Mai 302016
 

Ist es nicht eigenartig, dass im 1. Buch Mose der Ausdruck erkennen als verklemmter Euphemismus für ficken steht?[i] Euphemismus – kann man das eigentlich so nennen, wenn eine schöne Sache eine andere schöne beschreibt? Soll der Ausdruck bloß verdecken, oder ist da mehr im Spiel? Lässt sich über den Gedanken der Verklemmtheit hinaus ein Zusammenhang zwischen beiden denken? Wie erkennt Adam denn Eva, während er die eine oder andere sexuelle Übung mit ihr durchführt? Als was erkennt er sie? Zunächst doch wohl als Frau. Und spielt sich das Ganze nicht ab, nachdem die beiden vom Baum der Erkenntnis gekostet haben? Nur dass der Baum nicht einfach der der Erkenntnis ist, sondern der Erkenntnis von Gut und Böse. Zur Liebe und zur Erkenntnis tritt also eine sittliche, gewissermaßen politische Komponente. Im Paradies ist keine Politik. Mit dem Biss in die verbotene Frucht beginnt alles erst. Liebe ist, wie späterhin politisches Streben und Erkenntnis, der autoritärste Seelenzustand, der sich denken lässt. Ein Vorzugsverhältnis. Wer alles liebt, liebt nichts. Wer vieles liebt, liebt weniger. Wer liebt, wertet das, was er nicht liebt, ab. Zum ersten Mal erkennt Adam sein Weib als Weib und damit den ganzen Rest gleich mit.

Nun will wohl niemand denken, dass ein Bissen von der Feige und eine Nacht mit Eva schon alles erledigt hätten. So wie es ja für Adam und Eva nicht bei der einen Nacht geblieben ist und in den folgenden 930 Jahren noch mancher sexuelle Kunstgriff zu entdecken war, so hat einer, der eine Sache zum ersten Mal begriffen hat, sie noch lange nicht ganz begriffen. Aber er hat sie nie wieder so intensiv wie in dem Moment, da ihm der Gedanke zum ersten Mal wie ein Blitz durchzieht. Seltsam, nicht wahr, dass die Art, in der sich ein grandioser Einfall bemerkbar macht, so sehr der Art des Orgasmus gleicht.

Peter Hacks, der nicht nur seine Erfahrungen mit einer Eva[ii], sondern auch mit »Adam und Eva« hatte, hat ein Gedicht geschrieben, spätestens 1988, wahrscheinlich schon 10 oder mehr Jahre früher.[iii] Es heißt »Auf der Suche nach der weißen Göttin« und behauptet einen Zusammenhang zwischen Liebe und Erkenntnis. Ich möchte dieses Gedicht heute untersuchen, und ich will mich ganz auf dieses eine konzentrieren und die Bezüge zu anderen Werken Hacksens, in denen Liebe, wie sie muss, ja weidlich vorkommt, so gut es irgend geht, meiden. »Diese zu ihrer Zeit und die zu ihrer«, ganz so, wie es im Gedicht selbst heißt. Das mit seinen 11 Strophen geht so:

AUF DER SUCHE NACH DER WEISSEN GÖTTIN

[1] Ich weiß sehr wohl: ich hab es nie erfahren,
Noch auch ein Kleineres dafür gehalten.
Das Wunder, weiß ich, war es nie. Es waren
Des Wunders bunt und faßliche Gestalten.
Doch stets war mir vergönnt, das Glück mit Frauen
So tief zu fühlen wie es zu durchschauen.

[2] O gäb es sie, die, Weib zugleich und Kind,
Reife und Reiz und Innigkeit vereinte
In einer Laune: sie wärs, die ich meinte.
Denn so durch ihren Zweck vereinzelt sind
Im Reich des Stoffes alle Köstlichkeiten,
Daß auch die Gegenteile Lust bereiten.

[3] Sie, die, nie ausgeschöpft, von keiner Art
Und aller, unbestimmt durch Wo und Wann,
Das Seltne bindet, das Entlegne paart,
Es gab sie einst, die es nicht geben kann.
Von Delphis Nabel zu den Cordilleren
Gebot sie auf umdüsterten Altären.

[4] Durch jedes Weib von weiß und mildem Schimmer,
Mit dem ich mich auf einen Haufen schmiß,
Hab ich sie immer angerührt. Doch immer
War zwischen ihr und mir ein Hindernis.
Da war kein Freuen, das nicht sie gewährte,
Und war kein Freun, drin ich sie nicht entbehrte.

[5] Drum wenn ich heute für die Dünnen singe,
So sollen sich die Dicken nicht beklagen.
Ich bin ihr Diener. Allerliebste Dinge
Will ich mit nächstem auch von ihnen sagen.
Diese zu ihrer Zeit und die zu ihrer.
Wer sich hier fester legt, ist hier Verlierer.

[6] Ich glühte gern. Im Tun und in Gedanken.
In Daunen lag ich und in Röhrichten.
Der Liebe pflog ich nach der Art der Franken,
Der klugen Liebe und der törichten.
Und immer wieder eine tröstlich Nackte,
In welcher ich die weiße Göttin packte.

[7] Wie ist die Welt? Die Welt ist wie ein Weib.
Wie ist ein Weib? Ein Weib ist wie ein Bette.
Sie alle wärmen keinem Mann den Leib,
Der sie nicht vorher erst erwärmet hätte.
Der Kalte lebt, liebt, liegt im Kalten eben.
Was er nicht hat, das wird ihm nicht gegeben.

[8] Die Liebe wie das Dasein überhaupt
Verdienen, daß man an sie glaubt.
Man kann sie sicher widerlegen.
Man kann sich sicher auch den Kopf absägen.
Es liegt bei dir. Dies gilt im ranzigsten
Noch der Jahrhunderte, dem zwanzigsten.

[9] Und dennoch bleibt: die reinste Neigung endet
In Überwürfnis oder unansehnlich.
Sie endet todgleich oder eheähnlich.
Die Lust ist nicht von Dauer, die sie spendet.
Verstehe denn beim Auseinanderweichen:
Sie alle sind ja Teile nur und Zeichen.

[10] Aus der Bedeutung aber dieser Zeichen
Entnahm ich von der Sache ziemlich viel,
Und immer näher unterm Nichterreichen
Kam mir das Unerreichbare, das Ziel.
Wohl über Manche legte ich die Beine.
Und aus den manchen wurde fast die eine.

[11] Und voll vom Abdruck, fröhlich vom Geruche,
Der sich in mir, der Frauen, überdeckte,
Erfuhr ich sie, die rätseltief Versteckte,
Die weiße Göttin. Ewig auf der Suche,
Erklär ich heute schon, daß ich sie fand.
Ich traf sie nicht. Ich hab sie gut gekannt.

(HW I, 436–438)

Die Strophenform ist eigentümlich und möglicherweise von Hacks erfunden. Man kann von einer verkürzten Stanze sprechen. Das Metrum folgt dem jambischen Schema, mit wenigen Auflösungen, meist nicht mehr als zweien pro Strophe und kaum je so stark, dass der durch den Jambus besorgte Fluss ernsthaft gestört würde.[iv] Die Verse messen 10 oder 11 Silben, je nachdem, ob sie mit männlicher oder weiblicher Kadenz enden. Die Kadenzen sind überwiegend weiblich, was den Fluss der Gedanken sinnlich hörbar macht. Weibliche Abschlüsse verbinden, männliche trennen. Es setzt sich im ersten Strophenteil (Verse 1–4) kein regelmäßig wiederkehrendes Reimschema durch; die Strophen heben häufig kreuzend (abab), seltener umarmend (abba) und einmal paarend (aabb) an. Die letzten beiden Zeilen der Strophe bilden dagegen stets einen Paarreim. Dadurch erhalten die Strophen – ähnlich der Wirkung des Schlusspaares in den Sonetten Shakespeares – etwas zugleich Festgesetztes und Ausblickendes: Das wenige Temperament, das in ihrem Verlauf entfaltet wird, senkt sich nach ihrem Ende jeweils in eine Kuhle ziemlicher Ruhe. So schließt jede Strophe einen Gedankengang ab, und die folgende beginnt einen neuen, der an seinen Vorgänger zwar anknüpfen kann, doch ein Übergriff einer Strophe auf die nächste findet nicht statt. Die abschließenden Paarreime sind allerdings durchweg von weiblicher Kadenz, so dass trotz der eintretenden Stille der Fluss über die Strophen hinweg ein wenig erhalten wird. Man weiß, hier ist ein Tal, aber kein Abgrund. Passenderweise ist das einzige männliche Abschlusspaar dann in der letzten Strophe zu finden, wo es einen absoluten, stark klingenden Punkt hinter die langen Ausführungen des gesamten Gedichtes setzt.

Das alles ist, wie man es, mehr oder weniger, in einer Stanze erwarten kann, doch die hier hat, wie festgestellt, im ersten Teil ihrer Strophen kein stures Kreuzreimschema und zudem keine 8, sondern 6 Strophenverse, wodurch sie ein erfreuliches Stück von der stanzischen Langweile einbüßt und dennoch das Getragene und Weitläufige dieser Form (»Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten« Windhauch, Welle, Windhauch, Welle …) erhält. Mit diesem Genre macht man nichts Zackiges, nichts Dramatisches. Man erzählt keine konkreten Begebenheiten; die Sinnlichkeit des Moments tritt zurück, das lyrische Subjekt wird zum reinen Sprecher, mit dem, während er berichtet, nichts geschieht.

Hacks hat die Form der verkürzten Stanze drei weitere Male verwendet: Im »Prolog der Münchener Kammerspiele zur Spielzeiteröffnung 1973/74«, in »Die Elbe« und in »Das Vaterland«. Alle diese Gedichte bewahren oder erzeugen eine Stimmung von Ewigkeit; sie halten gewissermaßen die Zeit an. Sie berichten von Gewesenem oder Wesentlichem, sie schwingen sich auf die hohe Ebene der allgemeingültigen Betrachtung. Der »Prolog« gibt als Programmschrift vor, wie Theater zu sein und was es zu meiden hat, in der »Elbe« hört man den ewig fließenden, durchaus ruhigen Strom, während von Vergangenem und dann von einem, der noch lebt, aber schon vergangen ist, berichtet wird. Im »Vaterland« steht die Zeit still im Rückblick auf eine unwiederbringliche Epoche. Alle Gedichte eint genauer, dass sie einem platten Stoff von Wirklichkeit ein Ideal entgegensetzen, und während sie das tun, ruht das Verhältnis ganz und gar. Dies Verhältnis nun liegt auch in der »Weißen Göttin« vor, und es findet in der umrissenen lyrischen Form, die eine Art Unveränderlichkeit im dauerhaft Bewegten andeutet, seinen Ausdruck. Der Sprecher, der von den vielen und der einen Dame berichtet, blickt auf sein eigenes Leben zurück und hebt dieses platonisch ins Allgemeine.

Platonisch nämlich ist das Thema des ganzen Gedichtes. Sowohl auf der stofflichen als auch auf den möglichen Bedeutungsebenen geht es um das Verhältnis des Vielen und des Einen, um die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt und die Einheit des daraus gewonnenen Begriffs. Oder anders: um die Besonderheit der sinnlichen Liebe und das Übergreifende ihrer Idealität.

