Jun 222009
 

Ein jedes Lehrbuch über das Tanzen sollte so beginnen: Der menschliche Körper ist das größte Hindernis beim Tanzen.

In der Weltgeschichte wieder müßte man sagen: Was dem Menschen bei der Durchsetzung seiner Interessen im Wege steht, das sind vor allem die menschlichen Interessen.

Überhaupt aber gilt: Schuld hat immer die Materie.

Materie ist der Inbegriff des Daseins, und das Dasein hat an sich, daß es auch im günstigsten Fall nicht so vollkommen sein kann, wie es sich ideell denken läßt. Leibniz hat darüber ein dickes Buch geschrieben:die Theodizee; darin schon steht, daß selbst Gott, der alles kann, die Welt nicht hätte vollkommener machen können, als es möglich war. (Diese Argumentation nicht verstanden zu haben stellt übrigens den Gesamtbeitrag des merkwürdigerweise bis heute berühmt gebliebenen Journalisten Voltaire zur Geschichte der Philosophie dar.) Gottes Allmacht ist nicht schlechthin, sondern bezieht sich stets auf die Menge der Möglichkeiten, aus der (dank seiner Güte) er die beste ausgewählt hat, die dann zur Realität wurde, die wir heute um uns haben.

Die Zahl Möglichkeiten machen den Verstand Gottes aus; es ist Gott allein, der diese Zahl in toto denken kann. Was aber selbst Gott nicht kann, das ist ein Unmögliches zur Wirklichkeit werden zu lassen. Er könnte es noch denken, da ein jedes Unmögliche die Negation eines bestimmten Möglichen ist, einer Sache also, die in seinem (Gottes) Verstand vorhanden sein muß. Aber Gott unterscheidet sich vom Menschen darin, daß er sich nicht dabei aufhält, Unmögliches zu denken. Er ist einmal Praktiker.

Das Mögliche verhält sich zum Wirklichen wie die Idee zum Sein; und Gottes Ideen sind die Menge der Möglichkeiten. Entsprechend dann ist sein Werk (die Schöpfung) die Wirklichkeit. Das Mögliche unterscheidet sich vom Unmöglichen darin, daß es realisierbar ist, und was realisierbar ist, kann vollkommen nicht sein, muß Makel besitzen. Systeme haben Eigenschaften, Eigenschaften wiederum Nachteile und Vorzüge. Bestimmte Vorzüge schließen andere Vorzüge aus; z.B. killt die Freiheit, wenn sie ausgeübt wird, die Gerechtigkeit und umgekehrt.

Es ist erstaunlich, wie praktisch die Theodizee ist, wenn man sich erst einmal dahin gebracht hat, die Theologie als das zu verstehen, was sie letztlich immer ist: als bemäntelte Auseinandersetzung mit dem Leben. Natürlich gibt es brauchbare Theologien und weniger brauchbare. Leibniz jedoch gibt den Menschen den Rat, nicht eine Welt für realisierbar zu halten, die frei von Fehlern ist, sondern die wirkliche Welt im Rahmen ihrer Möglichkeiten bestmöglich zu gestalten, und ist darin also ungleich moderner als jene cleveren Burschen, die von der Idee Gottes allein das begriffen haben, daß sie ein Nichtexistentes behauptet.

  8 Responses to “Die Trägheit des Stoffs”

  1. Wollen wir hoffen, dass Gott die „Theodizee“ auch gelesen hat.

  2. Mehr noch: er hat sie geschrieben.

    Leibniz, sagt Leibniz, konnte auch nicht mehr, als Gott ihm durch die prästabilierte Harmonie zugedacht hat.

  3. Von wegen Trägheit! Kaum im Licht der Welt und schon Eintrag um Eintrag ihr ins Gesicht gespien! Wer soll da folgen können? Sie eilen sich ja bald selbst voraus! Denn dass die Materie dem Tanz im Wege stehen würde, träge Masse hin oder her, kann einer, der von Berufs wegen den Heraklit belauscht hat, nicht ernsthaft behaupten. Das Dasein der Materie überhaupt ist Bewegung, ist Tanz.

