Okt 262016
 

Über den eisernen Satz einer hölzernen Lady.

Das innerste Bekenntnis des Thatcherimus

 

Margaret Thatcher dürfte gewusst haben, was folgt, als sie am 23. September 1987 jenen Satz sprach, der eine Woche später im »Woman’s Own« publiziert wurde.[1] Derart wider das Offensichtliche redet man nicht, außer um der Wirkung willen. Es steht damit nicht anders als mit dem Gebrabbel des greisen Grass oder den aparten Thesen Sarrazins. Gerade Unzureichendes taugt zum innersten Bekenntnis. Der wahre Held fühlt seinen Mut erst dann, wenn er es nicht bloß mit dem Gegner, sondern auch mit der ganzen Wirklichkeit aufnimmt.

Was hat Thatcher gesagt? Dass es keine Ansprüche ohne Pflichten gebe. Hier schon begegnen wir dem für sie typischen there-is-no, das uns noch beschäftigen wird. Routiniert spielt sie Verlierer am Arbeitsmarkt gegen die Nochärmeren aus: Wer soziale Leistung fordere, ohne zu arbeiten, nehme den tatsächlich Bedürftigen die Zuwendung. Menschen, sagt sie weiter, erwarten zu oft, dass die Gesellschaft ihnen die Probleme löse. Aber so etwas wie Gesellschaft gebe es nicht; nur Männer, Frauen, Familien. Die Regierung könne bloß durch Menschen handeln, und die denken zuerst an sich. Hier fährt eine falsche Aussage auf dem Trittbrett einer korrekten. Gewiss hat der Staat bloß soweit Mittel, als seine Bürger es finanzieren. Doch die müssen Steuern wohl oder übel zahlen. Staatlichkeit bedeutet, gar nichts vom guten Willen der Mitmenschen abhängig zu machen und Bedürftigen die Fürsorge vielmehr zu garantieren. Etwas wie Gesellschaft aber, wiederholt Thatcher, existiere nicht, allenfalls eine Art lebendiger Teppich, der in dem Maße schöner werde, in dem die Leute sich selbst helfen. Hiernach läuft ihre Antwort in einem Pathos um unsere wunderbaren Kinder und die Schuld mittelloser Eltern aus, die durch ihre Armut und Trägheit den Kindern Schlimmes antun. Wie üblich sind Produktionsverhältnisse außer Betracht, denn gleich, wie groß die Anstrengung jeglicher Eltern wäre, es blieben stets viele Haushalte, die Anschluss an den Arbeitsmarkt nicht halten können. Armut ist ein strukturelles Problem, und die Frage nach dem Einzelnen klärt höchstens, ob der oder der in Armut fällt. Bedenkt man, dass Thatcher die soziale Hilfe für genau diese nicht vermeidbare Masse rigoros zusammenstrich, wird ihre Verschiebung des gesellschaftlichen Problems auf den Einzelnen als Schuldabwehr erkennbar. Dass sie dennoch einen schlechten Schlaf hatte, sei ihr in diesem Zusammenhang von Herzen gegönnt.

Ich habe vor, die logische Struktur des legendären Satzes freizulegen und zu zeigen, dass er so boshaft wie unsinnig ist. There is no such thing as society – let’s start deconstructing this rubbish.

›There is no‹. Man kennt das bei Thatcher. Wie kaum was drückt es ihr intellektuelles Profil aus, das an apodiktischer Rede, einspurigem Denken und blankem Trotz kenntlich ist. Gesellschaft, das gibt es einfach nicht, auch wenn jeder sieht, dass es das gibt. Wenig zuvor heißt es analog: »there is no such thing as an entitlement unless someone has first met an obligation«. Selbst Thatcher muss klargewesen sein, dass Ansprüche zu haben im Menschlichen selbst liegt und nicht von vorheriger Pflichterfüllung abhängt. Was sie sagen will, ist, dass es anders sein sollte. Traurige Berühmtheit auch erlangte ihr »there is no alternative«, mit dem sie, die nicht müde wurde, persönliche Verantwortung zu fordern, die Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen abschob. In TINA greifen ein rigider Antiutopismus und eine Distanzierung vom eigenen Handeln ineinander. In TINSTAS wird derselbe Akt der Distanzierung begleitet von einer anderen Art philosophischer Beschränktheit: Die Reduktion gesellschaftlicher Verantwortung auf die persönliche wird gedeckt durch die Verleugnung gesellschaftlicher Strukturen. Mehr Zusammenhang als das Aggregat jener »living tapestry« wird nicht geduldet. Denn:

›such thing‹. Gesellschaft als Ding. Diese Fehlleistung korrespondiert auf intime Weise mit Thatchers Ideologie, der man noch schmeichelt, wenn man sie für atomistisch hält. Natürlich ist die Gesellschaft kein Ding, sondern ein Verhältnis. Eines zudem, das ebenso Dynamisches (Ökonomie, Gesittung, Ideologie, Kunst etc.) wie Statisches (Milieus, Klassen, Korporationen usf.) enthält. Struktur unterscheidet sich vom bloßen Aggregat durch Ungleichverteilung der Elemente; die innere Anordnung erst macht die Besonderheit einer Sache. Thatcher untertrifft nicht allein Hegel, sondern sämtliche Theorie vor und nach ihm, indem sie aus der klassischen Stufung ›Familie – Gesellschaft – Staat‹ das mittlere Glied elidiert. Ausdrücklich stellt sie die einzelnen Subjekte, deren Beziehungen allenfalls familiär oder nachbarschaftlich seien, dem Staat gegenüber. Der erscheint als abgesondertes Ding, zu dem jeder Bürger eine eigene Beziehung unterhält. Atomismus, sagte ich, ist das noch nicht mal. Es ist genauer seine platteste Spielart, ein materialer Monismus.