Der Titel »Auf der Suche nach der weißen Göttin« weist darauf hin, dass das lyrische Subjekt nicht einfach liebt, es hat ein Ziel, es sucht. Nämlich jene universelle Gestalt, die es in den verschiedenen einzelnen Wesen angedeutet findet und bei denen selbst aber nicht finden kann: Die weiße Göttin, die Leukothea, auf deren Geschmack der Suchende allererst durch die sinnliche Liebe kommen konnte, die diese aber bald sprengen, über sie hinausgehen muss. Das zeigt sich im Laufe des Gedichts; hier noch, beim Titel, denkt man zuerst an die white goddess von Robert Graves, wobei man Hacksens weiße Göttin mit der von Graves nicht vorschnell identifizieren sollte. Auch lyrisches Subjekt und Dichter selbst sollten nicht, sollten nie ohne weiteres in eins gesetzt werden. Da sich aber im Fall dieses Gedichtes Fiktion und Diktion decken, es also reine Diegese ist, wird es möglich, das lyrische Subjekt einfach den Dichter zu nennen, mit der Einschränkung, dass es sich um den Dichter dieses Gedichtes handelt und nicht um den Dichter Hacks insgesamt, der in anderen, zumal lyrischen Werken auch Gegenteiliges vertreten konnte.

***

#1

Die erste Strophe stellt das Thema vor; wir beginnen nicht mitten in der Sache oder mit einer konkreten Beobachtung, sondern sind gleich auf der begrifflichen Ebene. Es geht um die Analogie von Liebe und Erkenntnis, die daran fixiert wird, dass beides auf dem Gegensatz von Vielheit und Einheit beruht. Der erste Vers schon behauptet, dass Wissen und Erfahrung verschieden sind: »Ich weiß sehr wohl: ich hab es nie erfahren«. Das Metrum zwingt zur Zäsur nach »wohl«, die Trennung beider wird hörbar. Da ist ein Wissen um »es«, das aber nicht auf der Erfahrung von »es« beruht. Das Wissen geht darüber, dass der Sprecher dieses es nie erfahren hat. Und gleichzeitig denkt man beim Lesen mit: Warum dieses Eingeständnis? Es geht nicht blank darum, dass dem Sprechenden eine Erfahrung fehlt, es klingt wie eine Rechtfertigung: Ich weiß sehr wohl, dass ich es nie erfahren habe (scilicet: und dennoch weiß ich was darüber. Ich kann darüber reden, doch glaubt bitte nicht, ich bildete mir ein, es konkret erlebt zu haben).

Was aber ist »es«? Der dritte Vers nennt: »[d]as Wunder«. Das Wunder nämlich – und wiederum setzt der Dichter ein »weiß ich« hinzu, als bedarf es der neuerlichen Bekräftigung dieses Wissens um »es«, das eben nicht in seinem unmittelbaren Erleben liegt –, dieses Wunder war »es« nie – und hier wechselt das Pronomen seinen Index, es meint jetzt nicht mehr das Wunder, sondern das, was der Dichter erfahren hat –, das Wunder also war es nicht, sondern »[d]es Wunders bunt und faßliche Gestalten«. Aus der zunächst noch losen Gegenüberstellung von Erfahrung und Wissen wird damit ein Verhältnis von Abhängigkeit. Das Wissen um das Wunder ist nicht nur getrennt von der Erfahrung, sondern das, was erfahren wurde, sind die Gestalten des Wunders. Das Wesen bestimmt die Erscheinung, aber hier steht ein Plural, es handelt sich also von Anbeginn um Erscheinungen, von denen deutlich gemacht wird, dass sie »bunt und faßlich« sind. Durch die eigentümliche Verkürzung »bunt und faßliche Gestalten« statt »bunte und faßliche Gestalten«[v] wird nicht nur dem Metrum Genüge getan, das die polternde Auflösung in »faßliche Gestalten« (– ᵕ ᵕ ᵕ – ᵕ) proleptisch kompensieren muss, es werden auch die Eigenschaftswörter enger an das Substantiv gebunden. Die Erscheinung, die dem Wesen entspricht, ist also vielfältig (bunt) und gegenständlich, sinnlich (fasslich). Sie ist damit nicht nur vom Wesen abhängig und immer bloß Ausprägung des Wesens, das Wesen ist nicht anders als durch die Vielfalt der Erscheinungen zu haben.

Bis hierhin wissen wir noch nicht, worum es eigentlich geht. Von Liebe, Sex und dergleichen spricht erstmals der fünfte Vers (»Glück mit Frauen«). In den ersten vier Versen wird ein philosophisches Problem angerissen, das auch als Universalienstreit bekannt ist, das Ding, das zwischen Platon und Aristoteles lief: Wie ist das Verhältnis zu denken des allgemeinen Begriffs zu den konkreten Dingen, die er bezeichnen soll? Platon, Aristoteles und Hacks sind sich zumindest einmal darin einig, dass beides sich nicht einfach deckt. In der Frage aber, ob und inwieweit dem Allgemeinen eine eigenständige Art zu sein zukommt, wird Hacks – innerhalb dieses Gedichtes – doch sehr gen Platon neigen. Das Thema der »Weißen Göttin« also, auf seinen knappsten Ausdruck gebracht, lautet: Wie verhalten sich sinnliche und platonische Liebe zueinander?

Im zweiten Vers der ersten Strophe wird mitgeteilt, dass die konkrete Gestalt gegenüber dem Wunder »ein Kleineres« ist. Ein Wertverhältnis liegt vor oder wird behauptet. Das Metrum löst sich an dieser Stelle auf, drei unbetonte Silben »neres da« und ein folgendes »für ge«, worin eine kaum merkliche Hebung enthalten ist, besorgen, dass nach dem Sprechen der bedeutungstragenden Silbe »Klein« eine lange Durststrecke entsteht (– ᵕ ᵕ ᵕ – ᵕ – ᵕ), was die Betonung stärker als stark auf diese Bedeutung legt. Dieses Kleinere nämlich, das ist, wie deutlich werden wird, die jeweilige Frau, die der Dichter in seinem Leben liebte, oder, wenn man es etwas freundlicher ausrücken will: die jeweilige Liebe zur jeweiligen Frau, der er sich jeweils hingab. Das »Glück mit Frauen«, erfahren wir damit aus der ersten Strophe, steht über das Glück hinaus, das es selbst enthält, als Andeutung eines höheren Glücks. Und dieses Verhältnis, versichert der Dichter, uns seine Analogie von Liebe und Erkenntnis nun ausdrücklich vorlegend, habe er Zeit seines Lebens »[s]o tief zu fühlen wie es zu durchschauen« vermocht. Es geht also ums Erkennen der Liebe nicht minder als um deren Hingabe.

#2

Strophe 2 hebt elegisch an: »O gäb es sie«. Hörbar durch die Verkehrung des jambischen Auftakts in einen trochäischen, dem sich sogleich wieder ein regulärer Jambus anschließt (– ᵕ ᵕ –). Der Dichter, der in der ersten Strophe noch ruhigen Gemüts den Umstand beschrieben hatte, dass er das Wunder selbst hinter all den Frauen nie erfahren habe, beklagt diesen Mangel jetzt. Doch er gibt Gründe an, aus denen das so sein muss. Die einzelnen Frauen nämlich besitzen Eigenschaften, die sie begehrenswert machen, und diese Eigenschaften können unmöglich allesamt an ein und derselben Frau gefunden werden. Sie kann nicht »Weib zugleich und Kind« sein, womit sexuell gegensätzliche Profile nebeneinander gestellt werden. Der erwachsenen Frau, dem »Weib«, wie es etwas altertümlich und für unser heutiges Gehör unangenehm nach Biermanns schwitzender Schnurrbartpoesie klingt, wird offenbar die »Reife« zugeordnet, der jungen Frau, dem »Kind«, wohl der »Reiz«. Mit der »Innigkeit« wird eine dritte Eigenschaft genannt, was nach der Reife etwas redundant wirkt, aber vielleicht verhindern soll, dass allzu schnell Jugend mit äußerlichen und Alter mit innerlichen Vorzügen verknüpft wird. Reife ermöglicht Innerlichkeit, doch es scheint hiernach auch andere, der Jugend vielleicht nähere Weisen von Innigkeit zu geben. Es kommt dem Dichter offenbar darauf an, keine der bunten und fasslichen Gestalten gegenüber der anderen abzuwerten.

Der Zusatz »[i]n einer Laune« räumt ein weiteres mögliches Missverständnis aus. Das einzelne Wesen (die Frau) hat selbst in aller Regel unterschiedliche Seiten; es ist zudem gesellschaftlich, also geübt im Rollenverhalten. Das wird indirekt eingestanden, zugleich jedoch als weniger wichtig hingestellt. Das Wechseln des Verhaltens kann den Sprecher nicht befriedigen, gäbe ihm womöglich das Gefühl des Nichtauthentischen. Worum es ihm geht, ist der Gedanke, dass die Unvereinbarkeit von Einheit und Mannigfaltigkeit auch nicht durch den permanenten Wechsel des Einzelnen selbst kompensiert werden könnte. Erst, wo das Unvereinbare tatsächlich in einer Laune erreicht wäre, ließe sich von dem Wunder sprechen. So bleibt der Dichter denn in Vers 3 auch beim Irrealis: »sie wärs, die ich meinte«. Der Irrealis ist jener Modus, der gedanklich immer ein aber mit sich führt: Ich wäre gern jung (aber ich bin es nicht). Die sinnliche Liebe, soll das alles heißen, ist vollkommen und einseitig, weil sie vollkommen einseitig ist.

Unterschieden werden müsste hier nämlich eine Vollkommenheit, die in der vollständigen Ausprägung einer bestimmten Seite liegt, von der Vollkommenheit, die im Miteinander aller dieser Seiten läge. Wir streifen jetzt merklich jene Vorstellungen, die Peter Hacks vornehmlich im Laufe der siebziger Jahre zum Begriff des Ideals entwickelt hat, und der zweite Teil der Strophe zeigt durch seine analoge Gedankenführung, dass die Erinnerung hieran gewollt ist. »Denn so durch ihren Zweck vereinzelt sind / Im Reich des Stoffes alle Köstlichkeiten, / Daß auch die Gegenteile Lust bereiten«, lauten die Verse. Man erinnert sogleich Lucias eröffnende Worte über die plurale Utopie des Kommunismus im »Numa«.[vi] Hier ist von Zwecken die Rede, das heißt, es geht nicht simpel um die Dinge, die da sind, die natürlichen. Menschliches Wollen, das Gesellschaftliche, ist von Anbeginn darin vorhanden. Die Geliebte als Artefakt? Na immerhin doch als ein Gegenstand, der Bedürfnisse befriedigt. Wertet das den Menschen, der in der Geliebten steckt, ab? Sicher, sie wird reduziert auf einen sexuellen Zweck, in dem selbst das simplest gestrickte Menschenwesen nie ganz aufgehen kann, aber vielleicht ist ja genau das, was sich frecherweise in der sinnlichen Liebe ereignet: die Reduktion des Anderen auf das, was wir uns von ihm versprechen. Dass darin eine Vereinseitigung liegt, gestehen die Verse ein. Das »Reich des Stoffes« meint hierbei einfach die Wirklichkeit und scheint analog dem Sinn aus der Eingangsszene von Hacksens »Adam und Eva« lesbar zu sein: Stoff ist das Material der Wirklichkeit, das sich der ganz und gar gerechten Umsetzung der Idee widersetzt.