    So wir das hätten, bleibt nur die Sache mit den Wertungsrichtern. Und über die weiss nun jeder, dass sie von schnöder Kompanei bestimmt wird. Wenn Voltaire dem Tanz der Materie ein „ungenügend“ ausstellt und Leibniz die Bestnote hochhält, dann haben sie tatsächlich nur für unterschiedliche Teams gestimmt.

    Möglichkeiten sind übrigens mehr, als nicht konkretisiertes Sein. Sie sind der eigentliche Beweis für die Bewegung der Materie. Denn die Bewegung selbst sieht man nicht, kann man nicht wahrnehmen, ist eine, wie ihr Liebling Parmenides schon wußte, Illusion. Was es aber tatsächlich und wahrnehmbar gibt, das sind Möglichkeiten; und wenn etwas möglich, aber nicht eingetreten ist, dann muss es eine Veränderung geben, in deren Effekt die Möglichkeit denkbar wird. Veränderung, das ist Bewegung.

    Möglichkeit ist Veränderung, Veränderung ist Bewegung, Bewegung ist Tanz, Tanz ist schwul. Das ist der Grund für Leibnizens Riesenperücke.

  4. Teuerster Piet, jetzt wirbeln Sie mir Ihre Begriffe ums Hörwerk, daß man fast meinen könnte, Sie wären der Tänzer von uns beiden und nicht ich. Dabei brauche ich es einem Physiker wie Ihnen eigentlich nicht zu erklären, daß Bewegung keine immanente Eigenschaft der Materie ist, sondern im Gegenteil alle Materie nach dem Zustand ihrer größtmöglichen Ruhe strebt (Entropie nennt der Fachmann das, wofern ich nicht irre). Natürlich ist die Bewegung stete Begleiterin der Materie, aber wo Bewegung stattfindet, ist diese immer das Resultat der Reaktionen verschiedener Materien; selbstbewegte Materie (Leibniz mag es mir verzeihen) gibt es nicht. Materie bewegt sich nur, wo sie gezwungen wird, und dieser Zwang kommt nicht aus ihr selbst, sondern aus den Verhältnissen, die sie eingeht (oder eingegangen ist), mag es sich dabei nun um Gravitation, Kernspaltung oder chemische Reaktionen wie z.B. das Verbrennen handeln.

    Beim Tanz wiederum ist es noch ein wenig anders. Zwar ist der Tanz eine Bewegung, aber nicht jede Bewegung ist Tanz. Tanz ist eine Bewegung, der eine Absicht zugrundeliegt, etwas Bewußtes also, das zunächst im Kopf sich bildet, bevor es in die Tat umgesetzt wird – ein Telos, ein Paradigma, eine Idee und was es an derartigen Ausdrücken noch gibt. Dem Tanz geht, wie allen bewußten Tätigkeiten, die Intention voraus. Nur beseelte Körper tanzen, aber auch die nicht aus sich selbst heraus, sondern deswegen, weil der menschliche Geist, der in diesen Körpern steckt, es ihnen befielt.

    Und so wir das nun wirklich bestimmt hätten, kann man sich des Auspruchs noch einmal entsinnen: Gerade daß der Körper, von dem jedes Kind weiß, daß er allein das Medium ist, in dem sich der Tanz überhaupt verwirklich und so darstellen kann, aufgrund seiner Trägheit zugleich das größte Hindernis des Tanzes ist, macht doch die Paradoxie von Idee und Materie aus, wenn beide derart wechselwirken, wie ich es beschrieben habe. Genau darauf, daß jede Realisierung einer Idee, wenn sie sich in der Wirklichkeit behaupten muß und das nur zu deren Bedingungen kann, eine Deformation erfährt und sich zumindest doch etwas anders realisiert, als es ursprünglich beabsichtigt war, wollte ich mit der Metapher hinaus. Wirklichkeit, das war die Aussage, ist die größte Ermöglicherin und zugleich die größte Verhinderin unserer Vorhaben. Ersteres, weil in ihr allein Verwirklichung von Absichten möglich ist; letzteres, weil keine Verwirklichung, die nicht ihrem Urbild auch eine Veränderung antäte.

