Mrz 102020
 

»La Vérité – Leben und lügen lassen«

Mit »Shoplifters« war Koreeda Hirokazu 2018 gelungen, gediegene Erzählung und sozialen Realismus auf einem Niveau zu vermitteln, wie es nur selten erreicht wird. In dieser Hinsicht sticht das Werk auch unter den großen Sozialdramen der letzten Jahre heraus: »Roma«, »Parasite«, »Glücklich wie Lazzaro«, »Dogman«, »The Public«, »In den Gängen«, »Capernaum«, »En guerre«, »In Dubious Battle« – you name it.

Dass Koreeda Japan nun gen Frankreich verlassen und sich mit »La Vérité« dem bessergestellten Milieu zugewandt hat, muss nicht gleich zwingend ein Makel sein. Man spricht abfällig von »first world problems« und übersieht aber, dass diese Probleme des Alltags sich gleichwohl als Anleihe auf die Zukunft verstehen lassen. Eine Welt, in der Eifersucht, verkorkste Erziehung, verlorene Illusionen, fröhliche Resignation, midlife crisis usf. die verbleibenden Schwierigkeiten ausmachen, wäre doch eben das, was wir wünschen. Zudem ist das Drastische nicht unbedingt auch gleich das Wahrere. Matteo Garrone, Oliver Stone, Ken Loach sind auf ihre Weise realistisch, Woody Allen, Marielle Heller, Noah Baumbach auf eine andere. Das Politische greift aufs Aktuelle, das Menschliche darüber hinaus, beides aber auf die Welt. Eine griffige Story indes sollte man schon haben.

Koreeda wandelt mit »La Vérité« bedrohlich nah an den Spuren Richard Linklaters. Gewiss ist er nach wie vor besser, hat die schönere Photographie, die feinere Seelenschau, und vor allem fehlt diese unerträgliche Geschwätzigkeit um Nichts. Aber wir erinnern uns, er kann viel mehr.

Im Pariser Herbst arbeitet die Filmschauspielerin Fabienne Dangeville (Catherine Deneuve) gleichsam am Herbst ihrer Karriere. Zu diesem Zweck veröffentlicht sie Memoiren, worin sie durch Lügen und Auslassungen die Umdeutung der eigenen Biographie ins Werk setzt. Deren Titel »La Vérité« (die Wahrheit) wird somit zur größten aller Lügen. Während Fabienne sich als liebevolle Mutter inszeniert, hat ihre Tochter Lumir (Juliette Binoche) auf sie, die oft abweisend war und ihren Beruf über alles stellte, einen anderen Blick. Auch erwähnt Fabienne ihren langjährigen Assistenten Luc mit keiner Zeile, und das Verhältnis zu ihrer Freundin und Konkurrentin Sarah, die Lumir viel eher eine Mutter war und vor 40 Jahren dubios verstarb, bleibt unbehandelt. Auch im direkten Umgang ist Fabienne schwer zu ertragen; sie setzt Lumirs Ehemann Hank (Ethan Hawke) herab, einen erfolglosen TV-Schauspieler, hat wenig Freundlichkeit für ihre aktuellen oder früheren Lebensgefährten und weiß mit ihrer Enkelin Charlotte (Clémentine Grenier) kaum was anzufangen. Zur selben Zeit laufen Dreharbeiten zur Adaption einer Short Story mit dem bezeichnenden Titel »Memories of my Mother«. Fabienne verkörpert hierin das ältere Ich einer Tochter, deren Mutter nicht altert.

So aufschlussreich gerade diese Inversion des Mutter-Tochter-Verhältnisses durch Spiel im Spiel scheint, das gesamte Skript leidet daran, dass hier recht eigentlich keine Handlung erzählt wird. Es ist bloß Geschehen, Szene reiht sich an Szene, und dient vor allem dazu, Zeit verstreichen zu lassen, in der die Figuren ihren Charakter und ihre Beziehungen zueinander anschaulich machen können. Es fehlt der große Bogen, das konkrete Ereignis, das all das aus der Bahn wirft, Verwicklungen stiftet, die wieder zu lösen oder aufzuheben sind. Es fehlt mit einem Wort die Dramaturgie, auch wenn am Ende eine Art Charakterentwicklung steht. Getragen wird »La Vérité« von Koreedas Stil, der wie ein Sous-vide-Garer genau Temperatur hält, und vom herausragenden Charakterspiel. Zu Deneuves Dominanz auf der Szene und Binoches oppositioneller Giftigkeit bringt Hawke in der Rolle des Amerikaners, der die Sprache des Hauses nicht versteht, verlegen lächelt oder interessiert nickt, eine subtile Ergänzung. Besonders wird das Spiel durch Clémentine Grenier, über deren kindliche Schultern wir das eigenartige Treiben der Familie oft verfolgen.

Das gestörte Verhältnis von Mutter und Tochter wird dreifach gespiegelt. Einmal darin, dass Lumir als heute erwachsene Frau dem exaltierten Betragen ihrer Mutter zwar standhält und durch die Wahl ihres Berufs – sie ist Autorin, nicht Schauspielerin – ein lebendes Statement setzt, sich aber – man kennt das – mit Betreten des Hauses scheinbar sogleich in das Kind rückverwandelt, das sie gegen ihre Mutter immer bleiben wird. Fürs andere im Verhältnis zur eigenen Tochter, Charlotte, die stets mit anwesend ist, aber selten tatsächlich Beachtung erhält. Wer nie erfahren hat, eine Tochter zu sein, hat es schwerer zu lernen, wie man Mutter ist. Das gilt auch für Fabienne, von der wir hören, dass sie bereits mit sieben Jahren die Mutter verlor. Menschen, die das Trauma weitergeben, dem sie selbst ausgesetzt waren. Drittens spiegelt sich das Verhältnis im Dreh des erwähnten Films. Die Figuration ist symbolisch: eine Tochter, die der eigenen Mutter als heute ältere, reifere Frau begegnet, ein Kind, das seinen Eltern über den Kopf gewachsen ist.

Dass Fabienne im Grunde das infantile Element im Geflecht markiert, hat nicht zuletzt mit ihrem Beruf zu tun. Dieser Film handelt von den Eitelkeiten eines Handwerks, das ohne Eitelkeit nicht denkbar ist. Es wirkt hier nicht ganz so schlimm wie etwa bei Lars Eidinger und seinem als Sozialengagement verkleideten Gegockel, aber es bleibt derselbe Narzissmus, den Koreeda scharf fasst. »Ich hätte beinahe mit Hitchcock gedreht, leider ist er vorher gestorben«, sagt Fabienne trocken. Selbst den Tod des größten Regisseurs der Filmgeschichte bezieht sie bloß auf sich. Können Schauspieler anders? Wo der Autor Ideen hervorbringt und der Kameramann ganz auf die Welt gerichtet ist, schwanken Schauspieler zwischen Nachahmung des Äußerlichen und Ausdruck eigener Innerlichkeit. Im Beruf, im Leben. In ihren Rollen spielt Fabienne nur sich selbst, und dieses Selbst aber ist selbst bloß eine Rolle.

»La Vérité – Leben und lügen lassen« [»La Vérité«]
Frankreich 2019
Regie: Koreeda Hirokazu
Drehbuch: Koreeda Hirokazu
Darsteller: Catherine Deneuve, Juliette Binoche, Ethan Hawke
Länge: 107 Minuten
Starttermin: 5. März 2020

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in: junge Welt v. 10. März 2020.

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