Die »Köstlichkeiten« verweisen ihrerseits auf den subjektiven Anteil im Begriff des Ideals, worin ja nicht nur etwas weltbezogen Relevantes, sondern auch ein menschliches Wollen ausgedrückt ist. Das Ideal ist die Schnittstelle aus Formursache und Zweckursache.[vii] In der ganz und gar prosaischen Sprache der Politischen Ökonomie spricht man von Gebrauchswerten, die alten Griechen nannten es das Agathon, also das Gute. Das einzelne Gut ist in der Tat durch seinen Zweck vereinzelt; indem es ein bestimmtes Interesse bedient, kann es anderen Interessen nicht gerecht werden. In der Wirklichkeit (dem Reich des Stoffes) ist jeder Weg, jedes Gewicht, jede Eigenschaft zugleich die Negation anderer Eigenschaften, Gewichte, Wege, die ihrerseits einen Reiz besitzen. Ich kann nicht zugleich die Unschuld des ersten Mals und die erfahrene Liebe der tausend Koitus haben. Eines der beiden Bedürfnisse werde ich bei dem mich Liebenden notwendig enttäuschen müssen, und wenn ich beiden gerecht werden will, dann notwendig beide.

#3

Nachdem in der ersten Strophe der Graben zwischen idealer und sinnlicher Liebe gezogen und in der zweiten das Fehlen der idealen diesseits beklagt und begründet wurde, setzt der Dichter in der dritten Strophe über ins Reich der Möglichkeiten und betrachtet das Wunder jenseits seiner konkreten Gestalten. Wir sind außer der Wirklichkeit, jenseits von Zeit und Raum (»unbestimmt durch Wo und Wann«). Ganz im Sinne Platons, bei dem das Reich der Ideen keinen konkreten Raum und keine vergehende Zeit kennt. Hier nun im Reich der Ideen begegnen wir endlich ihr, der weißen Göttin, wie sich denken lässt, wenn man in der dritten Strophe den Titel noch erinnerlich hat, zumindest aber ihr, in der wir uns jenes Wesen vorzustellen haben, das das Wunder ist, das in der zweiten Strophe als nicht realisierbare Einheit aller Gegensätze des Weiblichen vorgestellt wurde. Wir erfahren hier noch nicht, wer sie ist und wie sie heißt, aber die Struktur, die uns angeboten wird, ist wiederum dieselbe: »Sie, die, nie ausgeschöpft, von keiner Art«, liest man zunächst, und da man gewohnheitsmäßig mit dem Versende auch das Ende der Sinneinheit setzt, neigt man dazu zu lesen, dass sie von keiner Art ausgeschöpft sei. Der folgende Vers ergibt aber das Enjambement »von keiner Art / Und aller« mit abtrennendem Komma vor dem »von«. Damit wird, da wir den Klang des ersten Lesens noch im Ohr haben, »von keiner Art« zum Scharnier zweier Konstruktionen: sie, die von keiner Art ausgeschöpft (wird), und sie, die nie Ausgeschöpfte, die von keiner Art und allen Arten (ist). Mit der Doppelnatur der idealen Liebe, gleichzeitig von allen Arten der Liebe erfüllt und nicht erreicht zu sein, wird die Tendenz der sinnlichen Liebe betont, der idealen gerecht zu werden, ohne dieses Ziel ganz erreichen zu können. Wir sehen denselben Prozess, einmal in seiner Gesamtbewegung und einmal in seinem einzelnen Moment, so wie sich die Ableitung einer Funktion an einem ihrer Punkte anders darstellt als am gesamten Graphen. Wir erfahren, dass die Lage verwickelt und widersprüchlich ist und dass das alles so seine Ordnung hat.

Sie also repräsentiert alle Richtungen, indem sie keiner angehört, und es folgt die überraschende Behauptung, dass es sie, die es nicht geben kann, einmal doch gegeben hat: »Von Delphis Nabel«, nämlich, bis »zu den Cordilleren / Gebot sie auf umdüsterten Altären.« Die Ortsangaben scheinen eine Bewegung nicht von einem Ende des Gebiets zum anderen, sondern vom Zentrum zum Rand hin auszusagen. »Delphis Nabel« ist wohl genauer als der Nabel, der Delphi selbst ist, zu verstehen, was mit der graeco-zentristischen Weltsicht Hacksens ebenso korrespondiert, wie es überhaupt das Auftauchen des Ausdrucks »Nabel« erklärt. Die Cordilleren meinen wahrscheinlich jene Gebirgskette, die von Nord- bis nach Südamerika reicht, wobei genauer zu beachten wäre, dass hier die von Robert Graves vertretenen Vorstellungen einer matriarchalischen Vorepoche eine Rolle spielen könnten. Dieser Verfasser eines Buchs namens »Die weiße Göttin« (1948) hatte wohl mit seinem etwas später geschriebenen Werk »Die griechische Mythologie« (1955) einigen Einfluss auf Hacks und dessen Vorstellung von den frühesten Epochen der Menschheit. Hier ist nicht der beste Ort, die in der Tat hochspekulativen und nicht erst seit jüngerer Zeit wissenschaftlich anfechtbaren Thesen von Graves zu untersuchen; entscheidend ist, dass Hacks – und noch sein Essay über die Ballade (1984) bezeugt das – der Vorstellung einer frühen matriarchalischen oder wenigstens matrilinearen Epoche angehangen hat.[viii] Es geht um jene alte Muttergottheit, die dreifaltig dem Mond- und Jahreszyklus folgt und die Graves für einen zwingenden Beweis eines vormals vorhandenen Mutterrechts hält.[ix] Auf die nun anspielend, sagt der Dichter unseres Gedichts: »Es gab sie einst, die es nicht geben kann.«

Dieser offenkundige Gegensatz fordert heraus. Eben noch legt der Dichter Wert darauf, dass es die ideale Frau nicht geben kann; er begründet das logisch und wiederholt das Urteil sogar im zweiten Teil des eben zitierten Verses, doch im ersten Teil sagt er dennoch, dass es sie einst gab. Wenn das nicht poetisch zu verstehen ist, also phantastisch, also im Sinne der ästhetischen »Kategorie des Unveränderlichen«, die sich generell schwer tut, zwischen Erinnerung und Vergangenheit sowie Zukunft und Hoffnung zu unterscheiden (vgl. HW XIII, 110f.), müsste man zur Erklärung vielleicht den Blick auf die »umdüsterten Altäre« legen. Die weisen auf den vorhandenen oder vermuteten Kult um die dreifaltige Gottheit hin. Schon soweit ließe sich ja sagen, dass im Sinn eines veranstalteten Kults eine solche Göttin, die es natürlich auch dann nicht wirklich geben kann, eine Art Existenz eben durch die Liturgie um sie herum führt. Dass die Altäre umdüstert sind, steht in auffälligem Gegensatz zur namensgebenden Eigenschaft der Göttin. Dunkel freilich ist das Umfeld schon dadurch, dass kaum Material überliefert ist, durch das man diese Epoche etwas erhellen könnte, wie man ja auch im Fall der schriftlosen Jahrhunderte zwischen Mykenischer und Homerischer Zeit von den Dark Ages spricht. Die Düsternis lässt sich aber noch genauer auf die Göttin und ihre Unmöglichkeit beziehen. Wo ein ganzes Umfeld, will ich damit sagen, dunkel ist, da reicht schon ein matterer Schimmer, damit ein Ding als weiß erscheint. In einem ins Dunkel getauchten Altertum ließ das Göttliche sich leichter vorstellen. Worin aber kann in diesem Zusammenhang die Dunkelheit bestehen? Das Gedicht will die weiße Göttin als Zusammenfall aller Besonderheiten verstehen, und der Zusammenfall ist nur dort möglich, wo die Besonderheiten aufhören, welche zu sein. Ist Individualität nicht eine Erfindung der Moderne? Wird nicht auch sexuelles Rollenverhalten in der Komplexität der Neuzeit sehr viel versierter und feingliedriger? Ist nicht dort, wo die Auflösung der einen Idee des Humanen in mehr und mehr Seiten, gewonnen durch komplexere und beweglichere Beziehungen der Menschen zueinander, noch nicht so weit fortgeschritten ist, auch die Idee der Frau überhaupt leichter zu denken und glaubhafter zu glauben? Nur in diesem Sinne, vermute ich, geht nachvollziehbar vorzustellen, dass es die Eine, die es nicht geben kann, einmal doch gegeben hat.

#4

In der vierten Strophe kehrt der Dichter ins Diesseitige zurück. Er spricht wieder über seine eigene Geschichte, und die eben noch historisierte Göttin, die darin verwoben ist, steht wieder in jener zeitlosen, idealen Gestalt auf dem Sockel, in der sie eingangs präsentiert wurde. Durch jede Frau hindurch, mit der der Dichter etwas hatte, hat er sie »immer angerührt« – nicht berührt. Auch hier wieder eine modeste Ausdrucksweise, die das Gewusste vom Erfahrenen trennen soll, der Versuchung nicht nachgeben will, die – um ein anderes Wort von Hacks zu gebrauchen – Landkarte mit der Landschaft zu verwechseln. Erneut muss der Dichter die Unerreichbarkeit dieser idealen Frau ausführen; es ist ja auch praktisch das einzige, was sich gesichert von ihr sagen lässt. Er kann sie selbst nicht packen, in den Griff bekommen, nicht auf den Begriff bringen. Ihre Vollkommenheit macht sie wesenlos; sie hat alle Vorzüge, also keinen. Jeder Versuch, sie anhand dessen zu beschreiben, was sie ausmacht, führt an dem vorbei, was sie ausmacht, weil jede Konkretion unter dem bleiben muss, was sie ist. Wie malt man ein Licht, das keinen Schatten wirft? Und folglich geht es, wo es nur um die Unerreichbarkeit des Ideals gehen kann, um die Unvollkommenheit des Vorhandenen. Die Göttin ist weiß, die vorhandenen Frauen sind von »weiß und mildem Schimmer«. (Ein weiteres Mal jene elliptische Konstruktion wie in »bunt und faßliche Gestalten«, die Nomen und Epitheton enger bindet.) Es ist derselbe Farbton, aber abgeschwächt, mild und bloß schimmernd. Der Abfall wird zudem äußerlich durch die Wortwahl der folgenden Zeile gestützt, wenn der Dichter die sinnliche Liebe in den unschönen Ausdrücken beschreibt, dass er sich mit diesem oder jenem »Weib … auf einen Haufen schmiß«.

Die eine ist in den vielen, und ist es nie wirklich, und das fühlt der Dichter: »Doch immer / War zwischen ihr und mir ein Hindernis.« Obwohl es, fährt er in einer sprachlich überaus effektvollen parallelen Satzkonstruktion fort, kein sexuelles Vergnügen gibt, das nicht durch sie zustande kommt, gibt es keines, in dem er nicht fühlt, dass sie selbst fehlt. Das bezeugt, will mir scheinen, ein verstörend profiliertes Verständnis von Liebe. Mochte man bislang den Eindruck haben, der Dichter entwerfe hier ein sentimentales Programm von Promiskuität, das sich ganz dem Moment verpflichtet, so sieht man jetzt, dass die Sache ziemlich verkopft bleibt. Nicht erst im Moment danach, auf dem Heimweg oder sonstwann später kehrt das Gefühl der Entbehrung, die Sehnsucht nach dem Anderen, dem, was die Frau, die man gerade liebte, nicht war und ist, zurück, sondern bereits im Moment der Liebe wird die Einseitigkeit der Sache gefühlt. Er kann die Eine nicht vergessen, ist unfähig, sich dieser hier ganz hinzugeben, der entzückenden Täuschung des Moments zu erliegen, diese hier sei in diesem Moment schon die eine. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mich macht das traurig. Doch unabhängig vom Bedauern, das man empfindet für einen Menschen, der nicht glücklich sein kann, deutet sich an, dass der Dichter gegenüber der monogamen Form der Liebe, die dauerhaft vom Vorhandenen auf das Vollkommene hochrechnet, und der promiskuitiven, die den Moment idealisiert und ganz von Moment zu Moment lebt, eine monogam-promiskuitive Form der Liebe ausstellt, die die Verschiedenheit der jeweiligen Momente sucht, aber permanent und selbst im Vollzug des Geschlechtsverkehrs noch mit einem bloß vorgestellten Ideal fremdgeht.