    Was wiederum Ihren Begriff der Möglichkeit angeht, so ist das auch hier weniger eine Korrektur meines Begriffs, sondern vielmehr eine etwas anderes Belegung dieses Begriffs. Schlagen Sie bei Gelegenheit einmal das Buch Delta der Aristotelischen Metaphysik auf, darin Aristoteles die verschiedenen Verwendungsweisen solcher Grundbegriffe wie z.B. Anfang, Ursache, Substanz, Akzidens, Bewegung und eben auch Möglichkeit ausführt. Er macht dort im Begriff der Dynamis bereits eine Unterscheidung, die der Unterscheidung zwischen unseren beiden Verwendungsweisen zumindest im Ansatz nahekommt. Sie haben den Begriff der Möglichkeit ontologisch akzentuiert, im Sinne des Potentials, das einer konkreten Sache innewohnt, das sich also aus den aktualen Gegebenheiten und somit aufgrund der vorhandenen Wirklichkeit ergibt. Das ist aber ein bereits enger bestimmter Begriff von Möglichkeit. Der logische Begriff der Möglichkeit, genauer: der modallogische, zielt rein auf die Menge alljener Dinge, die nicht unmöglich sind (Möglichkeit als kontradiktorisch bestimmtes Gegenteil der Unmöglichkeit). Diese Menge ist größer als die Menge der Vermögen, die im aktualen Zustand der Welt stecken. Sie ist sogar um ein Ungerheuerliches größer, da jede Verwirklichung zugleich die Negation unzähliger Möglichkeiten ist. Sie z.B., bester Piet, sind das Resultat einer Rekombination des Erbguts Ihrer werten Eltern. Daß bei diesem Vorgang genau der Piet Rode herausgekommen ist, der bei Ihrer Geburt zum Vorschein kam, ist letztlich ein Zufall, und dieser Zufall, die Verwirklichung Ihres genetischen Profils, war zugleich die Negation all jener Piet Rodes, die ebenso gut möglich gewesen wären. Alles, was Sie im Laufe ihres Lebens geworden sind, welche Möglichkeiten sie immer aus sich durch Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Eigenschaften ausgeschlossen haben, basiert auf dieser einen Verwirklichung der genetischen Rekombination ihrer Eltern, während all jene anderen Möglichkeiten, die dabei hätten verwirklicht werden können, das Licht der Welt, also die Wirklichkeit nie betreten haben.

  5. Dabei brauche ich es einem Physiker wie Ihnen eigentlich nicht zu erklären, daß Bewegung keine immanente Eigenschaft der Materie ist, sondern im Gegenteil alle Materie nach dem Zustand ihrer größtmöglichen Ruhe strebt (Entropie nennt der Fachmann das, wofern ich nicht irre).

    Wissbegieriger Herr Bartels,

    selten hat Ihre hochverehrte Feder so einen kapitalen Bock geschossen. Ich bitte Sie, meiner Beteuerung Glauben zu schenken, dass keinerlei Rauflust mich zu dieser Erwiderung treibt. Ganz im Gegenteil, ich wünsche sehr, mit Ihnen in ruhig überlegter Heiterkeit zu parlieren; in diesem Fall aber macht sich Richtigweisung nötig.

    Entropie, das ist eine thermodynamische Zustandsgröße, die ein Maß für die Anzahl der möglichen Mikrozustände ist, durch welche ein gegebener Makrozustand realisiert werden kann (somit ist sie tatsächlich eng mit dem Möglichkeitsbegriff verbunden). Salopp gesprochen ist sie ein Mass für die Unordnung; die Entropie kann uns Aufschluss über Art und Ablauf der möglichen Prozesse in einem System geben; der Energieerhaltungssatz wacht dabei über die richtige Bilanz.

