Jul 012009
 

Ja, ich und Kant, nicht: Kant und ich.

Das war nie eine besondere Liebesgeschichte. Natürlich ist man als normaler Mensch geradezu verpflichtet, sich für Kant zu interessieren, und so gab und gibt es auch bei mir ein stets lebhaftes Interesse an ihm. Allerdings starb das immer in dem Maße, in dem ich dann diesem Interesse Folge leistete und ihn las. Und es wuchs genau in dem Maße, in dem ich es dann wieder nicht tat. Es ist, als wäre da eine Stahlfeder zwischen uns, Kant und mir, pardon: mir und Kant: Repulsion und Attraktion sinken jeweils in genau dem Maße, in dem man diesen Strebungen nachgegeben hat. Die Lektüre erzeugt Abstinenz und umgekehrt. Allein deswegen also schon, weil ich unfruchtbare Bewegung und Entwicklung zu unterscheiden weiß, bin ich mit Kant nicht gut Freund.

Wenngleich da jetzt auch nicht eben Feindschaft ist. Kant ist nicht Fries oder Nietzsche, will sagen: er ist kein Ochse und auch kein Scheusal; er ist groß und singulär. Nur: Es gibt, ungeachtet aller Bedeutung, die ich nicht leugne, nichts an Kant, das mich reizt. Man kann sagen, ich respektiere ihn, aber ich liebe ihn nicht. Interessant wieder, daß es dagegen keinen Philosophen gibt, den ich zwar liebe, jedoch nicht respektiere (denkbar immerhin wäre auch das). Respekt als notwendige Voraussetzung für Vorliebe, nicht aber hinreichende.

Politisch war Kant unterbelichtet. Er hat sich den Unmut Friedrichs II. zugezogen, weil er russischen Offizieren, während die Königsberg besetzt hielten, Exerzierunterricht gegeben hatte. Auch hatte er einen Treueeid auf das russische Zarenreich geleistet. Seine Schrift zum Ewigen Frieden hinwieder ist von einer Einfalt, die man zwar oft im Volke antrifft, nur ist das wohl gerade für einen erlesenen Geist keine Entschuldigung, daß er dasselbe Zeug redet, das auch die Blumenmädchen daher schwatzen. Im übrigen ist der Ewige Frieden ein neuzeitlicher Aufguß der Peri Eirenes des Isokrates, die, zugegeben, noch einfältiger ist (obgleich hier angemerkt sei, daß Isokrates, anders als Kant, im hohen Alter tatsächlich etwas wie Vernunft angenommen hat, indem er sich nämlich im Angesicht der sich zum Sieg anschickendenen Monarchie der Makedonier dem König Philipp anschloß; Philipp ist jener Herrscher, der den Griechen die nationale Einheit gegeben hat, die den Deutschen nicht nur bis zu Kants Zeiten fehlte).

Kants Ethik ist (wie alle Ethiken seit Aristoteles) im Grunde überflüssig. Wo Ethik nicht auf Haltungen, sondern Handlungen hinauswill, bekommt sie immer etwas Schulmeisterhaftes. Wo Ethik nicht Forschung, sondern nur Vorschrift ist, besteht der Fortschritt auf ihrem Gebiet darin, daß man unterläßt, eine zu schreiben. Der kategorische Imperativ ist eine Maxime, die nur aufstellen konnte, wer mit dem wirklichen Leben nicht vertraut ist, will sagen: im Leben aus Königsberg nicht heraugekommen ist. Nur wenn einem die ganze Welt wie Königsberg erscheint, kann man glauben, daß es Handlungsmaximen gibt, die universell anwendbar sind. Die ethische und erst recht die politische Praxis fordert vernünftige und konkrete Entscheidungen, und was vernünftig ist, liegt in jeder einzelnen Situation selbst. Anstatt also zu fordern, stets so zu handeln, daß man die Handlung zu einem allgemeinen Gesetz erheben könnte, wäre es sehr viel interessanter, die Gesetze des Handelns zu erforschen, das also, was die Menschen dazu bringt, dies oder jenes zu tun. Das hat z.B. Aristoteles getan, der sich auch darin auszeichnet, selbst innerhalb seiner Ethik die Menschen mit Imperativen in Ruhe zu lassen.

Schließlich dort, wo Kants eigentliche Leistung liegt, in der Erkenntnistheorie, ist er ganz von gestern. Wie unendlich wichtig war die Revolution, die er im Denken ausgelöst hat. Und wie unendlich nichtig war es, nachdem Hegel dieselbe zu einem neuen Positiven aufgehoben hatte, sich auf diese Revolution zurückzubesinnen. Wie absurd eine solche Rückbesinnung ist, zeigt die Philosophie Schopenhauers. Der, betonen manche, habe Kant falsch und flach ausgelegt. Sicher, konzediere ich, aber das ist eben unvermeidlich, wenn man auf etwas zurückgeht, dessen grundlegende Schwäche bereits erkannt wurde. Kant für Schopenhauer verantwortlich zu machen wäre sicher genauso falsch wie Brecht für Heiner Müller. Und dennoch: Es trägt nicht eben zum Ruhm beider Genies – Brechts und Kants – bei, daß sich derart Plattes wie die Philosophie Schopenhauers oder die Ästhetik Heiner Müllers aus ihnen, und ohne Mühe, ableiten ließ.

Kant war, ich sagte es schon, ein Großer. Und wenn ich oben geschrieben habe, daß ich ihn ungern lese, dann war das vielleicht etwas geflunkert (schließlich: wir schreiben nicht, um immer und zu jeder Zeit, etwas Wahres zu bekennen, sondern weil wir eine bestimmte Wirkung erzielen wollen). Ich will Kant nichts von seiner Größe absprechen. Aber ich fürchte, ihm wird bis zum Ende der Makel anhaften, daß er so ganz anders als ich gewesen ist. Je mehr ich ihn lese, desto klarer wird mir, daß die einzige Gemeinsamkeit, die er und ich haben, die ist, daß wir in unserer Jugend hervorragende Billard-Spieler waren.

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