Jul 032009
 

Jeder Mensch, ob er will oder nicht, muß sich ein Bild von der Welt machen. Jedes Bild, ob sein Schöpfer es will oder nicht, behauptet eine Einheit. Wir können die Welt nur als Einheit auffassen, wie verschiedenartig immer die Strukturen sein mögen, die wir innerhalb des Bildes zulassen. Die Weltbilder unterscheiden sich nicht darin, daß sie eine Einheit der Welt behaupten oder nicht, sondern allein dadurch, wie weit die in ihnen behauptete Einheit der Wirklichkeit gerecht wird.

Es ist natürlich, daß man nicht mit ausgereiften Modellen debütieren kann. Jeder Gedanke bedarf der Probe. Ein Weltbild, da es aus vielen Gedanken besteht, bedarf vieler Proben. Es wird sich, will es den Geistesstand seines Schöpfers verkörpern, im Laufe dieser Proben an vielen Stellen ändern müssen. Diese Änderungen können mit der Zeit umschlagen und das Weltbild grundlegend umgestalten, d.h. ihm eine neue Gestalt, ein neues Verfahren oder auch eine neue Grundlage geben. Ob das geschieht, hängt davon ab, wie glücklich der erste Griff war. Der erste Griff ist immer zufällig. Manches Zufällige indes bewährt sich und wird so ein Gültiges. Der Regelfall jedoch ist die Umgestaltung. In seiner neuen Form gleicht das Weltbild sich selbst kaum mehr. Es scheint dann stets, als habe eine gewaltige Revolution stattgefunden, und tatsächlich ist dies ja auch der Fall. Nur kam die eben nicht aus dem Nichts, sondern ist das schließliche Ergebnis eines steten Prozesses konkreter Akkumulation von Wissen.

Nicht Umdenken also macht ein besseres Weltbild, sondern Mehrwissen. Der Makel der Jugend ist nicht ihr Mangel an Scharfsinn, sondern ihr Mangel an Wissen. Die Gedankenbewegungen junger Menschen sind naturgemäß leere Übungen, eine Art Gymnastik ohne Leib. Denken, das nicht auf Wissen beruht, führt selten zu sinnvollen Ergebnissen.

Aus dieser Erkenntnis kann man nun sehr verschiedene Schlüsse ziehen. Wie, so die Steitfrage, soll die Didaktik mit ihrem grundlegenden Problem umgehen, daß sie das Fortkommen von Individuen regeln soll, indem sie voraussetzen muß, was noch nicht da ist?

Immanuel Kant (in der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre 1765-1766) schlägt vor, die Lehre so zu gestalten, daß man die Jugend an der Ausübung der Vernunfttätigkeit hindert und sie die „Quarantaine“ des Verstandesdenkens durchlaufen läßt. Das meint: zunächst soll die Jugend Wissen und Erfahrung sammeln, die exakten Wissenschaften pauken und das Handwerk des verständigen Denkens gründlich lernen, während sie in dieser ganzen Zeit sich der Unternehmung enthalten soll, scharfe, spekulative Schlüsse zu ziehen und sich daraus ein Weltbild zu formen. Nicht „kühnen Schwung“, so Kant, soll der junge Mensch nehmen, sondern „durch den natürlichen und gebähnten Fußsteig der niedrigern Begriffe gelangen, die ihn allgemach weiter führen“.

Ich mag dem Gelehrten da nur bedingt zustimmen. Richtig ist, daß die Gedankenbewegungen der Jugend, betrachtet man sie allein nach dem Wert, den sie philsophisch oder wissenschaftlich haben, in der Regel fruchtlos sind. Geht es aber darum, was den Menschen weiterbringt – und diese Frage ist die, die Kant sich an besagter Steller ausdrücklich stellt -, so muß man doch fragen, ob nicht auch jenes Umtun der Jugend im Bereich der Vernunft für die Entwicklung der Jugend förderlich ist. Wissen bringt weiter; aber das, was weitergebracht wird, muß doch auch bereits ein Etwas sein. Eine Korrektur setzt einen Irrtum voraus. Wie will man das Richtige finden, ohne es erprobt zu haben? Kants Verfahren, im Denken allein voranzukommen, indem man sich vom sicher Gelernten in aller Vorsicht und ohne die Kühnheit des Geistes nach oben tastest, würde keine Denker, sondern Buchhalter erzeugen. Kein Genie ohne Erziehung, aber auch kein Genie, das unerzogen nicht der schrecklichste Anarchist sein müßte. Es braucht doch beides: die Form und die Kraft.