    Ich schätze, was Sie bewog, von Entropie zu reden, ist die Rede vom Wärmetod des Weltalls, der wieder der Zustand größtmöglicher Entropie wäre (welcher, dem 2. Hauptsatz zufolge in einem geschlossenen System immer angestrebt wird). Wärmetod, das klingt nach ewiger Ruhe, nach Bewegungslosigkeit. Tatsächlich ist es nur eine Bezeichnung für die vollkommene Gleichverteilung jeglicher Bewegung, nicht aber für ihr Ausbleiben.

    Womit wir bei der Frage wären, ob Bewegung eine immanente Eigenschaft der Materie sei. Kennen Sie den Herren X, von dem im folgenden Zitat die Rede ist?

    Vor Herrn X sprachen die Materialisten von Materie und Bewegung. Er reduziert die Bewegung auf die mechanische Kraft als ihre angebliche Grundform und macht es sich damit unmöglich, den wirklichen Zusammenhang zwischen Materie und Bewegung zu verstehn, der übrigens auch allen frühern Materialisten unklar war. Und doch ist die Sache einfach genug. Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben oder kann es sie geben. Bewegung im Weltraum, mechanische Bewegung kleinerer Massen auf den einzelnen Weltkörpern, Molekularschwingung als Wärme oder als elektrische oder magnetische Strömung, chemische Zersetzung und Verbindung, organisches Leben – in einer oder der andern dieser Bewegungsformen oder in mehreren zugleich befindet sich jedes einzelne Stoffatom der Welt in jedem gegebnen Augenblick. Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in Beziehung auf diese oder jene bestimmte Bewegungsform. Ein Körper kann z.B. auf der Erde im mechanischen Gleichgewicht, mechanisch in Ruhe sich befinden; dies hindert durchaus nicht, daß er an der Bewegung der Erde wie an der des ganzen Sonnensystems teilnimmt, ebenso- wenig wie es seine kleinsten physikalischen Teilchen verhindert, die durch seine Temperatur bedingten Schwingungen zu vollziehn, oder seine Stoffatome, einen chemischen Prozeß durchzumachen. Materie ohne Bewegung ist ebenso undenkbar wie Bewegung ohne Materie. Die Bewegung ist daher ebenso unerschaffbar und unzerstörbar wie die Materie selbst; was die ältere Philosophie (Descartes) so ausdrückt, daß die Quantität der in der Welt vorhandnen Bewegung stets dieselbe sei. Bewegung kann also nicht erzeugt, sie kann nur übertragen werden. (…)

    Ein bewegungsloser Zustand der Materie erweist sich hiernach als eine der hohlsten und abgeschmacktesten Vorstellungen, als eine reine »Fieberphantasie«. (…)

    Nun, Herr X heisst im wahren Leben Dühring und damit ist auch der Verfasser dieser polemischen Zeilen heraus.

    Die Physik ist in der Sache etwas heterogen. Bewegungen kommen nicht in allen großen Theorien vor. Weder in der „klassischen“ Quantenmechanik, noch in der Thermodynamik, die eigentlich Thermostatik heissen müsste. Explizit kommen Bewegungen in der klassischen und relativistischen Mechanik vor, sowie in Teilen der Nicht-Gleichgewichtsthermodynamik und in der Elektrodynamik. Die allgemeine Relativitätstheorie legt nahe, dass Materie Bewegung sei; ihre berühmte Formel (E=mc^2) läßt sich in diesem Sinne interpretieren.

    In der Quantenmechanik liegt die Sache anders; interessanter, würde ich sagen. Auf die komme ich deshalb gesondert und in Zusammenhang mit dem Möglichkeitsbegriff zu reden.

    Bald.

