»Green Book«
Man könnte das Ganze für eine lustvoll verkehrte Adaption von »Miss Daisy und ihr Chauffeur« (1989) halten, wenn der Stoff nicht historisch wäre. Tatsächlich hatte der von Mahershala Ali verkörperte Pianist Don Shirley den von Viggo Mortensen nicht minder genial gespielten Arbeiter und Kleinganoven Tony Lip im Herbst 1962 für eine Tournee durch den Süden der USA als Fahrer engagiert. Und tatsächlich wurden beide dadurch und hernach Freunde fürs Leben. Aus diesem Setup entsteht mal Komik, mal Spannung, denn in den Zeiten der Rassentrennung war das Bild eines schwarzen Gentlemans, der sich von einem weißen Arbeiter chauffieren lässt, unvermeidlich irritierend. Noch gut, wenn der Südstaatler mit dem Anblick bloß überfordert war – dieser ruhige, witzige, gar nicht effekthaschende Film hat gleichwohl bedrohliche Szenen, die den Alltag schwarzer Bewohner in den Sundown Towns widerspiegeln.
Die handgreifliche Bedrohung durch Zivilpersonen, die Schikanen am Straßenrand bei angeblich routinemäßigen Polizeikontrollen waren bloß das äußere Ende einer dichten, kodifizierten Praxis. Die durch Lyndon B. Johnson 1964 aufgehobenen Jim-Crow-Gesetze regelten bis dahin in den südlichen Staaten eine umfassende Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung. Sie untersagten der Minderheit die Nutzung gewöhnlicher Einkaufsstätten, Restaurants, Hotels, Sitzbänke, Frisiersalons, Apotheken, Toiletten und Wasserquellen. Das »The Negro Motorist Green Book«, von dem der Film seinen Titel nimmt, war ein erstmals 1936 erschienener Reiseführer, der Restaurants, Geschäfte und Hotels listete, die von Schwarzen genutzt werden durften. Gedacht als Mittel, diesen Menschen die Reise durch die Gebiete der Rassentrennung zu erleichtern, ist er heute selbst ein Dokument dieser Trennung. Leider lässt der Film die dramaturgischen Möglichkeiten seines titelgebenden Motivs, in dem ein gesellschaftliches Verhältnis anschauliche Gestalt erhält, recht bald am Straßenrand liegen, so dass es nicht zum Leitmotiv werden kann.
Auch in einer anderen Hinsicht enttäuscht »Green Book«. Obgleich sein Thema eminent politisch ist, behandelt der Film es so unpolitisch, wie es gerade geht. Das betrifft die blinde Verehrung der Kennedy-Administration ebenso wie das historische Verständnis der Rassentrennung, die durchaus nicht bloß Rückstand einer vergangenen Epoche und ihrer Denkweise war, sondern gleichfalls zeitgemäßer Ausdruck des südstaatlichen Partikularismus, ein Gefäß, den Protest gegen den (fortschrittlichen) Zentralstaat auszuleben und die kränkende Niederlage im 100 Jahre zurückliegenden Bürgerkrieg zu verarbeiten. Die föderalistische Verfassungsgestalt sodann, allgemein geeignet für Gemeinwesen, in denen alles bleiben soll, wie es ist, machte die Überwindung inhumaner Zustände besonders schwierig.
Die Handlung ist nicht privat, bleibt aber doch persönlich, am Subjekt orientiert. Die ebenso witzigen wie traurigen Gespräche zwischen Don und Tony, die filigrane Zeichnung beider Figuren schaffen nicht bloß eine Stimmung, der man sich gern hingibt, sie bilden das Substrat, in dem die Reihung von Episoden erst erträglich wird. Die Gesellschaft wird hier bloß situativ erlebt, weil die Handlung nicht mehr als Situationen zeigt. Die Stationendramaturgie des Roadmovies bedarf mehr als andere Muster des starken Charakters. In diesem Genre ist der Weg alles, das Ziel nichts. »Der Vater des Soldaten« (1964), »Zabriskie Point« (1970), »Midnight Run« (1988) oder »Herr der Ringe« (2001–2003) – der Grund der Reise, die die Figuren freiwillig oder unfreiwillig unternehmen, kann irgendwas sein. Es ist die Reise selbst, die sie bereichert. Der Held – das Muster ist so alt wie der abendländische Mythos – zieht in die Fremde und kehrt als ein Anderer zurück. Er sucht vorgeblich etwas anderes, in Wahrheit sich selbst, und findet sich selbst, indem er ein Anderer wird. Eben diesem Zweck opfert »Green Book« alles, auch die Erkenntnishöhe.