Der so wenig haltbar ist, dass er unter den Spezialisten fürs Allgemeine kaum Anhänger hat. Mitunter sagt man dem Thales dergleichen nach, doch dazu muss man sein Götterfragment ignorieren. Atomismus tritt auf, wo ein Unbehagen am Begriff der Form empfunden wird. Form lebt im Greifbaren, ohne selbst greifbar zu sein. Das ist paradox, und also entsteht das Bedürfnis, Wirklichkeit ganz aufs Material zurückzuführen. Selbst der Atomist weiß jedoch, dass jedes Ding mehr ist als die Summe seiner Teile. Auch er wird die Paradoxie von Stoff und Form nicht los und rettet die Form, indem er sie in die einzelnen Atome verlegt. Demokrit gab ihnen bestimmte Gestalten; Leibniz entwickelte das gewiefteste Konzept, indem er in jede Monade die Gesamtheit der Weltbeziehungen aufnimmt. Von alldem ist Thatcher weit entfernt. Wo Atomisten an der Konsistenz ihrer Modelle basteln, hilft sie sich mit einem ›Basta!‹ Folgerichtig hat Leibniz heute kaum noch Anhänger, während Thatcher ein Rockstar liberaler Publizisten wie Posener oder Herzinger ist, denen auch Adorno schon immer zu schwierig war. Materialer Monismus ist das Konterprogramm zum Idealismus, nur ohne Programm halt. Alle Gründe und Beziehungen sind darin liquidiert, und wo buchstäblich nichts mehr ist, gilt auch nichts mehr. Denn:

›as society‹. Im Begriff der Gesellschaft liegt, dass ihre Existenz bereits einen Anspruch befördert: den der Solidarität. Diesen Anspruch in ›etwas wie Gesellschaft‹ gilt es zu liquidieren, indem ›etwas wie Gesellschaft‹ liquidiert wird. Thatcher sagt nicht: ›there is no society‹, sie tilgt alles aus, was den Anspruch des Gesellschaftlichen möglich macht. Möglich, dass sie wirklich daran glaubte. Als Politikerin jedoch stellte sie theoretische Fragen nicht aus Erkenntnisgründen. Was sie äußert, sollte vor allem ihren Rezepten zum Durchbruch verhelfen. Hierin unterscheidet sie sich nicht von Lenin – auch er gewiss eine Monade und einspurig –, nur dass er uns heute durchaus mehr mitzuteilen hat als die uns zeitlich nähere Thatcher. Wenn sie das Vorhandensein gesellschaftlicher Formen leugnet, attackiert sie in Wahrheit den nicht zwingenden, doch intuitiven Schluss, dass gesellschaftliche Wesen sich auch gesellschaftlich verhalten sollten. Wers, nebenbei, weniger mit Lenin hält, darf hierzu gern auch einen Blick in den 1. Korintherbrief 12 werfen.[2]

Man kann finden, dass Thatchers längst historischer Satz den Aufwand nicht wert ist. Offenkundig sehe ich das anders. Thatcherismus ist bis heute virulent. Sein Claim liegt in der Verschiebung gesellschaftlicher Verantwortung auf den Einzelnen. Jeder suche sein Glück, die Gesellschaft kann für nichts. Dabei muss verdrängt werden, dass ein Missverhältnis zwischen Arbeitskräften und Arbeitsplätzen bei hohem Stand der Produktivkräfte unvermeidlich ist. Nur dann lässt sich behaupten, jeder könne Arbeit finden, sobald er sich bloß mühe; nur so ausblenden, dass selbst eine Gesellschaft, die restlos aus tüchtigen Individuen bestünde, Massenarbeitslosigkeit und Bedürftigkeit hervorbrächte. Thatcherismus heißt, die Frage nach Gesellschaft nicht zu beantworten, indem man sie gar nicht erst zulässt. Die rigide Einengung des Denkens auf Imperative gegen den Einzelnen lässt nicht bloß keinen Raum für freie Erkenntnis, sondern dieser äußerste Subjektivismus ist am besten als äußerster Objektivismus servierbar. In der Tat rationalisiert »there is no such thing as society« höchst willkürliche Tendenzen, die den Kapitalismus als ein Naturverhältnis verstehen, an dem – there is no alternative – nicht gerüttelt werden darf. Der Satz ist ganz zu Recht berühmt und das tragende Gewölbe eines Bauwerks, das andernfalls nicht erst Sturm und Beben fürchten müsste, sondern schon von selbst in sich fiele.

 

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zuerst u.d.T. »Gesellschaft? Sowas gibt es nicht!« in: ND v. 22./23. Oktober 2016.

Noten

[1] am 31. Oktober 1987 u.d.T. »Aids, education and the year 2000!« (S. 8–10). Es existiert ein Transskript des von Downing Street routinemäßig aufgezeichneten Gesprächs, das online verfügbar ist: http://www.margaretthatcher.org/document/106689.

[2] »Es sind mancherlei Gaben; aber es ist ein Geist. […] Denn gleichwie ein Leib ist, und hat doch viele Glieder, alle Glieder aber des Leibes, wiewohl ihrer viel sind, doch ein Leib sind. […] Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. So aber der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum bin ich des Leibes Glied nicht, sollte er um deswillen nicht des Leibes Glied sein? […] Es kann das Auge nicht sagen zur Hand: Ich bedarf dein nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich bedarf euer nicht. Sondern vielmehr die Glieder des Leibes, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten […] Aber Gott hat den Leib also vermengt und dem dürftigen Glied am meisten Ehre gegeben, auf daß nicht eine Spaltung im Leibe sei, sondern die Glieder füreinander gleich sorgen. Und so ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und so ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit.« (1. Korinther 12, n.d. Lutherbibel 1912).

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