#5

Dass dieses Verhältnis zur Abwertung der tatsächlichen Sexualpartner führt und im Grunde, wie Hacks einmal selbst formulierte, auf Verachtung beruht[x], ist offenkundig. So hatte denn der Dichter schon in der ersten Strophe die einzelne Frau als »ein Kleineres« bezeichnet, und so erklärt sich auch der fast entschuldigende Ton, mit dem die fünfte Strophe jetzt anhebt. Das erste Mal spricht er nicht nur von den Frauen, die er hatte; er spricht sie, wenn auch weiter in der 3. Person Plural, an. Man könnte auch sagen: Selbst in der Entschuldigung gegenüber den Frauen distanziert er sich und meidet die direkte Ansprache in der 2. Person. Dieser Numerus bleibt, wo immer er in diesem Gedicht auftaucht, seinen Geschlechtsgenossen vorbehalten.

Wiederum greift er zu einem anschaulichen Bild, die weibliche Pluralität auszudrücken, diesmal aber nicht als Gegensatz von Weib und Kind, sondern ganz plastisch werden die »Dicken« und »Dünnen« geschieden. Es geht also nicht nur um Rollenverhalten, sondern auch ums ganz Äußerliche, in dem ja ebenfalls der Reiz der Abwechslung liegen kann. Die weiße Göttin, soll das heißen, hat keine Modelmaße; sie ist auch in dieser Hinsicht, der rein körperlichen, wesenlos. Der Dichter bittet nun alle die Frauen unterschiedlicher Figur, ihm nichts übelzunehmen. Er kann nur immer die loben oder die, nicht beide zugleich. Er will sie aber alle loben, bei Gelegenheit. Und die vorausgesetzte Abwertung im Hinterkopf beschwichtigt er sie durch eine Geste der Unterwerfung: »Ich bin ihr Diener«. Nur eben je zu unterschiedlichen Zeiten und niemals, wie Strophe 4 bereits mitteilte, ganz. Diese Geste ist die Kehrseite der Abwertung, wo diese selbst nicht aufgehoben ist oder vermieden werden kann. Den Frauen, die bloß fallweise in Frage kommen, die gegenüber der Einen als »ein Kleineres« bezeichnet, also expressis verbis abgewertet wurden, kann kaum mehr zugemutet werden, sich ganz in diese Rolle zu fügen. Die Zumutung wird ihnen schmackhaft gemacht durch die Unterwerfungsgeste, nach der sie sich im asymmetrischen Verhältnis auf eine vermittelte Weise dennoch dominant fühlen können.[xi]

Mehr als das, meint er, kann er ihnen nicht geben. »Wer sich hier fester legt, ist hier Verlierer.« Das Kompositum festlegen wird in einer Tmesis vorgestellt, die einen Komparativ möglich macht. Damit kehrt das Wort zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurück. Im Sprachgebrauch hören wir ja bei festlegen nichts Plastisches mehr; wir denken an den Akt, dass jemand verbindlich eine ganz bestimmte Entscheidung trifft, sich eben auf etwas festlegt. Durch die Tmesis wird an den sprachlichen Ursprung erinnert: fest liegen. Man hat sogleich das Bild eines fest liegenden Mannes vor Augen, eines an ein bestimmtes Bett Gefesselten. Und es fragt sich wohl, wie einer fester als fest liegen soll. Man liegt durch die Entscheidung des Moments, eben bei ihr und nicht bei einer anderen zu liegen, bereits fest. Fester liegen ergibt keinen Sinn außer einem unangenehmen. Die sinnliche Liebe, die des Moments, wird dadurch nicht intensiver, nur ihre Folgen werden langatmig. Sie wird gedehnt über den Moment hinaus, in dem sie sinnvoll ist. Aus dem Genuss würde ein Zusammenleben, daraus Gewohnheit und Langeweile, und daraus endlich die Zerstörung weiterer sinnlicher Momente. In diesem Sinne scheint das doppelte »hier« gemeint zu sein, dass nämlich, wer den sinnlichen Moment über ihn hinaus dehnen will, nicht irgendwo Verluste erleidet, sondern genau im sinnlichen Moment.

#6

Die sechste Strophe richtet den Blick wieder auf die Vergangenheit. Die Auskünfte des Dichters werden durch das Imperfekt zugleich persönlicher und distanzierter. In der eigenen Historisierung ist der Sprecher weniger involviert und bedarf damit weniger der Rechtfertigung, kann offener zu seinem Treiben stehen. Er gesteht Leidenschaft im Handeln wie im Denken ein. Und man kann sich aussuchen, ob die Liebe einfach im Handeln aufgeht und ins Verhältnis zur Erkenntnistätigkeit gesetzt ist (was in der folgenden Strophe explizit geschieht), oder ob die Relation Tun – Gedanken hier wiederum für das Verhältnis von sinnlicher und platonischer Liebe steht (wie es der Fortgang dieser Strophe nahelegt).

»In Daunen lag ich und in Röhrichten«, heißt es gleich in der nächsten Zeile. Im Bett also oder im Schilf, in Kultur oder Natur, kann man lieben. Diese beiden Möglichkeiten parallel zu halten, nennt der Dichter die »Art der Franken«, worunter man sich die Franzosen und unter denen nächstliegenderweise die Gepflogenheiten der Troubadoure vorzustellen hat. Der Dichter erklärt, was er meint. Es geht um den Wechsel der »klugen Liebe und der törichten«, der dem Wechsel zwischen höfischer und vulgärer Behandlung der Liebe in der Troubadourlyrik augenfällig entspricht. Des ältesten Troubadours erstes Poem, ich spreche von Guillaume von Aquitaniens »Brüder, ein gar schicklich Lied …«[xii], arbeitet sich genau am Gegensatz der impulsiven und maßvollen Liebe ab. Zwei Pferde habe er, eines wild, das andere edel, Agnes und Arsen, beide liebe er, aber sie können einander nicht ausstehen. Dieses Verhältnis um die Repulsion der Attraktionen zueinander nimmt sich wie der Einfall aus, der auch der »Weißen Göttin« zugrunde liegt.

In dieser Strophe, etwa in der Mitte des Gedichts also, schließt der Dichter den persönlichen Teil ab, der schon von verallgemeinernden Überlegungen begleitet, aber doch im Gestus eines Lebensberichts und Geständnisses gehalten war. Der zweite Teil des Gedichtes wird ziemlich in der philosophischen Sphäre bleiben, die Durchsprechebene immer höher schrauben und erst zum Ende hin im Persönlich-Ausblickenden einen Abschluss finden. Es ist bezeichnend, dass diese Stelle hier, der Übergang zum blank Allgemeinen, durch das Signalwort der »weiße[n] Göttin« markiert ist. In dieser Strophe letzter Zeile wird das erste Mal ausgeschrieben, was sich natürlich gleich vermuten ließ: dass es sich bei der Einen, von der die Rede ist, um die im Titel angekündigte weiße Göttin handelt. Aber jetzt, sechs Strophen älter, wissen wir mehr über ihre Gestalt als durch die bloße Erwähnung im Titel. Der hatte uns zunächst eng an Robert Graves gebracht, mit dessen esoterischem Geraune der Dichter unserer Verse allerdings wenig zu schaffen hat. Wir erfahren nichts von Mond- und Jahreszyklen, von Dreifaltigkeit, Nymphen oder Opferritualen. Allenfalls spielerisch wird ein Bezug zu einer umdüsterten Vorzeit hergestellt, aus der der Dichter aber nichts Spezifisches ableitet. Die weiße Göttin (Hacks) und die weiße Göttin (Graves), darf man in des Poems schöner Mitte festhalten, sind sehr verschieden. Beide Dichter benutzen dasselbe Sujet, doch was sie intendieren, geht weit auseinander. Graves will die Installierung eines magischen, wahrhaft poetischen und das heißt bei ihm ausdrücklich: nicht-rationalen, nicht-intelligiblen, nicht-klassischen Denkens. Er will hinter die Zivilisation zurück, will den wahren Gehalt der Urpoesie (oder auch nur dessen, was er dafür hält), will die kultische Opferhandlung, das unvermittelte Elend der Steinzeit, wiedergewinnen. Er will, mit einem Wort, die Auflösung der Komplexität und Entfremdung. Hacks will dagegen die Aufhebung der modernen Pluralität im Ideal, die Vermittlung der zahlreichen Reize und Rollen, die Einheit des Komplexen. Er will erhalten, wohinter Graves zurückwill, will das Klassische, worin Handeln und Denken, Sinnlichkeit und Reflexion, Moment und Ewigkeit, Linie und Ton, Vernunft und Gefühl zusammengebracht sind. Graves will das Eine als Reduktion, Hacks als Einheit des Mannigfaltigen. Beide liegen damit, auch wenn sie an der weißen Göttin jeweils ihre Freude haben, so weit auseinander, wie es irgend geht. Sie machen den Unterschied zwischen romantischer und klassischer Deutung ein und derselben mythischen Gestalten.

#7

Die siebte Strophe ist eine geeignete Gelegenheit, an ein bisher noch nicht angesprochenes, dem Gedicht aber vorausgesetztes Rollenverhältnis zu denken. Die Rollen, die wir bis jetzt hatten, waren allein die von Frauen. Die Rolle des Sprechenden indes, abhängig von seinem Geschlecht und seiner Neigung, eröffnet ebenfalls ein Verhältnis, das für das Gedicht von Bedeutung ist. Wer hier spricht, ist erstens ein Mann und zweitens ein heterosexueller Mann. Die bereitwillige Annahme und selbst nicht beleuchtete Voraussetzung dieser Rolle besorgt eine gewisse Statik im geschlechtlichen Verhalten, also die Möglichkeit zwar, dass Frauen in verschiedenen Launen verschiedene Rollen einnehmen können, dass aber – merkwürdig für den Autor der »Omphale«, merkwürdig auch für den von »Meta Morfoß«, worin die Verkehrung der Geschlechtsverhältnisse durchgespielt bzw. deren Begrenztheit veranschaulicht wird – Mann und Frau ein eher festes und bipolares Verhältnis besitzen.

