Nov 122018
 

»Rememory«

Was sind Erinnerungen? Wie bestimmen sie unsere Entwicklung? Was wäre, wenn fortgeschrittene Technik ihre präzise Aufzeichnung ermöglichte?

»Rememory« ist einer jener Filme, bei denen man phasenweise den Eindruck erhält, in einem Seminar gelandet zu sein. Anders als »Anon« (2018), der dasselbe Thema anpackt, setzt der Film tief an, nimmt häufig das Tempo aus der Erzählung und gewährt den physischen Elementen des Plots keinen Überhang. Auf die Art konserviert er geschickt das Gleichgewicht von Kriminalstory und Charakterdrama, wo »Anon« bloß mit geläufigem Dystopiepomp aufwartet, dessen philosophisches Fundament die ein paar mal zu oft verhandelte Frage bildet, was vom Menschen bleibe, wenn man ihn der Privatsphäre beraubt. »Anon« artikuliert einen Protest gegen das Erfassen von Erinnerungen. »Rememory« fragt, was das Erfassen von Erinnerungen für den Menschen bedeutet.

Ein verschlossener Mann namens Sam Bloom (Peter Dinklage), über den wir zunächst nur wissen, dass er den Tod seines Bruders verschuldet hat, taucht in der Umgebung des Wissenschaftlers Gordon Dunn (Martin Donovan) auf. Dunn hat einen Apparat entwickelt, der ermöglicht, Erinnerungen ungefiltert aufzuzeichnen. Davon verspricht er sich neben profunden Einblicken in das menschliche Wesen und die Welt überhaupt gleichfalls heilende Wirkungen fürs Seelische. »Das Gedächtnis«, sagt Dunn, »ist der entscheidende Bestimmer unseres Lebens. Denn was ist unser Leben, wenn nicht eine Sammlung von Erinnerungen? Erinnerungen an Ereignisse, Erfahrungen, Emotionen. Alle sind unserem Nervensystem aufgeprägt, alle führen in das Hier und Jetzt und machen uns zu dem Menschen, der wir heute sind. Ohne sie wäre die Gegenwart ohne Zusammenhang.« Doch dann stirbt der Forscher unter dubiosen Umständen, und Sam, der Kontakt mit Dunns Witwe (Julia Ormond) aufnimmt, bringt den Apparat an sich, um diese Umstände aufzuklären. Da er auf Dunns Erinnerungen keinen Zugriff hat, rekonstruiert er den Hergang aus den Erinnerungen der Personen in Dunns Umfeld. So folgt Sam den Spuren von Person zu Person, bis er schließlich vor einer Wahrheit steht, die er am liebsten vergessen würde. Ganz brav wird diese Geschichte entlang der Zeitachse erzählt, keine Vorgriffe, keine Parallelkonstruktionen, keine Rückblenden. Von letzteren gibt es im Handlungsgeschehen selbst naturgemäß genug.

Der Kriminalfall hält die Story zusammen, aber er trägt sie nicht. Dazu ist er nicht komplex genug, und ein stattlicher Twist im Finale muss den etwas simplen Deduktionen zu Hilfe kommen, bei denen am Ende einer jeden Spur stets der Anfang der folgenden artig darauf wartet, von Sam entdeckt zu werden. Was trägt, das sind die Gedanken. Vielleicht auch weil sie nicht immer auf dem Niveau sind, das ein Seminar dann doch haben müsste. Es ist nämlich schwer zu entscheiden, ob der Film sich die scharfsinnigen Halbheiten seiner Figuren zueigen macht oder ad absurdum führen möchte.

Das beginnt bei der von Dunn vorgetragenen Idee, wonach ein reines Erinnern von einem unreinen (durch Gefühle, Interpretationen, Gedächtnisfehler verunreinigten) Erinnern zu unterscheiden sei. Was der Mensch dem Erlebnis im Erinnern hinzusetzt, wird damit als Störung oder Fehler identifiziert. Die seltsame Gleichsetzung von Erfahrung und Ereignis, in der übersehen wird, dass wir auch im Moment des Erlebens schon das Erlebnis als unreines haben, drückt eine Ideologie der Maschine aus, die den Menschen selbst als Maschine fasst. Eine Maschine, die zumindest der Möglichkeit nach ungefiltert aufzeichnet, was passiert ist, und die mit etwas technischer Hilfe wieder zu sich kommen kann. Diesem mechanistischen Verständnis entspricht, dass Dunn den Menschen rundweg als Summe seiner Erinnerungen begreift.

Nur läuft die Vorstellung, dass wir durch unsere Erinnerungen absolut bestimmt sind, auf die Abschaffung des Unbewussten hinaus. Vergessen aber prägt den Menschen ebenso wie Erinnerungen, und der Film, worin keine der Figuren Dunn theoretisch widerspricht, arbeitet dessen Weltbild immerhin praktisch entgegen, indem sich zeigt, dass das präzise Festhalten jedweder Erinnerung nicht zwingend auch gut sein muss. Wobei das allein therapeutisch verstanden wird, in dem Sinn, dass Vergessen und Verdrängen zuweilen notwendige Akte der Bewältigung sind. Mit gleichem Recht ließe der Einwand sich bezogen aufs Kognitive erheben: Ohne Vergessen, Verdrängen, Einordnen, Abheften, Umdeuten, Identifizieren oder Fragmentieren gibt es keine Erkenntnis. Erkenntnisarbeit ist das Gegenteil von Gedächtnisarbeit. Sie konserviert das Material der Erinnerung nicht, sie verarbeitet es. Das berührt einen Punkt, den der Film zumindest indirekt aufgreift, indem insbesondere Sams Vorhaben (herauszufinden nämlich, was die letzten Worte seines Bruders waren), schließlich demonstriert, dass es gar nicht so sehr auf das Detail ankommt, sondern auf den Zusammenhang. Diesen Gedanken bringt »Rememory« am Ende in den bildlichen Ausdruck, wenn zwei klinische Erinnerungen im Meer versenkt werden und auf dem Grund dieser Beerdigung die liebevolle Erinnerung an einen verlorenen Menschen wieder aufersteht.

Die lange Unentschiedenheit des Films, vieles bloß in Andeutung zu lassen und dem elaborierten Gerede Dunns kein Gegengewicht zu gönnen, scheint durch diese Symbolhandlung am Ende wie ausgeblasen; die Frage freilich bleibt, ob die Macher selbst das wissen. Die disparate Umsetzung einer eigentlich tragfähigen Idee wird kompensiert durch die schauspielerische Leistung Peter Dinklages, der beweist, dass es die traurigen, gebrochenen Rollen sind, für die er da ist. Mehr als für die komischen, durch die er bekannt wurde. Seine Performance knüpft an frühe Melancholie-Leistungen wie in »Station Agent« (2003) an. Nur anders als dort hat Dinklages Körpergröße in »Rememory« keine Bedeutung mehr. Er spielt nicht den Zwerg, sondern einfach einen traurigen Mann, und diese demonstrative Selbstverständlichkeit ist viel wichtiger als die seit Frances McDormands Oscar-Preisrede bekannte Forderung nach dem Inclusion Rider.

»Rememory«
USA, Kanada 2017
Regie: Mark Palansky
Drehbuch: Mark Palansky, Michael Vukadinovich
Darsteller: Peter Dinklage, Julia Ormond, Anton Yelchin
Länge: 111 Minuten
Starttermin: 8. November 2018

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in: ND v. 12. November 2018.

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