Aug 302018
 

»Kindeswohl«

»Kindeswohl« ist nach »Am Strand« und der TV-Produktion »The Child in Time« in diesem Jahr bereits die dritte Verfilmung eines Stoffs von Ian McEwan und die zweite, bei der er selbst das Drehbuch geschrieben hat. Man merkt das, denn auch dieser Film ist beladen mit den McEwan-typischen Elementen: Rationalität, gestochener Dialog, tiefsitzendes, schwer sich äußerndes Sentiment. Der Film hat Größe, dennoch ist »Am Strand« die gelungenere Adaption. Man merkt »Kindeswohl« an, dass etwas gestaltet sein will, doch in der großen Idee geht nicht alles auf. Interessante Momente werden bewahrt, das Ganze zerfällt immer wieder in sich. McEwan steht in der Tradition von Stendhal und Balzac, also des bürgerlichen Realismus, demnach ein Werk Wirklichkeit zu verkörpern habe und selbst die Darstellung von Irrationalität eine Frage des Verstandes ist. Was ihn von dieser Tradition trennt, ist bloß der Unwille, mehr als die Innenansicht einer Klasse zu schildern. McEwans Milieu ist die britische Oberschicht, deren spezifisches Leben er zu den großen Fragen des Lebens hochrechnet. Im Vergleich zu Balzacs Panorama bekommt man bloß einen Teil, aber den bekommt man ganz.

Fiona Maye (Emma Thompson), Richterin für Familienrecht am High Court in London, ist das Zentrum. Die anderen beiden Hauptfiguren, ihr Mann Jack (Stanley Tucci) und der junge Adam (Fionn Whitehead), gruppieren sich um sie fast wie Objekte, die Fionas Möglichkeit und Wirklichkeit zu verkörpern haben. Sie hat den Fall des jungen Adam zu verhandeln, der todkrank eine rettende Bluttransfusion ablehnt, weil die religiöse Gemeinschaft, der er angehört, das gebietet. Da Adam erst in wenigen Wochen volljährig sein wird, obliegt die Entscheidung darüber nicht ihm. Adams Eltern streiten gegen das Krankenhaus, das auf die Transfusion drängt. Fiona beschließt, ungewöhnlich für eine Richterin, Adam im Krankenhaus zu besuchen. Sie lernt einen jungen Menschen kennen, der erkennbar weiß, was er tut. Ihr Privatleben liegt dagegen zerbrochen. Jack leidet unter ihrer Distanziertheit und dem Mangel an Sex. Er bittet sie um die Erlaubnis zu einer Affäre. Fiona ist empfindlich getroffen und reicht die Scheidung ein. Bei Gericht entscheidet sie sich gegen Adams Willen und für sein Wohl. Das hat Folgen auch für sie, denn Adam ist hernach auf sie fixiert, will mit ihr, die sein Leben gerettet hat, nun auch dieses Leben verbringen. Fiona scheint auf eine Weise von Adam berührt, auf andere von seiner Zudringlichkeit abgestoßen.

Hier greifen zwei Handlungen ineinander, eine private und eine berufliche. Das Problem von Sexualität und Liebe hat McEwan bereits in »Am Strand« verhandelt. Dort ging es um das Recht auf Liebe ohne Sexualität, hier geht es darum, dass eine Liebe ohne Sexualität stirbt. Doch »Kindeswohl« nimmt weitere Beziehungen in die Handlung auf. Das funktioniert nicht immer, obgleich man merkt, dass es was sagen soll. So wie Moral und Empfindung aus dem Gerichtsaal gebannt sein müssen, hat Fiona die Leidenschaft aus ihrer Ehe gesperrt. Sie tut im Privatleben das, was sie im Beruflichen tun muss. Sexualität ist impulsive Liebe, Moralität, gewissermaßen, impulsives Recht. »Es geht«, sagt sie zu Beginn, »nicht um Moral, es geht um das Gesetz.« Das Wesen der Rechtsprechung zielt auf das Gegenteil des Impulsiven. Die Richterin muss möglichst wenig betroffen sein; das ist der genaue Sinn der blinden Justitia. Dass Fiona keine Kinder hat, aber in Familienrecht entscheidet, gibt dem Prinzip ein anschauliches Gefäß, wie es zugleich Ausgangspunkt der Handlung ist. Indem die Richterin den jungen Mann im Krankenhaus besucht, verletzt sie dieses Prinzip, aber dass sie das tut, hat mit ihrer zerbrochenen und kinderlosen Ehe zu tun, also damit, dass sie dieses Prinzip ganz gelebt hat. Nachdem sie lange Zeit das Berufliche ins Private geholt hatte, lässt sie nun das Private ins Berufliche wirken.

Das eigentliche Thema des Films ist damit die Frage nach Objektivität. Wie wichtig fürs Urteil ist Distanz? Gibt es einen Moment, worin sie ins Gegenteil umschlägt? Die Kameraarbeit übersetzt dieses Problem ins Bildliche. Insbesondere die Szenen im Court, nächsthin auch die in Fionas Appartement, sind darauf ausgelegt, ein Gefühl für den Raum herzustellen. Das Szenenbild wird plastisch, man ist mitten darin und hat doch immer eine Art Distanz und Überblick. Die Verbindung langer Kamerafahrten, ihrer ruhigen Führung und eines breiten Formats (1.85:1) besorgt diesen Effekt, wie auch Fiona als Richterin sich stets inmitten eines Falls wiederfindet, aus dem sie sich langsam herauskämpfen muss, um rekonstruktiv einen Blick darauf zu gewinnen.

Der Fall selbst hingegen, in dem freier Wille gegen Kindeswohl steht, erhält im Film zu viel Raum. Dieses Thema, das für sich interessant genug wäre, ist hier tatsächlich bloß ein McGuffin, der sich zum Thema aufschwingt und gar noch den Titel für sich okkupiert. Herauskommt eine Geschichte mit großer Anlage, deren innere Gewichtung nicht ganz stimmt, die jedoch getragen wird von zwei routiniert grandiosen Schauspielern und einem begabten, doch etwas zum Overacting neigenden Fionn Whitehead sowie einer konservativen Inszenierung, die das Schauspiel und die verhandelten Inhalte ganz zur Geltung bringt.

»Kindeswohl« [»The Children Act«]
Großbritannien 2017
Regie: Richard Eyre
Drehbuch: Ian McEwan
Darsteller: Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead
Länge: 105 Minuten
Starttermin: 30. August 2018

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in: ND v. 30. August 2018.

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