Der Dichter der »Weißen Göttin« macht das in der siebten Strophe zum Thema, indem er die Analogie Welt–Weib–Bett behauptet. Die führt nämlich zu der Frage, ob sich in dieser Gleichung die Frau auch durch einen Mann ersetzen ließe, ob, mit anderen Worten, die Redeweise Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt oder gattungsbedingt daher rührt, dass hier ein Mann spricht und die Lyrik nicht der Ort ist für Perspektiven über die Diktion des Sprechenden hinaus. Obgleich kein logischer Grund erkennbar ist, aus dem der Mann nicht auch der Frau sein könnte, was die Frau hier dem Manne sein soll – die Thermodynamik schließlich kennt in Geschlechterfragen keine Parteien –, bleibt die Formulierung selbst doch unbeholfen oder beschränkend. »Sie alle«, heißt es ganz kategorisch auf die Frauen bezogen, »wärmen keinem Mann den Leib, / Der sie nicht vorher erst erwärmet hätte.«[xiii] Es ist der Mann, der die Frauen aufwärmt, die Frau vermag das mit dem Mann nicht. Anders wäre ja möglich, was hier abgestritten wird: dass auch eine Frau einem Mann den Leib wärmen könnte. So scheint vorerst, vertraut man der genauen Formulierung, als berührten sich hier, wenig sympathisch und allen sonstigen Differenzen zum Trotz, die Vorstellungen von Hacks und Graves in der Formel des letzteren: man does, woman is.[xiv] Dass diese Zuschreibung auf den Bevölkerungsschnitt gerechnet auch heute noch im geschlechtlichen Rollenverhalten und den darin beförderten ideologischen Implikationen eine gewisse Entsprechung hat, mag die Sache nur halb entschuldigen. Im Beieinander aus direkter Diktion und Mimesis lernen Mädchen, dass sie zu gefallen haben, während Jungs bemerken, dass sie nur sind, indem sie sich durch Taten beweisen. Diese geschlechtliche Sozialisation ist desto schwerer einzudämmen, je weniger bewusst und ferner von Bildung und Reflexion sie passiert. Doch ist es Durchschnittlichkeit, was Lyrik, die persönlichste Gattung, am besten abbildet? »Poesie schreibt«, schreibt Hacks selbst, »nicht ab, sondern vor« (HW XV, 304). Wer ein solches Bild in einem Gedicht, jenseits von Rollenprosa, aufnimmt, macht es sich zueigen.

Betrachten wir die Welt-Weib-Bett-Analogie genau. »Wie ist die Welt? Die Welt ist wie ein Weib. / Wie ist ein Weib? Ein Weib ist wie ein Bette.« Zwei Fragen, zwei Antworten, jeweils durch Versende und deutliche Zäsuren voneinander getrennt, dabei kurz und schwungvoll, mit ähnlichen metrischen Werten (die beiden Fragen: – ᵕ ᵕ –, die Antworten: ᵕ – ᵕ – ᵕ – [ᵕ]). Der Schwung, der mittels durchweg einsilbiger Wörter erzeugt wird – erst das letzte des zweiten Verses (»Bette«) hat wieder zwei Silben –, lullt den Leser fast ein, die Antworten kommen so gut, so passend, so klangvoll, dass man dem Dichter sogleich zu glauben geneigt ist. Und es klingt ja zunächst auch sinnvoll: Wärme in einem Bett entsteht erst dadurch, dass ein menschlicher Körper in es steigt. Das Bett behindert die freie Angleichung der beiden thermodynamischen Systeme Haut und umgebende Luft. Decke, Kissen und Matratze sorgen, dass nicht zu viel Wärme abgegeben wird; sie wirken wie eine zweite Haut, die die Wärme besser speichert. Wer dieses Verhältnis mit dem zwischen zwei Körpern vergleicht, kann das aber nur, wenn er den einen von beiden Körpern als bloß passiv, leblos, schlicht als Dämmmaterial versteht. Ein zweiseitiges Verhältnis würde damit als einseitiges gefasst. Die Analogie ist also schief oder chauvinistisch, Sie haben die Wahl. Gleichwohl liegt darin das Zutreffende, dass das Empfinden von Wärme zwischen Körpern nur dann entstehen kann, wenn die Körper auch Wärme miteinbringen. Wir nehmen, wenn Haut auf Haut liegt, wahr, dass wir gewärmt werden, es ist aber jeweils unsere eigene Temperatur, durch die dieses Gefühl erst möglich wird. Soweit immerhin stimmt es.

Nun will der Dichter aber offenbar auf mehr hinaus. Wie verschiedentlich schon angedeutet, konstruiert er auch hier ein Gleichmaß zwischen Liebe und Erkenntnis. Sonst hätte ja ausgereicht, die Frau mit einem Bett zu vergleichen. Es ist aber, heißt es, mit der ganzen Welt nicht anders. Was man in sie (die Liebe oder die Welt) nicht einbringt, erhält man aus ihr auch nicht. Darin klingt zugleich das spekulative Erkenntnisprogramm an, das Hegel Idealismus nennt und in dessen Kern es darum geht, dass Erkennen die Welt in Gedanken erfassen, Weltstruktur als ideelle Struktur darstellen bedeutet, aus dem simplen Grund, dass dem Denken eine andere als ideelle Struktur nicht zur Verfügung steht. Das Subjekt erhält also im Erkennen etwas von der Welt nur deswegen, weil es zuvor etwas Eigenes in das Verhältnis eingebracht hat.

Ganz so wie der Körper, der sich liebend einem anderen nähert (und man darf die körperliche Wärme gewiss auch übertragen als seelische verstehen): »Der Kalte lebt, liebt, liegt im Kalten eben / Was er nicht hat, das wird ihm nicht gegeben.« Liebe kostet immer, und der Zusammenhang mit dem Komplex Welt/Erkenntnis zeigt sich in der auffälligen Figur »lebt, liebt, liegt«, die – Aufeinandertreffen dreier Hebungen (– – –) einerseits, Alliteration und reduzierende Klimax (Existenz – Liebe – Sex) anderseits – in drei Schritten vom Dasein auf das Bett kommt, indem lebt–liebt–liegt einfach die verbale Entsprechung zur nominalen Reihe Welt–Weib–Bett ist. Der zunächst größere Sprung im Übergang von der sechsten zur siebten Strophe erhält hier, gegen Ende der siebten Strophe, einen kleineren Bypass. Wo nun vom Kalten die Rede ist, der im Kalten liegenbleiben müsse, stand am Beginn der vorausgegangenen Strophe: »Ich glühte gern«. Die siebte Strophe liefert die philosophische Begründung für die Richtigkeit der zuvor beschrieben persönlichen Neigungen.

#8

Einmal so weit ins Ontologisch-Epistemologische vorgestoßen, geht der Dichter in der achten Strophe zur Verteidigung seiner Analogie über. In jedem Fall hält er an ihr fest: »Die Liebe wie das Dasein überhaupt / Verdienen, daß man an sie glaubt.« Der zweite Vers zählt nur 8 Silben, was sofort unangenehm ins Ohr geht. Der Eindruck eines Druckabfalls entsteht. Vielleicht der Gedanke: Wirklich, es ist so einfach. »Man kann sie sicher widerlegen. / Man kann sich sicher auch den Kopf absägen.« Der dritte Vers reagiert mit 9 Silben; erst der vierte, die pointierte Antwort, bringt das Gedicht in seinen gewohnten Gang, d.h. auf seine erwarteten fünf Versfüße zurück. Angesprochen wird hier eine Haltung, die sich gegen allzu leichtfertig, sich schlauer als schlau dünkenden Skeptizismus richtet, der die Erkennbarkeit der Welt und den Wert der Liebe leugnet. Man mag an die antiken Skeptiker ebenso denken wie an Gorgias und Protagoras, an Berkeley, die Kantischen Antinomien, an Schopenhauer oder an einige Spielarten der Postmoderne, worin gesellschaftliche und menschliche Verhältnisse vollends in diffuse Diskursstrukturen aufgelöst werden. Und man darf inbetreff der Liebe denken an allerlei mehr oder weniger gut begründete Auffassungen, die in ihr bloß chemische Prozesse am Werk sehen oder ideologische Projektionen oder Reproduktionen von Unterdrückungsverhältnissen. All das, sagt der Dichter, lässt sich wohl, hier besser, da schlechter, begründen, allein: wozu? Was hat man davon, Dasein und Liebe – die doch trotzdem da und ihrer Negation jedenfalls vorzuziehen sind – begrifflich aufzulösen? Er wehrt also nicht die Logik ab (»Man kann sie sicher widerlegen«), sondern fordert eine Differenz zwischen Erkenntnis und Erkenntnishaltung, d.h. eine bewusstes Beschränken zugunsten des Gegenstandes, was in der das Subjekt und seine Wahlmöglichkeit unmittelbar ansprechenden Phrase »Es liegt bei dir« auf den Höhepunkt getrieben ist, metrisch zudem verstärkt durch die Zäsur nach ihrem Ende, erzwungen durch das Aufeinanderprallen zweier Hebungen (»dir. Dies«).

#9

»Und dennoch«, setzt sich der Beginn der neunten Strophe dieser Aufforderung entgegen, »die reinste Neigung endet«. Glauben soll man, aber nicht unbewusst. Man soll lieben, aber nicht ausschließlich. Wo die Neigung rein und ausschließlich waltet, zerstört sie sich selbst. Sie endet nämlich in »Überwürfnis oder unansehnlich«, »todgleich oder eheähnlich«. Sie geht entweder ganz zugrunde, oder zerfällt in einem Zustand der Routine, den der Dichter dem der Ehe vergleicht. Ehe ist der Versuch, Liebe zu organisieren, ihr eine äußere Form zu geben. Beides, der vollkommene Bruch oder das Auslaufen in Routine und Äußerlichkeit, ist für den Dichter das Ende der Liebe. Und die Wurzel dieses Endes liegt für ihn darin, dass man nur einer Frau sich zuwendet, nur eine libidinöse Bindung pflegt. Über diese sexuelle Bedeutung hinaus lässt sich das so behauptete Verhältnis auch – und das Gedicht selbst stellt ja ausdrücklich eine Analogie der Liebe zu den Weltdingen her – als Inbegriff eines politischen Verständnisses lesen. Der Dichter, der andernorts darauf Wert legte, zwischen den Stühlen zu sitzen (HW I, 219), dessen ganzes politisches Programm – erfassbar in Begriffen des Staats, Absolutismus, Sozialismus, der Eitelkeit des reinen Ideals u.a. – in politischer Vermittlung partikularer Interessen bestand, der den Kommunismus noch als Beieinander sich ausschließender Eigenschaften und daher nur in Näherung erreichbar verstanden hat[xv], dieser Dichter jedenfalls behauptet hier, dass reine Neigungen sich in ihrer Ausführung selbst negieren. Sie enden entweder in der Katastrophe (z.B. der Abkehr des trotzigen Utopisten von der Utopie überhaupt aufgrund seiner Reibungen mit der platt-politischen Wirklichkeit) oder in der Tristesse des anspruchslosen Apparats (worin, um auch hier ein Beispiel aus Hacksens Anschauungsbereich zu nehmen, ein enthusiastischer Kommunist hinterm Schreibtisch des APO-Sekretär allgemach abstirbt). Und in einem noch allgemeiner weltlichen Sinn ließe sich das Verhältnis verstehen als Forderung nach den verschiedenen Wegen und Perspektiven im Erkennen. Es gibt keine Theorie, die allein genügt. »Jede Methode bleibt einseitig« (HW XIII, 121), hatte Hacks einmal geschrieben. Jede Perspektive hat ihre blinden Flecken.

