Okt 072015
 

Über Sendaks »Where the Wild Things Are«

Wenn Phantasie sich sonst mit kühnem Flug
Und hoffnungsvoll zum Ewigen erweitert,
So ist ein kleiner Raum ihr nun genug,
Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.

(ausm »Faust«)

Als Maurice Sendaks »Wild Things« vor 52 Jahren den beleuchteten Teil der Welt betraten[1], soll die Kritik, so heißt es, ungnädig reagiert haben. Das Buch sei schlecht gezeichnet, seine Handlung verstörend und konfus. Es wird, meinte man wohl, den Winter nicht überleben. Mag sein, dass bestimmte Vorstellungen darüber, wie ein Kinderbuch gezeichnet sein sollte, bestimmte Zeiten dominieren. Doch selbst bei reduzierter Gewogenheit hätte man einsehen können, dass die Zeichnungen der »Wild Things« nicht banal oder primitiv sind. Sendak selbst gab an, dass er dem gerecht werden wolle, wofür Schubert in der Musik stehe: Komplexität und Dichte in einfache Form zu packen.[2] So passen die 1.710 Anschläge, die das Buch (Leerzeichen mitgerechnet) enthält, sehr gut zum eigentümlichen Schraffurstil der Zeichnungen, deren Figuren dennoch diffizile Stimmungen über Gesicht und Körperhaltung preisgeben. Künstlerische Mittel sind genau so viel wert wie das, was man mit ihnen erreichen kann. Verständlicher ist da schon, dass die Handlung verstörte. Wie verwegen, einen fast schon bitteren Konflikt zwischen Mutter und Kind in den Mittelpunkt des Geschehens zu stellen. Die harte Strafe (der Entzug der Mahlzeit) dürfte zudem eine Erwartung geweckt haben, nach der es sich in der moralinsauren Zeit der sechziger Jahre um so verstörender anfühlen musste, dass sie am Ende doch nicht vollzogen wird. War der Vorwurf aber, die Handlung habe keine Struktur, jemals haltbar? Continue reading »

Okt 022015
 

Wer gutgemachte Kinderbücher rausbringt, muss wissen, dass er Perlen vor die Ferkel wirft. Kinder sind sehr leicht zufriedenzustellen. Für sie macht es keinen Unterschied, ob es sich um Tand oder die Kronjuwelen handelt, solange das Zeug nur etwas glitzert. Die Frage, die sich damit stellt, wäre: Hat ein Künstler, der Kunst für Kinder macht, das Recht, schlecht zu sein? Darf er die Zeit von Kindern mit schlechten Melodien, lustlosen Zeichnungen oder belanglosen Geschichten totschlagen? Diese Frage nach Bewilligung und Verbot ist keine juristische. Natürlich darf der Künstler alles tun, was er für richtig hält, sofern es legal ist, und natürlich kann er es tun, sofern es sich verkauft. Hinzu kommt, dass man es nicht selten auch in betreff der Eltern mit einem unerzogenen Publikum zu tun hat. Wer noch nie ein Kinderlied von Schöne oder Lakomy gehört hat, denkt vermutlich wirklich, dass Musik für Kinder wie Zukowski klingen muss. Wer Zeichnungen von Ensikat oder Erlbruch nicht kennt, wird eher geneigt sein, Janosch oder Bofinger für gute Zeichner zu halten. Und wer Janosch für einen guten Erzähler hält, wird wahrscheinlich nie einen Blick in ein Kinderbuch von Peter Hacks, Louise Fatio, James Krüss oder Maurice Sendak geworfen haben. Continue reading »