    PS: Die Sache mit dem Tanz betreffend. Das war natürlich ein Scherz und ich würde darüber keinen ernsthaften Disput führen wollen. Wenngleich ich Ihnen doch noch diesen feinen Stich versetzen will, dass ihre Bestimmungsbemühungen (die ich verstehe und eigentlich gar nicht angreifen will) vor der Aufgabe zuschanden werden, den Tanz, den zu bestimmen Sie sich mühten (Walzer, Foxtrott, Salsa etc), begrifflich sauber vom Paarungstanz der Ameisen zu trennen. Es sei denn, Sie sagen einfach: Tanzen, das können nur Menschen. Und selbst die eher schlecht.

  6. Sie haben, bester Piet, völlig Recht: Ich hätte nicht von Entropie, sondern von dem universellen Streben zur größtmöglichen Entropie sprechen müssen. Das ist natürlich ein horrender Unterschied, ein kapitaler Bock, wie er kapitaler und bockiger nicht sein könnte, und ich bin mir sicher, daß noch unsere Kindeskinder ihren Sprößlingen davon berichten werden …

    Und wenn wir übrigens schon bei kapitalen Böcken sind: E=mc^2 ist Element der speziellen, nicht der allgemeinen Relativitätstheorie. Sie sehen: auch ich kann aus Ungenauigkeiten, die nicht weiter stören, Staatsaffären machen, anstatt mich zu bemühen, auf die Sache selbst einzugehen.

    Zu der wäre in diesem Fall zu sagen: E=mc^2 drückt die Äquivalenz von Masse und Energie aus und bedeutet nichts anderes, als daß es sich bei Masse und Energie um zwei verschiedene Formen derselben Sache handelt. Einstein hat Masse einmal als „festgefrorene Energie“ bezeichnet. Die Metapher ist brauchbar. Nehmen wir also Wasser und Eis, beides Zustände derselben Substanz. Es ist einfach falsch zu sagen, Eis fließe, weil auch Wasser fließt und Eis nichts anderes als Wasser in anderer Form sei. Eis fließt nicht, außer es schmilzt, aber dann ist es bereits Wasser. Dasselbe gilt von der Materie; man kann sie in Energie umwandeln, aber dann ist sie keine Materie mehr.

    Abgesehen von dieser einen Sache meine ich, daß Ihre Ausführungen interessant und richtig sind; und doch meine ich auch, daß Sie damit keinen wirklichen Einwände gegen meine Aussagen bringen. Das ganze Universum strebt seinem energieärmsten Zustand entgegen, das leugnen Sie nicht, sagen es im Grunde gar selbst. Das aber war, worauf ich hinauswollte. Der Stein, der auf den Boden fällt, fällt, nachdem er sich abgekühlt hat, nicht wieder nach oben; eine Eigenschaft, die, sofern ich mich meines Physikunterrichts korrekt erinnere, durchaus mit dem Prinzip der Entropie zu tun hat. Und ja: mir ist sehr wohl bekannt, daß Mitte der Neunziger ein paar Chaostheoretiker beweisen wollten, daß es immerhin möglich sei, daß der Stein wieder nach oben fliegt. Aber gesehen hat dergleichen natürlich noch nie einer.

    Ich hätte mich ehrlich gesagt ein wenig gefreut, wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, mein Argument nachzuvollziehen. Ich habe nicht gesagt, daß Bewegung und Materie nichts miteinander zu tun haben, sondern ich habe die Formen der Bewegungen sämtlich auf Verhältnisse zurückgeführt, die zwischen verschiedenen Materien bestehen und eingegangen werden. Es ging darum, daß Materie sich nie von selbst bewegt, sondern nur, wenn und indem sie Verhältnisse eingeht mit anderen Materien. Und in Bezug auf diese Aussage ist es nun wirklich kein Einwand, wenn Sie mir versichern, daß Bewegung der stete Begleiter der Materie ist. Das, wie gesagt, habe gar ich nicht abgestritten.