Natürlich kann ein solches Programm der Promiskuität, wir hatten das, nicht ohne Abwertung des Objekts der Libido auskommen. Während im Politischen oder Weltlichen bloß die Stutzung einer rigorosen Idee passiert, hängt allerdings in Liebesdingen am Abgewerteten immer eine ganze Person, die ihrerseits Bedürfnisse hat. Ideen haben keine Persönlichkeitsrechte; sie sind so abstrakt, wie man sie fasst. Menschen sind unabhängig von dem, was sie für andere sind. Man kann sie verletzten und missachten. Genau das geschieht, wenn der Dichter dem imaginierten Gleichgesinnten (und Geschlechtsgenossen) Trost zuspricht: »Verstehe denn beim Auseinanderweichen: / Sie alle sind ja Teile nur und Zeichen.« So teilnahmslos und so bezeichnend redet er über Trennung und Schlussmachen, davon, der Anderen womöglich das Herz zu brechen, und sicher auch gegen die eigene Sentimentalität an, die Neigung, sich am Ende doch mehr auf die Geliebte einzulassen. Sie alle, die Frauen, sind bloß entweder – ontologisch – Teile eines Größeren oder – epistemologisch-semiotisch – Hinweise auf Bedeutsameres. Bindungsangst auf philosophisch. Sie sind vielleicht nicht ganz austauschbar, aber auch nicht unersetzlich. Sie haben ihren Zweck nur in Bezug auf den höheren Zusammenhang, dem sie selbst nie ganz gerecht werden können. Es geht also, auch das wird hier noch einmal deutlich, nicht um die Auflösung der Elemente im Pluralen, sondern um deren Anordnung zu einer höheren Einheit. Die hier vertretene Promiskuität unterscheidet sich, auch das hatten wir, nicht nur von der monogamen Sexualbeziehung, sondern auch von der spontanen Promiskuität, die es tatsächlich einfach nimmt, wie es kommt, und nicht mehr als bloß die Abwechslung sucht. Der Dichter, während er seinen Spaß hat, ist auf der Suche. Sein Gedicht heißt auch deswegen nicht einfach bloß »Die weiße Göttin«.

#10

Die vorletzte Strophe bringt die Rückkehr von der ganz philosophischen Höhe auf die biographischen Vorgänge. Der Dichter gestattet sich, nach den Teilen und Zeichen auf sich selbst zurückzukommen. Er hatte ja schon am Anfang geschrieben, dass er die Sache mit den Frauen nicht nur gefühlt, sondern auch durchschaut habe. Der Weg des Durchschauens war dann die unmittelbare Erfahrung. Die wurde am Anfang zwar desavouiert, weil es unmöglich sei, das Wunder, die weiße Göttin, selbst zu erleben, aber Erfahrung mit der Vielzahl von Frauen bringt ihn letztlich zum Gewinn der Einen als Idee. Zeichen bedeuten eine Sache, aber sie sind sie nicht. Ein und dasselbe Ding kann verschiedene Zeichen haben – denken wir doch an Freges Abend- und Morgenstern –, verschiedene Orte, von denen aus auf es verwiesen wird. Wenn man, das scheint der Gedanke der 10. Strophe, einen dunklen Ort von möglichst vielen Blickwinkeln aus beleuchtet, wird er immer heller. Dann kann man ihn kennen, ohne ihn selbst betreten zu haben. Dann wird »aus den manchen« – doch wohlgemerkt nur »fast« – »die eine«. Und diese Eine entsteht im Nachgang, allmählich, in Summe der langjährigen Erlebnisse, als blankes Kopfprodukt. Sie, die praktische Monogamie verbietet, fordert im Reich des Denkens monogame Liebe ein. Die Liebe der Einen widerspricht der einen Liebe.

#11

Die letzte Strophe widmet sich noch einmal der Paradoxie des Verhältnisses von Einheit und Vielheit bzw. Erscheinung und Wesen. Das Wesentliche lässt sich ja schwerlich aus einem Phänomen gewinnen. Auch zur Familienähnlichkeit gehören mindestens einmal zwei. Erst wo Pluralität gegeben ist, lässt sich verallgemeinern. Mit diesem Verhältnis spielt der Dichter gleich auch sprachlich: »Und voll vom Abdruck, fröhlich vom Geruche, / Der sich in mir, der Frauen, überdeckte«. Hört man den Satz bloß, ohne seine Interpunktion mitzulesen, neigt man dazu, »der Frauen« für einen falschen Kasus zu halten. Das Verb überdecken forderte hier den Dativ. Doch »der Frauen« ist durch ein Komma abgetrennt, also augenscheinlich nicht Teil der Fügung »sich in mir … überdeckte«. Die einzige andere Erklärung ist, dass »der Frauen« in Abhängigkeit zu »Geruche« steht. Es handelt sich also um den Geruch der Frauen, der sich in ihm, dem Dichter, überdeckt. Die Konstruktion ist ein stärker als gewöhnliches Enjambement, das das fehlende Element des Verses nicht am Anfang des folgenden, sondern erst in dessen Mitte nachreicht. Kann aber ein Geruch sich überdecken? Der Singular ergibt vorderhand keinen Sinn, ist jedoch erklärbar im Zusammenhang dieses Gedichts. So wie aus den vielen Frauen fast die Eine wurde, so überdecken sich die Gerüche der Frauen im Dichter zu einem einzigen. Die Diktion spielt hier mit dem Gedankengang. Im Sprechtempo äußert sich die Form, in der gewöhnlich gedacht wird. Der Geruch ist im Dafürhalten des Sprechenden schon ein einziger. Das Enjambement liefert den Plural nach, so als ob der Sprechende sich erst wieder daran erinnern muss, dass es ja eigentlich viele Gerüche, viele Frauen sind.

Auf ähnliche, bloß vordergründige Weise widersprüchlich ist der erste Teil des ersten Verses. Wie kann man »voll vom Abdruck« sein? Ein Abdruck ist was Äußerliches, Angefülltsein dagegen innerlich. Die Formel drückt offenbar jene Langzeitwirkung aus, die im Gedicht beschrieben ist. Die Vielfalt der konkreten Erfahrungen macht den Abdruck, und die Einbildung der Einen macht jene dauerhafte Gestalt, die ihn, den Dichter, allmählich an- und ausfüllt. Aus Verhalten wird Haltung. So kann sie, die in den Dingen »rätseltief Versteckte«, im Innern dessen, der liebt, allmählich heranwachsen, womit er sich an ihr im Denken ein ideales Eben- und Gegenbild seiner Liebe baut.

Auf die Art, sagt der Dichter, »erfuhr ich sie«. Die nicht erfahren werden kann, wird in der Erfahrung des Denkens schließlich doch erfahren. Anders ließe sich kaum auf den letzten Vers kommen, auf die Behauptung, dass er, der Dichter, sie nie getroffen und dennoch gut gekannt habe. Deshalb kann die im Titel angekündigte Suche im vorletzten Vers des Gedichtes als erfolgreich vermeldet werden: »Erklär ich heute schon, daß ich sie fand«. Im »heute schon« wird ein Vorgriff getan. Das lyrische Subjekt bekundet in der Gegenwart, dass die Suche in der Vergangenheit erfolgreich gewesen ist, aber zugleich deutet es (durch das »heute schon«) an, dass diese Erklärung für die Gegenwart eigentlich zu früh kommt, wodurch der gesamte Satz in einen Prospektiv getaucht ist. Aber der Prospektiv wird geraunt. »Erklär ich heute schon« bedeutet so viel wie: Eigentlich ist mir klar, dass ich solche Gewissheiten nicht verbreiten kann (man erinnere sich an das ähnliche Eingeständnis im ersten Vers der ersten Strophe), aber ich wage es trotzdem, schon jetzt zu sagen, was ich eigentlich erst später sagen dürfte. Mitschwingt hier die Überzeugung, dass die Ausbildung des Ideals im Denken zur Prognose berechtigt. Aber die Prognose ist nicht auf einen späteren Zeitpunkt bezogen, sondern auf einen Punkt außer der Zeit. Sie bezieht sich zunächst auf den inneren Zustand des Dichters, auf das Reich des Idealen, das allein auf der Subjektseite entstehen kann, und die Verwendung des Imperfekts im zweiten Teil des anzitierten Satzes (»daß ich sie fand«) schafft dann Vergangenheit, so als blicke der Dichter schon jetzt auf einen Zustand jenseits seines Lebens, von dem aus sein Leben wie Vergangenheit behandelt werden kann. Er erklärt nicht, dass er sie gefunden hat, er erklärt, dass er sie fand. In beiden Fällen – der Ewigkeit des Nachlebens und der zeitlosen Abstraktion des Gedanklichen – ist die Welt der Erscheinungen mit ihren Unvollkommenheiten und bloß zeitbedingten Einzelheiten verlassen. Und von beiden Fällen distanziert sich der Sprecher, im Fall des Ideals durch den Prospektiv, im Fall des Todes durch die Vergangenheitsform. Eine Absage an einen naiven Begriff von Utopie, in dem die Realisierung des Ideals bloß eine Frage der Zeit ist, kann in dieser Entscheidung durchaus vermutet werden. So, und nur so, vermag der letzte Vers – »Ich traf sie nicht. Ich hab sie gut gekannt«, und auch hier evoziert die Tempusform einen Eindruck von Transzendenz – den Bogen des gesamten Gedichtes zu schließen, insofern er den im ersten Vers angezeigten Mangel – »Ich weiß sehr wohl: ich hab es nie erfahren« – auf hintergründige Weise noch behebt.

***

Und was nun soll das alles? Was hat der Mann auf dem Herzen? Entworfen wird ein Programm der Promiskuität, von der schon festgestellt wurde, dass sie ihren Zweck nicht ausschließlich in sich (also im puren Vergnügen) trägt, sondern einer Suche dient. Die Verschiedenheit der Geliebten soll ein Idol im Innern des Liebenden erzeugen. Jene weiße Göttin. Das setzt voraus oder hat zur Folge ein ganz bestimmtes Verständnis von Liebe; es geht eher um Libido denn um Liebe, das heißt, um Sexualität und ihren Abdruck im Gedanklichen, um Implikationen des geschlechtlichen Verhaltens selbst. Das so modellierte Empfinden reduziert die Geliebten auf eine bestimmte Funktion, eine fass- und bemerkbare Seite, und lässt sich über diese hinaus nicht auf die Person ein. Die augenfälligen Funktionen an den Frauen weisen auf das gesuchte Idol. Die Frau als Verkehrsschild sozusagen. Den Dank, der Herrn Hacks für dies Kompliment von seiten der heutigen Frauen zuteil werden dürfte, möchte ich nicht um alles in der Welt einheimsen. Das Aufregende der Promiskuität allerdings wird trotzdem herausgehoben und emphatisch vertreten. Monogamie dagegen kann in dieser Weltsicht nie anders denn langweilig und todgleich sein.