Ferner: Muß nicht auch die Vernunft trainiert werden? Oder bildet sie sich allein dadurch, daß Verstand sich bildet? Vernunft und Verstand sind zwei Denkweisen, die gegenläufige Verfahren sind. Man braucht sie beide, aber man kann nicht die eine aus der anderen lernen. Sie müssen von Beginn an parallel betrieben werden, und ihr Wettstreit bringt in einer Art streitender Eintracht etwas Brauchbares hervor: ein Weltbild.

Und wenn wir übrigens schon beim Erfahrungswissen sind: Ein wenig mehr gerade davon hätte auch Kant zeigen können, als er der irrigen Annahme verfiel, man könne junge Menschen davon abhalten, auch bei noch mangelndem Kenntnisstand Verallgemeinerungen anzustellen und sich ein Bild von Welt zu machen.

  2 Responses to “Probieren oder Studieren?”

  1. Didaktik und Pädagogik. Ein weites Feld.
    Was ist eigentlich so grundsätzlich schlimm an Veralgemeinerungen der Jugend? Erwächst nicht aus dem Allgemeinen das Spezifische? Wie kann man beispielsweise die „Bellis perennis“ untersuchen, wenn man keinen Schimmer von einer Wiese hat?
    Wenn ich an meine Erfahrung als Didaktiker denke, dann wachsen mir graue Haare. Oft habe ich mir die Frage gestellt, ob in manchen Fällen man das Wissen nicht vielleicht doch in die Kinder reinprügeln sollte. Selten habe ich soviel Ignoranz und kultiviertes Unwissen auf einem Fleck gesehen wie bei mir auf Arbeit.
    Und doch spendet mir ein Gedanke immer wieder Trost:

    Jede Jugend ist von vornherein verloren. Seit Jahrtausenden klagen die Älteren über die Ignoranz und wissentliche Unwissenheit der Jugend (entsprechende Aufzeichnungen gibt es bereits bei den Ägyptern). Aber: Fehlendes Wissen und Ignoranz gehören zum Erwachsenwerden dazu. Jede Generation bringt, so erstaunlich das manchmal auch ist, ihre Größen. Nicht alle sind Zwerge.

    Dazu noch ein paar Zitate, die mir besonders gut gefallen:

    „Bereits um die Wende vom dritten zum zweiten vorchristlichen Jahrtausend wird in der Inschrift einer ägyptischen Steintafel geklagt, daß die heutige Jugend kaum noch Respekt vor den Eltern zeige, sie sei von Grund aus verdorben, voller Ungeduld und ohne jede Selbstbeherrschung; über die Erfahrungen und Einsichten der Älteren werde gespottet, es seien bedenkliche Zeiten und man müsse vermuten, daß sich in dem Verhalten der Jugendlichen Verderben und Untergang des Menschengeschlechtes drohend ankündigten.“

    „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“

    Keilschrifttext aus Ur um 2000 v. Chr.

    „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“

    Aristoteles

    „…auf ihrem Höhepunkt kennt die Jugend nur die Verschwendung, ist leidenschaftlich dem Tanze ergeben und bedarf somit wirklich eines Zügels. Wer nicht dieses Alter nachdrücklich unter seiner Aufsicht hält, gibt unmerklich der Torheit die beste Gelegenheit zu bösen Streichen…“, zu denen gehören: „Unmäßigkeit im Essen, sich vergreifen am Geld des Vaters, Würfelspiel, Schmausereien, Saufgelage, Liebeshändel mit jungen Mädchen, Schändung verheirateter Frauen.“

    Plutarch

  2. Was ist eigentlich so grundsätzlich schlimm an Veralgemeinerungen der Jugend? Erwächst nicht aus dem Allgemeinen das Spezifische? Wie kann man beispielsweise die „Bellis perennis“ untersuchen, wenn man keinen Schimmer von einer Wiese hat?

    Genau das ist mein Argument gegen Kant: Man baut sich sein Bild von der Welt anders, als man ein Haus baut. Man häuft dabei eben nicht nur Einzelwissen aufeinander, bis man endlich beim Dachstuhl angelangt ist, um dann erst dann das Dach darüber abzuschließen, sondern – um im Bild zu bleiben – die Menschen bauen von Beginn an am Dach, selbst zu Zeitpunkten, wo dasselbe noch in der Luft hängt, weil das angereicherte Baumaterial bislang nur für das Erdgeschoß reicht. Das Erwachsenwerden bestünde dann gewissermaßen darin, die Lücke zwischen dem Erdgeschoß und dem Dach zu füllen.

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