    Überrascht bin ich dann doch darüber, wie bibelfest Sie sind. Aber ich muß Ihnen auch gestehen, daß mich der biedere Friedrich Engels ziemlich langweilt. Das war nicht immer so. Als ich dreizehn war, habe ich die Dühring-Schwarte verschlungen und zweifellos – ich wußte danach einfach alles über alles. Das ist das Verführerische an diesem Buch, es hilft einem genau so lange weiter, als man nichts anderes liest. Es ist die Bibel der lesefaulen Marxisten.

  7. Ich gestehe, beeindruckender Herr Bartels, die gestrige Erwiderung nur eben so hingerotzt zu haben (und den Anti-Dühring per copy/paste als fremdes Fleisch in die fade Suppe zu geben), weil es mir an Zeit gebrach. Tatsächlich habe ich ihr Hauptargument verfehlt und mich in Nebenschauplätzen als Heroe gegeben; das ist nach Art der Jämmerlinge, die sich, weil es ihnen an Kraft und Gedankenmut mangelt, mit Windmühlen prügeln, deren Flügel sie selbst erst drehen müssen.

    Ich habe so einen Korrektheits-Tick. Deshalb. Deshalb auch, dass ich wieder sanft korrigierend versetze: Nicht der energieärmste Zustand vom Universum wird angestrebt, denn die Energie bleibt ja stets konstant und wird nur umgewandelt. Der wahrscheinlichste Zustand wird angestrebt, sagt der zweite Hauptsatz, und das wäre in diesem Formalismus der Zustand vollkommener Gleichverteilung aller Massen/Energien.

    Komisch und bislang nicht verstanden ist, dass gerade der umgekehrte Prozess die Entwicklung des Universums kennzeichnet. Anstatt einer zunehmenden Homogenisierung findet eine Zunehmende „Entmischung“ statt, es gibt da einen steten Hang der Materie, sich zu organisieren und eine höhere anstatt einer geringeren Ordnung einzunehmen. Die beiden gegenläufigen Prozesse finden beständig statt: Dass Homogenisieren (Zerstrahlen, Energieangleichung) und das Zusammenballen/Organisieren. Für das erstere gibt es einen schönen Formalismus, das zweitere wird nach wie vor nur phänomenologisch verstanden, d.i. man kann es, wenn es statthat, beschreiben, aber man hätte es nicht ohne Weiteres vorhersagen können. Allein ein Aggregatzustand wie der flüssige (um auf ihr Eis/Wasser-Beispiel zu kommen) wird nur durch zusätzliche Phänomenologie fassbar; natürlich ist just dieser eigenartige Zustand dann der, der das Leben gebiert. Die Organisation/das Komplexe ist keine Konsequenz irgendeiner physikalischen Theorie, kann aber (teilweise) mit ihrer Hilfe beschrieben werden. Das ist zwar schön, reicht aber nicht aus. Ich finde, da liegt ein dicker Hund begraben.

    Das ist natürlich unser Thema nicht. Sie fragen, ob Bewegung der Materie immanent sei und halten dagegen, sie sei ihr Begleiter. Wenn wir das genauer untersuchen wollen, müssen wir uns auf einen Materie-Begriff einigen und einen Bewegungs-Begriff; das ist das Mindeste. Ich bin leider furchtbar knapp bei Zeit und deshalb zu Tieferem gerade nicht aufgelegt.