Um das wenigste zu sagen, folgt das, was im Gedicht Liebe genannt wird, einem ganz bestimmten Muster, gegen das sich mit gleichem Recht ein anderes setzen ließe, das die in die Liebe involvierten Personen enger bindet. Liebe, wäre es konzis zu fassen, beruht auf Verwechslung. Sie ist der Ort, wo keine Gründe zählen, weder dafür noch dagegen, wo, dass man liebt, schon Grunds genug ist, wo man im Einen die ganze Welt erblickt und überall in der Welt das Eine, wo sich nichts rührt, nichts kümmert, nichts erhalten werden muss, wo eins und eins schon nicht mehr zwei ist. Diese Art, sich gegenseitig ineinander zu versenken, kennt im Vollzug des Gefühls keine Rücksicht gegenüber einem Andern, das außerhalb dieses Verhältnisses steht. Es gibt asymmetrische Formen der Liebe, etwa bei Eltern zu ihren Kindern (die rollenbedingt die Liebe auf andere, aber doch nicht weniger intensive Weise erwidern), oder bei Menschen zu ihren Haustieren oder, im Sinne von Shaws »Pygmalion«, beim Künstler zu seinem Werk (wo die Liebe gänzlich aufhört, ein zweistelliges Prädikat zu sein). Auch die Liebe zu einer Frau, die nur als Teil eines Größeren gesehen wird, die nicht als Mensch, sondern Typus geliebt wird, ist letztlich asymmetrisch. Nicht der Umstand, dass einer mehrere Menschen liebt, verhindert die Tiefe der Liebe (das macht es nur schwerer), sondern erst das Vorhaben, jene uneindeutigen Gefühle in ein Maßsystem zu setzen, das einem transzendenten Zweck dient. Es ist wohl denk- und erst recht erfahrbar, dass ein Mensch in unbändiger Liebe zwischen zwei Menschen hin und hergerissen sein kann, ohne seinen Gefühlshaushalt in besagter Weise zu ordnen. Diese Ordnung, die im Gedicht vorgestellt wird, schnürt sich wie ein Korsett um die Leidenschaft. Sie behält dem Mann – denn der Dichter ist einer – die Möglichkeit vor, sich gegen die Geliebten erhaben zu machen, geistig und im Sinne der Verfügbarkeit über ihnen zu stehen. Er kann sich, dergestalt mit der Verwaltung seiner Gefühle beschäftigt, den Gefühlen nicht in dem Maße hingegeben. Versenken nämlich bedeutet Vergessen. Das freiwillige Sichtäuschenlassen vom Andern, worin dennoch ein geistiger Anteil steckt. Die Form, in der die Liebe ganz bei sich ist, ist die symmetrische, also ein nicht freiwilliges Verhältnis freier Menschen zueinander, und in diesem spielt die Idee immer eine Rolle. Dass die Verwechslung in ihr unvermeidlich ist, hat gerade mit diesem idealen Anteil zu tun. Der Akt beruht ja auf zwei gegenläufigen psychologischen Mechanismen. Zum einen dem Hochrechnen einer konkreten Person zu einer idealen; wir machen uns ein Bild der geliebten Person, das immer glatter und größer ist als die Person selbst. Zum anderen entzündet sich Liebe in ihren besonderen Momenten gerade an den Unvollkommenheiten der geliebten Person. Wir lieben die, die wir lieben, gar nicht so sehr für ihre Vorzüge, sondern vielmehr eine abstrakte Idee von ihnen, die keine Details kennt, aber damit die Liebe besonders und zum Vergnügen werden kann, haken wir uns in die kleinen Fehler, Marotten und Schwächen des Anderen ein. Das entbindet uns davon, den, den wir liebend in den Himmel heben, anbeten zu müssen. Lieben also heißt, wie Hacks schon früh festgestellt hat[xvi], gemeinsam schwach sein und, wie man hinzufügen sollte, daraus zur Stärke zu kommen. Die Schwäche nach innen ist die Voraussetzung der Stärke nach außen. Aber dieser Vorgang, wie gesagt, ist nur die eine Seite der Liebe, deren andere Hacks in diesem Gedicht ausspart, obgleich es den Anspruch erhebt, die »Liebe überhaupt« zu behandeln und »tief … zu durchschauen«. Beide erwähnten Vorgänge nun – das Hochrechnen aufs Ideal und das Festhaken in Schwächen –, die ohne einander nie zur Liebe führen könnten, scheinen in der Tat auf Verwechslungen zu beruhen, nämlich derjenigen Person, die wir tatsächlich lieben, mit der tatsächlichen Person, die wir lieben. So wie es auch in der Philosophie immer schwer bleibt zu wissen, was gemeint ist, wenn vom Gegenstand gesprochen wird: das Objekt, dem Erkanntsein zuteil werden soll, oder das Objekt der Erkenntnis, wie es im Erkennen erst entsteht. Soweit meine Skizze der Sache, und wenn ich jetzt noch wen hätte, der sie mir in wohlklingende Endecasillabi brächte, könnte ich mich ebenso glücklich wähnen wie der Verfasser der vorliegenden Verse.

Ich will nicht so weit gehen, dieses Muster als komplementär zu jenem in der »Weißen Göttin« hinzustellen – dass ein drittes, viertes oder noch weitere daneben denkbar sind, mag ja angehen –, dennoch zeichnet es sich gegen die Weiße Göttin ab wie der böse Zwilling hinterm Spiegel des Dorian Gray, bei dem nicht nur alles seitenverkehrt ist, sondern der auch sonst in keiner Hinsicht dem Ding vor dem Spiegel gleicht. Das Gedicht über die weiße Göttin bleibt natürlich ein Gedicht, bleibt die vorsätzlich subjektive Äußerung eines Verfassers, aber was in ihm behauptet wird, ist im Anspruch der Allgemeingültigkeit vorgetragen.

So lassen sich die Verse als Rationalisierung einer vorhandenen Neigung, der persönlichen des Verfassers verstehen. Die Unlust, sich mit einer Gefährtin zu begnügen, sucht eine Rechtfertigung.[xvii] Dass Monogamie umgekehrt auch als Gewinn begriffen werden kann, sprengt wohl die Möglichkeiten eines Gedichtes, das in einer Haltung zu bleiben hat, sofern nicht die ironische Brechung genau dieser Haltung den besonderen Zweck des Kunstvorhabens ausmacht. Vermutlich sprengt es auch den Erfahrungsschatz dieses Dichters. Ein Blick in seine Biographie ließe diese Erklärung zu, doch als veritables Argument sind solche Vermutungen natürlich nicht brauchbar. Promiskuität aber und Monogamie sind einfach zwei Wege, das Geschlechtsleben zu organisieren. Beide beruhen auf Verzicht. Die Monogamie verzichtet auf den Reichtum der Erfahrung, die Promiskuität verzichtet darauf, sich auf eine Person ganz einzulassen und mit ihr eine tiefe Bindung einzugehen. Wohl alle Entscheidungen des Lebens ließen sich sowohl als Verlust wie auch als Gewinn beschreiben. Und da Promiskuität und Monogamie ein kontradiktorisches Verhältnis besitzen, ist, was die eine gewinnt, exakt das, was die andere sich versagen muss. Die Frage ist nicht, ob man verzichtet, sondern ob man es schafft, den Verzicht gegen den Gewinn aufzurechnen. Wo das nicht glückt, ist das Subjekt zur Rationalisierung gezwungen, also dazu, seiner persönlichen Entscheidung Gründe im Höheren zu suchen. Eine ganz bestimmte Neigung wird – wenn auch sehr vorsichtig hier – zum Allgemeingültigen erhoben. Ein Individuum wird von seinen Vorlieben borniert. Genau das ist, was in der »Suche nach der weißen Göttin« passiert.

Nur, aus Borniertheit kann ja Verschiedenes folgen. Ein hochvermögender Lyriker vermag selbst aus Vorurteilen noch Bemerkenswertes zu machen. Umgekehrt nützt einem schalen Verstand auch die umsichtigste Welthaltung wenig. Es nimmt schon ein wenig für dies ebenso verstörend wie brillante Gedicht ein, dass Peter Hacks es schaffte, darin einen ganzen Kosmos, die Grundzüge eines Weltbilds zumindest, in eine einzige Metapher zu packen. Auf die anschauliche Ebene der Liebe setzen sich weitere Ebenen der Bedeutung, die die Architektur ihres Erdgeschosses reproduzieren. Vom Gedicht noch selbst intendiert und angedeutet ist das zunächst die philosophische Ebene, worin die Idee des Spekulativen in ein Verhältnis zum Erfahrungswissen gesetzt wird. So wie die weiße Göttin nur jenseits der Erfahrung im Kopf des Liebenden gebildet werden kann, so baut der erkennende Mensch sich ein Bild von der Welt über die positivistische Beschränkung auf das Mess- und Erfahrbare hinweg. Auf diese Ebene drauf setzt sich eine, die nur noch unbestimmt und sehr indirekt im Gedicht (im zweiten Teil der dritten Strophe und in der neunten nämlich) angesprochen wird. Das ist die Idee einer Vermittlung der humanen Utopien im Politischen. Utopien drücken Neigungen und Tendenzen aus, und Hacksens ganzer Ansatz zur Idee des Kommunismus beruht auf dem Gedanken, dass er all jene einander widersprechenden humanen Ideale (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Liebe, Frieden, Produktivität, Schönheit, Muße, Reichtum usw.) in sich aufzunehmen und zu vermitteln habe, weswegen er eine stets anzustrebende, aber im Politischen nie erreichbare Idee bleiben muss. Auf einer vierten und letzten Ebene, die im Text gar keine direkte Anspielung mehr hat, aber als ein Hinweis durch ihn selbst gedacht werden kann, eignet sich die Struktur jener Idee der weißen Göttin als Sinnbild des Verhältnisses zwischen dem Gedicht und seinem Verfasser. Der Liebesgedichte Hacksens gibt es ja viele, und nicht selten widerspricht das eine dem anderen. Die Liebe ist jener seltsame Gegenstand, über den sich immer wieder neu sprechen lässt, ohne dass das Geschwätz von gestern den Redenden bekümmern muss. Wie der Liebhaber von Geliebter zu Geliebter springt und dabei die Eine in sich ausbildet, so zeichnet sich hinter dem lebendigen, vielfältigen, teils kongruenten, teils disparaten Ensemble der Hacksschen Liebeslyrik ein Gesamtbild ab, das so in keinem der Gedichte selbst zu finden wäre und auch in unserem hier eher programmatisch gefordert als ausgeführt ist. Dergestalt ist »Auf der Suche nach der weißen Göttin« neben allem, was es sonst noch ist, gewissermaßen auch ein Gedicht über das Gedicht.

Die Lyrik, wie die Dichtung überhaupt, verdienen, dass man an sie glaubt.

[November 2015]

gehalten auf der 8. wissenschaftlichen Tagung der Peter Hacks Gesellschaft am 12. November 2015 im Berliner Magnus-Haus; erscheint in: »Mein bester Wurf ist Eva«. Jahrbuch der Peter-Hacks-Gesellschaft 2016, Berlin 2016.

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[i] Die eigentümliche Wortwahl liegt nicht erst in Luthers Übersetzung, sondern bereits in der Vorlage. Die »Genesis« hat an den betreffenden Stellen die Vokabel: ידע (jāda‛). Bedeutung: (1) innewerden, merken; (2) durch Wahrnehmung oder Reflexion erkennen; (3) auf etwas achtgeben, sich kümmern; (4) kennenlernen; (5) vom Weibe: weil der Mann bei der ersten Beiwohnung zum ersten Mal das Gesicht der Braut gesehen hat; (6) religiös: kennen, sich um jd. kümmern, Rücksicht nehmen; (7) verstehen; (8) wissen. – vgl. Gesenius. Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das alte Testament. Berlin / Göttingen / Heidelberg 1962 (17. Aufl.), S. 287f.

[ii] Eva-Maria Hagen / Peter Hacks: Liaison amoureuse. Berlin 2013.

[iii] »Meinen Gedichtband, welcher von Liebe und von Ulbricht handelt, versucht man zu verbieten« (Hacks an André Müller, 26. Juni 1976, unveröffentlicht). Es handelt sich um die erste Edition des lyrischen Œuvres, die erst ganze zwölf Jahre später erschien, mitsamt den von der Zensur beanstandeten Stellen (Die Gedichte. Berlin 1988). Es ist natürlich möglich, dass der Band während dieser Wartezeit weiter angewachsen ist und »Auf der Suche nach der weißen Göttin« erst damit hinein geriet. Es ist auch möglich, dass das Gedicht früher als 1976 entstanden ist. Allerdings dürfte es – in ihm spricht ein Mann von mindestens reifem Alter, der auf eine nicht zu kleine Menge an sexuellen Jahren zurückblicken kann – nicht allzu viel früher entstanden sein.

