Jul 022009
 

Die Frage, ob in der Philosophie Entwicklung, d.h. Bewegung im Sinne eines Ganges vom Niederen zu Höhern, stattfindet, dürfte wohl kaum eine sein, auf deren Beantwortung sich die Menschen einmal werden einigen können. Es gibt gute Gründe, sie mit ja zu beantworten, und es gibt gute Gründe, ihre endgültige Beantwortung vielleicht noch etwas auszusetzen. Und es gibt gute Gründe anzunehmen, daß dieses Noch eines von Dauer und also eigentlich nur ein vermeintliches Noch ist (denn ein Noch, das immer gilt, verliert seine Geltung). Sicher zumindest scheint, daß, wenn Entwicklung in der Philosophie statthat, sie von anderer Art ist als die naturwissenschaftlich-technische, die weitgehend linear verläuft, und auch anders als die gesellschaftliche, die über Negationen vermittelt ist, doch über größere Zeiträume hinweg – zumindest bis dato – stets noch Verbesserung der menschlichen Lebenslage bewirkt hat. Die Philosophie dagegen setzt vielmehr in längeren Abständen ihre Highlights und scheint in den Zwischenzeiten vorzüglich damit beschäftigt zu sein, gegen diese Gipfelpunkte zu rebellieren, vulgo: sich zum Esel zu machen.

Doch es gibt Beziehungen zwischen früheren und späteren Philosophen, die aufeinander aufbauen, sowie zwischen gleichzeitigen, die aufeinander produktiv reagieren. Bemerkenswert wird das überall dort, wo nicht bloße Entgegensetzung diese Beziehungen ausmacht, sondern auch eine positive Aufnahme stattfindet. Wo das Gleiche sich im Anderen zeigt, wo Veränderung das Wiederherstellen des bereits Errungenen ist, da scheint mir in der Philosophie tatsächlich Entwicklung stattgefunden zu haben.

Ein Exempel hierfür ist die Definition des Menschlichen, die von drei mir recht vertrauten Denkern gegeben wurde:

Das Leben scheint der Mensch mit den Pflanzen gemein zu haben, gesucht ist aber die ihm eigentümliche Leistung. Das Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszusondern. Als nächstes käme das Leben der Wahrnehmung, doch auch dieses teilt der Mensch offenkundig mit dem Pferd, dem Rind und überhaupt mit jedem Tier. Übrig bleibt also ein tätiges Leben desjenigen Bestandteils in der menschlichen Seele, der Vernunft besitzt.

Aristoteles, Nikomachische Ethik (1097b33ff).

Wenn es aber richtig ist (und es wird wohl richtig sein), daß der Mensch durchs Denken sich von Tiere unterscheidet, so ist alles Menschliche dadurch und allein dadurch menschlich, daß es durch das Denken bewirkt wird.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Einleitung, § 2).

Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.

Karl Marx, Das Kapital I (III, 5).

Die drei Denker sagen hier im Grunde dasselbe, obwohl doch ersichtlich ist, daß jeder von ihnen es auf genau die Weise sagt, die für sein Denken und seine Philosophie typisch ist. Aristoteles geht von einer artspezifischen Leistung (ergon) eines jeden Dings auf Erden aus: so wie die Fähigkeit des Schneidens das Messer definiert, definiert seine Vernunftbegabtheit den Menschen. Zugrunde liegt hier natürlich das bis heute gültige Prinzip der Definition als Beieinander von Gattung (genos) und Art (eidos), als Bestimmung des spezifischen Unterschieds (diaphora, differentia specifica), der eine Sache begrifflich von anderen trennt. In derselben Weise bestimmt auch Hegel das Menschliche; nur daß bei ihm das Teleogische wegfällt. Der Mensch hat kein Telos, keine Funktion in der Welt, sondern ist bei Hegel einfach durch das bestimmt, was er wesentlich ist. Eine Wiederkehr feiert das Telos dann bei Marx, allerdings nicht als etwas, das dem Menschen vorausgeht, sondern als etwas, das der Mensch selbst seiner eigenen Tätigkeit vorausschickt. Wenn gemeinhin gesagt wird, die Definition des Menschlichen beruhe bei Marx auf der Arbeit, so wird übersehen, daß bei Marx der Begriff der Arbeit selbst auf der Vernunft beruht. Marx bestimmt den Menschen nicht anders als Hegel und Aristoteles, und das, obgleich in der Politischen Ökonomie diese Bestimmung nicht das eigentliche Ziel der Disziplin ausmacht.

  One Response to “Drei Definitionen des Menschlichen”

  1. Dazu passt dann doch nicht nur der Taylorismus, aber auch.
    Vielen dank.
    In der Kunst – wie werden da spaeter Vernuenftige denken?
    Ich freu mich ueber diese Beitraege zum Leistungsbegriff.
    Er schließt nicht aus, dass der Narr lehren darf (Shakespeare, Ohrenkuss)

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