    Ich will Ihnen darum nur ein paar Fragen vorlegen, die ohne Begriffsklärung versuchen, Ihren Denkbahnen zu folgen: Sie sagen, Materie bewege sich nicht von selbst. Woher, wenn Sie Gott draussen lassen wollen, bewegt sie sich denn sonst? Überdies ist ja auch die gleichförmige, unbeschleunigte Bewegung ein statischer Zustand, den ein Körper, wenn wir von den Prozessen die in seinem Innern ablaufen absehen, ewiglich inne behielte. Aber auch, wenn wir von diesen Dingen absehen: Sie sagen, Materie würde sich nie von selbst bewegen, sondern nur, wenn und indem sie Verhältnisse eingeht mit anderen Materien. Zweierlei Argumente: Sie wissen, dass es ebenso gut möglich ist, unser „Koordinatensystem“ umzukehren, und die Materie als Resultat eben dieser Wechselwirkungen anzusehen; das ist das Bild der Dialektiker. Nicht die Materien gehen Verhältnisse ein, sondern die Verhältnisse sind so beschaffen, dass sie sich unter Umständen wie Materie anfühlen. Das zweite Argument ist die Ursachenfrage: Wie kann es sein, dass Materie Verhältnisse eingeht mit anderen Materien (und sich in dieser Verhältnisbildung bewegt), wenn sie nicht schon vorher in Bewegung war? Das ist eigentlich Engels Argument. Wären die Materie statisch, könnte sich nichts in ihr ereignen. Es sei denn, füge ich hinzu, sie würde sich doch aus sich selbst heraus bewegen können.

    Inbetreff des Dühring meine Zustimmung. Das Ding ist stellenweise ermüdend polemisch und besserwisserisch. Gerade das macht die Lektüre für das jugendliche Zunderhirn so erbaulich. Ich las die Sache zwar nicht ganz so frühreif, wie sie, aber mit 15 oder 16. Und war fast ein bisschen enttäuscht, wie einfach die Welt doch in Wirklichkeit war. Erst jüngst bin ich wieder durch (deshalb wusste ich die Stelle aus dem Gedächtnis) und musste mir in Scham eingestehen, wie wenig ich damals kapiert hatte und wieviel trübe Nebelschwaden ich als die allerklarste Denkluft nahm.

    Aber das ist wahrscheinlich die Wahrheit daran. Die klarste Denkluft ist, wenn man sich in den tiefsten Nebel heineinwagt.

  8. In aller Kürze, eminenter Piet, muß auch ich Ihnen antworten. Dieser Nachteil ist eigentlich ein Vorteil, weil er bedeutet, daß wir Wichtigeres zu schaffen haben. Lassen Sie mich kursorisch die zweieinhalb Stichpunkte abarbeiten, um die es geht.

    Begriffsklärung, von Ihnen verlangt: Materie habe ich hier von Beginn an als Stoff verstanden. Die schwammige Definition, die diesem Begriff durch Engels zuteil wurde, akzeptiere ich nicht. Materie umfaßt den stofflichen Bestand der Welt und ist also nicht einfach der Inbegriff der Welt, weil diese begrifflich mehr ist, als ihr bloß stofflicher Bestand (Energie z.B. ist unbestreitbar Teil der Welt und dennoch keine Materie). Auch innerhalb der Tradition des Dialektischen Materialismus ist Engels‘ Begriff keineswegs durchgesetzt. So schlägt Lenin z.B. den Begriff „objektive Realität“ vor, und Marx spricht gewöhnlich von „materiellen Verhältnissen“. Ich neige dazu, beider Sprachgebrauch nicht für zufällig zu halten.

    Sie haben recht, wenn Sie präzisieren, daß Energie nicht verlorengeht, sondern nur umgewandelt wird. Was ich indes mit dem „energieärmsten Zustand“ meinte, war nichts anderes als jener Zustand des größtmöglichen Angleichs des Energiebestandes zwischen verschiedenen Massen, den Sie präziser zu bezeichen sich herausnahmen. Ich erinnere mich, daß im Physikunterricht die Unterscheidung zwischen Energie überhaupt und effektiver Energie getroffen wurde. Des genauen Begriffs entsinne ich mich nicht mehr, kann sein, daß es auch Nutzernergie o.ä. hieß; gemeint war jedenfalls Energie, die „verbraucht“, d.h. so umgewandelt wurde, daß sie nicht mehr nutzbar ist. So z.B. die zwischen zwei Flüssigkeiten unterschiedlicher Temperatur. Wenn beide gemischt werden, kommt es termodynamisch zum Ausgleich, bis beide dieselbe Temperatur haben. Ist dieser Zustand erreicht, besitzen beide Materien zwar immer noch ihre Energie, aber diese Energie ist nicht mehr nutzbar, also auch nicht mehr tauglich, Bewegungen (welcher Art immer) zu erzeugen. Es ist jenes Streben nach der größtmöglichen Gleichheit der Energieniveaus und somit auch das Streben nach dem bewegungsärmsten Zustand. (Als Unordnung, wenn ich das richtig erinnere, bezeichnet man diesen Zustand, weil Gleichheit als das Gegenteil von Ordnung aufgefaßt wird, worin ja eine gewisse Logik liegt.)

