt und souverän im eigenen Staat zu leben. Und dieses »die« bleibt so vage, daß nie ganz klar ist, wer eigentlich damit gemeint ist: die Juden, die zionistische Lobby oder doch bloß Israel. Wie der Herr Puntila wird der AdbM desto menschlicher, je mehr er getrunken hat. Er liebt Grundsatzdebatten, aber keine komplizierten Erläuterungen. Nicht nur seine Steuererklärung, auch sein Nahost-Schema muß auf einen Bierdeckel passen. Das ideologische Gerümpel des Antiimperialismus langweilt ihn ebenso wie Darlegungen zur jüdischen Finanzherrschaft. Es geht ihm um Israel, das er so gern lieben würde. Er pflegt, kann man sagen, einen Antisemitismus jenseits von Jud und Börse.

Was aber motiviert ihn? Natürlich finden sich beim AdbM einige klassische Elemente, die man auch von anderen Ausprägungen kennt und die ich zum größeren Teil an anderen Stellen schon behandelt habe: die Romantik des Weltfriedens, der Opferneid, die Schuldumkehr, die Parteinahme für den Schwächeren, das Appeasement gegenüber dem Terror. Spezifisch am AdbM scheint indes eine Quelle vor allen anderen, zumal sie als einzige erklären kann, warum der latente Haß der bürgerlichen Mitte in- und extensiv im Verlauf des zurückliegenden Dezenniums zugenommen hat. Die Formel lautet: In der Parteinahme gegen Israel beruhigt der AdbM sein sozial bedingt schlechtes Gewissen.

Dieses schlechte Gewissen erhält seine Impulse demnach nicht aus der internationalen Sphäre, sondern aus der Involviertheit in die sozialen Prozesse des eigenen Landes; und es hat nichts mit der deutschen Vergangenheit zu tun, sondern mit der europäischen Gegenwart. Als 2003 unter der Schirmherrschaft der Herren Schröder und Chirac eine europäische Fronde gegen die amerikanische Hegemonie gebildet wurde, fanden die Linke und die Mitte in einem gemeinsamen Anliegen zusammen. Daß man mit guten Gründen gegen den Irakkrieg sein konnte, ändert nichts daran, dass die deutsch-französische Volksfront aus schlechten Gründen gegen ihn war. Sie war eine Koalition der Unwilligen – unwillig, eine Lage zu durchdenken, unwillig, akzeptieren zu können, daß die USA nach wie vor an der Stelle stehen, an die ein von Deutschland und Frankreich geführtes Europa sich selbst wünscht. Die Linke und die Mitte verwuchsen in diesen Tagen zu einer aktiven und zunehmend auch gedanklichen Einheit. Bei den linken Teilnehmern der Fronde scheint das Hauptmotiv in dem Bedürfnis zu liegen, endlich anzukommen in der Gesellschaft, nicht länger marginalisiert, isoliert zu sein und nicht länger den Spott über angebliche Weltfremdheit ertragen zu müssen. Jeder Linke wußte, wer Schröder war und was er wollte, und dennoch feierte man ihn als Helden. Das Bedürfnis, nicht mehr am Rande zu stehen, ist die mächtigste Quelle des Opportunismus. Mächtiger als der Wunsch nach finanzieller Absicherung, mächtiger als der nach geistigem Ruhestand.

Die Vertreter der bürgerlichen Mitte hatten die gegenteilige Strebung; sie sind auf der Suche nach dem Anstrich des Gesellschaftskritischen. Nine-Eleven, Afghanistan, Irak waren bloß äußerliche Vorgänge für die Europäer, und 2003 zugleich das Jahr der Agenda 2010, worin jeder spürte, daß der von jeher bloß fragmentarisch vorhandene Sozialstaat aufgelöst werden würde. Dennoch blieben die meisten derer, die oberhalb der Armutsgrenze leben, letztlich untätig, weil Unbetroffenheit in aller Regel auch Gleichgültigkeit bedeutet. Man versteht das Bewußtsein der bürgerlichen Mitte nicht, wenn man es nicht als das gute Bewußtsein erfaßt, das Bewußtsein, das auf gute Weise gebildet ist, das Bewußtsein vom Guten, das Bewußtsein der Guten. Jeder will gut sein, zu den Guten gehören. Bewegt er sich am Rand der Gesellschaft, leistet die Vorstellung, gegen die herrschenden Mißstände zu sein, Abhilfe. In der Mitte hilft gar nichts. Man sieht die Armut, sieht die Marginalisierung der armen Schichten und hat selbst ganz andere Sorgen. Einige schieben es ganz weg, andere reden beim Tee über die schreckliche soziale Kälte, wieder andere tun was für die Umwelt oder wählen gleich SPD. Man wählt zwischen Verdrängung und Ersatzhandlung.

Der AdbM sinnt nach einer Möglichkeit, gut zu sein, ohne als Guter leben zu müssen. Er weiß im Grunde, daß er sich selbst am nächsten ist, daß er von der Armut anderer profitiert, daß er wegsieht, wenn Unrecht geschieht. Er braucht mit anderen Worten einen Gegenstand, an dem er kritisch tätig werden kann, ohne daß es Konsequenzen hat. Er braucht Israel, an dem er seine zwar toten, aber nie begrabenen Ideale wieder aufleben lassen kann. An dem er zu den Schwachen halten kann, ohne die eigenen Privilegien aufgeben zu müssen. So sieht er sich als Taube unter Falken und ist doch nur Wicht unter Wichteln.

——

[1] Weiteres hierzu von Deniz Yücel: »Gauck und der Holocaust«, in der taz v. 22. Februar 2012.

[2] So geäußert am 23. Juli 2014 im Schloß Bellevue.

[3] 2009 auf dem Ostermarsch in Kassel.

[4] vgl. Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Berlin 2011 (August), S. 55.

Sorry, the comment form is closed at this time.