Dabei knarrt es im Verhältnis von Tony und Don zunächst beträchtlich: der schwarze Pianist, der ökonomisch zur Elite gehört, der weiße Arbeiter, der kulturell bessergestellt ist. Gerade diese Verschränkung macht die Sache interessant, doch die Kollision wird sehr schnell entschärft und schlägt bloß, im Takt des Adrenalins, gelegentlich mal durch. Beide können dann einander bloß als Teil der umfassende Repression wahrnehmen; Don sieht in Tony den Weißen, Tony in Don den Reichen, statt dass sie im Anderen den gleichfalls Unterdrückten erkennen. Die Diskriminierung der Minderheit bleibt, auch wenn der Betroffene Geld hat, weil sie allgegenwärtig ist im Denken, Alltag und Arbeitsleben, den Gesetzen, Institutionen und Sitten, der Familie, Liebe und Kunst. Der weiße einfache Mann genießt eine Vielzahl Privilegien, die ihm als solche gar nicht bewusst sind; dennoch ist verständlich, dass es ihm wie Hohn vorkommen muss, wenn er hört, er sei privilegiert. Seine soziale Lage schließt ihn auf andere Weise von vielen gesellschaftlichen Prozessen aus.
Im Focus liegt die Freundschaft selbst. Dann entstehen unvergleichlich schöne Momente von tiefer Bedeutung. Etwa wenn bei einer Autopanne am Straßenrand durchweg schwarze Arbeiter, wie seit je das Feld beackernd, irritiert die Arbeit unterbrechen, weil sie die verkehrten Rollen des reisenden Duos und damit gleichsam in eine noch nicht erreichbare Zukunft sehen, und wie man dann analog aus Dons Gesicht den elitären Dünkel schwinden sieht, indem ihm klar wird, dass die Art Unterdrückung, die er erfährt, bloß ein Schatten ist im Vergleich zu der von Menschen, die nicht bloß schwarz, sondern auch noch arm sind. Oder wenn Tony, »the lip«, der seltsam einsilbig bleibt in manchen Situationen – z.B. sein Essen »salty« nennt, womit er sagen will, dass Salz eine billige Weise ist, Geschmack zu erzeugen, also mangelnde Kunst des Würzens zu kaschieren –, wenn dieser Tony dann durch Don das Schreiben von Liebesbriefen lernt, seine stereotyp männliche Unfähigkeit überwindend, Gefühle auszudrücken. Dann wird es fast symbiotisch, und man denkt an Max von Sydows letzte Worte in »Citizen X«: »Sie beide zusammen ergäben eine wunderbare Person.« Tony gibt den Inhalt der Briefe, Don die Form. In der Kunst wächst bekanntlich beides zusammen und pflanzt als idealer Vorgriff auf das gesellschaftliche Noch-Nicht den geforderten Zustand im Menschen selbst.
Eben hier liegt das Programm des Films. Rassismus und Armut sind ihm bloß konkrete Erscheinungen. Ein Bonmot gegen Ende des Films (die Abwandlung der berühmtesten Passage aus Kennedys Antrittsrede): »Frag nicht, was dein Land für dich tun kann; frag, was du für dich tun kannst«, hat über den Witz hinaus Bedeutung. Eben jene liberale Rebellion der bürgerlichen Gesellschaft von innen ist hier gemeint, die die Gesellschaft bessern will, ohne sie anzutasten, und daher immer nur partikularen Erfolg haben kann. Und doch ist diese Freundschaft als poetisches Motiv groß und legt der Film, anstelle von Ratschlägen zur Bekämpfung des Inhumanen, den Akzent auf das Vor- und Vorausleben von Humanität.
»Green Book«
USA 2018
Regie: Peter Farrelly
Drehbuch: Peter Farrelly, Nick Vallelonga, Brian Currie
Darsteller: Viggo Mortensen, Mahershala Ali, Linda Cardellini
Länge: 130 Minuten
Starttermin: 31. Januar 2019
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in: ND v. 31. Januar 2019.
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