    Die gleichförmige Bewegung im Vakuum wäre kein Beispiel für selbstbewegte Materie, sondern für ihre Trägheit. Das Universum, das expandiert, ist (die Gravitation lasse ich jetzt außen vor) nur im kinematischen Sinne bewegt, nicht im dynamischen. Das heißt: die Bewegung bleibt, wie sie ist, wenn keine weiteren Kräfte wirken, und das Gleichbleibende dieser Bewegung ist nichts anderes als die Ruhe, die Trägheit der Materie.

    Gravitation wiederum verdeutlicht, worauf ich mit meiner Aussage hinauswollte, daß alle Bewegung nicht aus der Materie selbst kommt, sondern aus den Verhältnissen, die verschiedenen Materien miteinander eingehen. Angenommen, das gesamte Universum bestehe aus einer einzigen zusammenhängenden und gleichförmigen Masse, der Rest ist Vakuum. Denken wir uns ferner den Urknall weg, der den urtümlichen Impuls zur Expansion des Universum verursachte. Dann wäre selbst dann, wenn die Masse des Universums, und somit die Krümmung des Raums, ungeheuer groß wäre, diese Masse nicht in Bewegung, denn Graviation wirkt sich nur dort als Bewegung aus, wo ein Körper auf einen anderen wirken kann.

    Ähnlich auch ist es bei allen Bewegungen, die durch chemische Reaktionen erzeugt werden: nie reicht das Vorhandensein eines Elementes aus; ein Element allein tut überhaupt nichts. Um eine Reaktion zu bekommen, d.h. Energie so umzuwandeln, daß sie in Bewegung sich äußert, bedarf es mindestens eines zweiten Elementes, durch das Reaktion erzeugt werden kann. Oder aber einer Energiezugabe von außen, etwas in dem Sinne, wie man mit einer Sammellinse einen Sonnenstrahl bündelt, um einen brennbaren Stoff zur Entzündung zu bringen.

    Jede Bewegung, meine ich, muß eine dynamische Ursache haben (oder gehabt haben), und diese Usrache – welcher Art sie immer sei – kann nicht aus der zur Bewegung gebrachten Materie selbst kommen, sondern muß von außen, durch das Einwirken einer anderen Materie erfolgt sein. Nur deswegen, weil das Universum eine schier unendliche Ansammlung von Materien ist, die stets aufeinander einwirken und wechselwirken, findet Bewegung statt.

    Sie sprechen von zwei Prinzipien des Universums: dem Bestreben zur möglichst gleichmäßigen Verteilung der Energie, also der größtmöglichen Unordnung, und dem Bestreben zu höheren Formen der Ordnung, was sie am Beispiel der organischen Chemie verdeutlichen. Ich würde hier nicht von zwei Prinzipien sprechen, sondern eher davon, daß die Bildung organischer Chemie und somit der Biologie an einigen, wenigen Orten im Universum für eine im Gesamtmaßstab doch recht kurze Zeit nur zeigt, daß man es sich selbst im Untergang für eine Zeit ein wenig gemütlich machen kann. Das menschliche Leben ist eine kurze Party auf der langen Rutsche, die da heißt: der Tod des Universums.

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