[iv] Die metrischen Abweichungen überschreiten selten die Distanz eines Versfußes. Am häufigsten treten auf: der trochäische Auftakt, dem sich gleich wieder ein jambischer Fuß anschließt (– ᵕ ᵕ –), und das Hinwegpoltern über eine Hebung mittels dreier Senkungen (ᵕ – ᵕ ᵕ ᵕ –). In der siebten Strophe findet sich ein Hebungsprall (– – –); der zweite und dritte Vers der achten Strophe haben je einen Fuß zu wenig, um die Forderung des Zehn- oder Elfsilbers zu erfüllen. Der fünfte Vers der fünften Strophe stottert sich fast in Prosa hinein. Der Gesamteindruck des Gedichtes bleibt regelmäßig.

[v] Diese nur scheinbare Ersetzung eines Adjektivs durch seine Adverbform, bei der es sich tatsächlich um eine elliptische Konstruktion handelt, worin auf das Suffix (-e) verzichtet wird, ist eine stilistische Eigenart von Hacks, die sich auch gelegentlich in seinen Prosatexten findet. So z.B. in »Zur Romantik«, wo es über Matthew Gregory Lewis’ »The Monk« – durchaus nicht abwertend übrigens – heißt: »Das Buch ist ein sowohl schwul als sadistischer Porno« (HW XV, 13).

[vi] »Welch höchstes Bild des Beieinanderlebens / Wir uns auch immer hoffend ausgesonnen, / Es zeigte Leute, die sich ähnelten, / Denn alle Vorzüge in ihnen hatten / In unserm Traumgebilde wir vereinigt / Und übersehen, daß es Schönheiten / Des Geists gibt, die, gleich denen der Natur, / Einander ausschließen, und Tugenden, / Die so unmöglich man in einem Menschen / Gleichzeitig wohnend trifft wie Mond und Sonne / An einem Himmel« (HW IV, 309).

[vii] vgl. Felix Bartels: Die Landkarte und die Landschaft. Zur Struktur des Ideal-Begriffs von Peter Hacks. In: … und nehmt das Gegenteil. Gesellschaftsutopien bei Hacks. Fünfte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft. Hrsg. v. Kai Köhler. Berlin 2013, S. 76 (Anm. 8).

[viii] vgl. z.B. 1963 die ersten beiden Noten in »Iphigenie, oder: Über die Wiederverwendbarkeit von Mythen« (HW XIII, 67), worin Graves’ These eines originalen, vor-patriarchalen Mythos wiederholt wird. Desgleichen 1964 in der »Kritik zu Käthe Hamburgers Buch ›Von Sophokles zu Sartre‹« (ebd., 72f). 1984, mit mutmaßlich zeitlicher Nähe zur Entstehung des Gedichts »Auf der Suche nach der weißen Göttin«, legt Hacks in »Urpoesie, oder: Das scheintote Kind« Ähnliches dar und führt genauer aus, was er sich darunter vorstellt (HW XIV, 152–155).

[ix] Ein solcher Nachweis ist allerdings bis heute nicht erbracht, dürfte auch schwer zu erbringen sein, da die Matriarchatstheorien sich auf einen Zeitabschnitt beziehen, der eine nur schmale und überdies kaum geeignete Quellenbasis gewährt. Ich rede nicht einmal davon, dass die Archäologie bis heute keine geeigneten Nachweise gefunden hat, sondern davon, dass sie als Methode kaum geeignet ist, solche zu erbringen. Wie Graves selbst feststellt (vgl. Die weiße Göttin. Sprache des Mythos. Reinbeck bei Hamburg 1984, S. 14), ist der bloße Name einer Gottheit in der Mythenbildung synthetisch; er kann einem vorhandenen Kult von einer militärisch siegreichen Macht aufgestülpt worden sein. Der eigentliche Charakter einer Religion ließe sich nur dadurch schlüssig erfassen, dass man ihre Rituale studiert, vor allem die Opferhandlungen, die hier jedoch – gestorben mit denen, die sie ausübten – durch den grauen Schleier einer Zeit ohne Schrift verborgen sind. Graves’ Verfahren allerdings, das Ritual aus Handlungsstruktur und Figurentypologie der überlieferten Mythen herauszufolgern, hält einer kritischen Beleuchtung ebenso wenig stand. Zu groß ist die Zahl immer auch anderer möglicher Erklärungen, zu groß die Gefahr, der petitio principii zu erliegen. Es verwundert nicht, dass sich bei dieser nie auflösbaren Unsicherheit wissenschaftlichen Arbeitens viel Raum für Interessen darbot, die nicht im engeren Sinne darauf aus waren zu ermitteln, wie es sich nun tatsächlich mit der gesellschaftlichen Struktur in der Frühgeschichte verhielt. Seit er im Umlauf ist, wurde der Begriff des Matriarchats in das eine oder andere System von Ideologie integriert, wobei seine genaue Architektur jeweils vom Zweck abhing, dem sich die jeweiligen Richtungen verschrieben hatten. Das Matriarchat war von jeher ein Gebilde, in dem höchst gegenwärtige Wünsche und Vorstellungen bedient wurden (vgl. Meret Fehlmann: Die Rede vom Matriarchat. Zur Gebrauchsgeschichte eines Arguments. Zürich 2011, S. 421–436). Das Vorhandensein eines Mutterkults – einmal angenommen, dass es ihn gab – wäre, um ein letztes, wichtigstes Argument zu bringen, kein zwingender Hinweis auf ein vorhandenes Mutterrecht. (Wie auch Matrilinearität nicht zwingend auf ein Matriarchat hinweist.) Der Irrtum liegt hier in der (vermutlich ziemlich männlichen) Annahme, dass nur eine Gesellschaft mit weiblich dominierten Strukturen eine weibliche Gottheit hervorbringen konnte. Man braucht keine allzu langen Ausflüge in die Psychoanalyse zu unternehmen, um einzusehen, dass auch Männer eine weibliche Urgottheit modelliert haben können, deren Vorhandensein also unter männlich dominierter Gesellschaft ebenso denkbar ist wie unter weiblich dominierter oder unter weitgehend gleichberechtigten Verhältnissen. Jeder Mann hat eine Mutter – Geburt, Aufwachsen in der Familie, Ernährung, Liebe usw. sind elementare Erfahrungen, die aus naheliegenden Gründen mit der Mutter enger verknüpft werden als mit dem Vater. Die nährende Mutter kann daher gut für das Prinzip der Verbundenheit, für das Organische, Familiäre, stehen, während der Vater als tendentiell von außen kommend, synthetisch, damit das Gesetz oder Realitätsprinzip verkörpernd wahrgenommen werden dürfte. Struktur ist bereits etwas Äußerliches, das Verbundene wird als das Primäre verstanden. Es scheint daher intuitiv einleuchtend, dass die Gottheiten in den Zeitabschnitten, die nur sehr wenig komplexe gesellschaftliche Strukturen kennen, zunächst einmal weiblich waren (wenn sie es denn waren). Auch das aber bleibt, sofern man es auf die Vorzeit bezieht, vage, zeigt jedoch, dass andere Deutungen als der sich als zwingend gerierende Schluss auf ein Matriarchat denkbar sind.

[x] Bereits 1948 schreibt er in der Seminararbeit »Über den Stil in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹« (ED in: Sinn und Form 1965 (17). Sonderheft Thomas Mann, S. 240–254): »Ironie ist nicht Spott, das Finden von Schwächen kein Akt der Lieblosigkeit; ganz umgekehrt können Abneigung und Mitleid, Verachtung und Liebe in innig-hintergründigem Zusammenhange gepaart sein. Liebe ist ja letzten Endes freudiges Anerkennen von Unvollkommenheiten, freiwillige Unterwerfung – und freiwillig kann man sich nur Geringerem unterwerfen. Hohes, Glanzvolles, Überragendes nötigt uns Unterwerfung ab; das ergibt dann Respekt und Bewunderung, aber sicher nicht Liebe. Ein Phänomen wie Goethe, harmonisch und beziehungslos, ist beschenkendem Mitgefühl unzugänglich […] Liebe heißt: miteinander schwach sein« (ebd. S. 248 – aktuell in: Der junge Hacks. Hrsg. v. Gunther Nickel. Berlin 2016. Bd. 4.1, S. 97f). – Der Verfasser einer Interpretation hätte eigentlich den Mund zu halten, wenn er nichts weiter zu sagen hat als dies, dass er eine Sache anders sieht als der Dichter, den er gerade interpretiert. Hier aber, meine ich, wird es noch wichtig sein, auf eine Fehlleistung hingewiesen zu haben, die in diesem Gedankengang steckt. Man kann noch mitgehen, wenn Liebe als »miteinander schwach sein« bestimmt und die Behauptung aufgestellt wird, dass sie gerade am Unvollkommenen einen Stoff findet, in dem sie sich festsetzen kann. Wer je geliebt hat, wird sich daran erinnern, dass es gerade auch die kleinen Marotten und Schwächen des geliebten Menschen sind, die das Herz hüpfen lassen. Hieraus abzuleiten, Liebe gründe sich auf Verachtung des Anderen, ist weder logisch noch evident. Zum einen nämlich ist das freudige Anerkennen von Schwächen etwas anderes als Verachtung. Zum anderen bedeutet Genie – im Passus vertreten durch die Lichtgestalt Goethe – nicht Abwesenheit von Schwächen, sondern besondere Ausprägung bestimmter Stärken. Die einesteils fast ein wenig rührende Phantasie des Münchener Studenten von der Reinheit des Genies als eines Menschen ohne Fehler und Schwächen, die jedoch andernteils schlicht zur bornierten Haltung führt, wird für die abschließende Interpretation des Gedichts eine Rolle spielen. Sie verrät eine vorhandene Unlust, sich über einen gewissen Grad hinaus auf den geliebten Anderen einzulassen.

[xi] Hacks, der selbst nicht mehr unter den Bedingungen eines Patriarchats lebte, wohl aber unter Verhältnissen, die patriarchalische Rudimente, strukturelle und ideelle, mit abnehmender Dichte forttrugen, erinnert mit dieser Geste ein Muster, das aus den Zeiten des veritablen Patriarchats geläufig ist. Am 18. August 1784 z.B. schreibt Mozart seiner Schwester als Glückwunsch zu deren Hochzeit folgende Zeilen: »Drum, wenn Dein Mann Dir finstre Mienen, / die du nicht glaubtest zu verdienen, / in seiner üblen Laune macht: / So denke, das ist Männergrille, / Und sag: Herr, es gescheh dein Wille, / bei Tag – und meiner in der Nacht«.

[xii] Wilhelm von Aquitanien: Gesammelte Lieder. Übertragen v. Werner Dürrson. Zürich 1969, S. 8–11.

[xiii] Zu beachten wäre hier auch der Unterschied, der in den Numeralen alle und jeder liegt. Es wird über Männer wie Frauen generalisierend gesprochen; im Fall der Frauen mittels des die Individualität aufhebenden »alle«, bei den Männern hingegen ist von »keinem Mann« die Rede, also von jedem einzelnen, was sich zwar ebenso auf die gesamte Gruppe bezieht, aber die Individualität bewahrt.

[xiv] so der Titel einer seiner lyrischen Sammlungen (London 1964).

[xv] vgl. Felix Bartels: Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks. Mainz 2010, passim. (insbesondere den Abschnitt zu »Numa«, S. 84ff).

[xvi] vgl. Anm. 10.

[xvii] Neigungen für sich bedürfen eigentlich keiner Begründung. Es sei denn, sie kollidieren mit den Maßgaben des Über-Ichs, in Form des schlechten Gewissens oder der Rechtfertigung gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen. Wer seine Gefühle rationalisiert, gibt damit unvermeidlich ein gewisses Unbehagen an ihnen zu.

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