Jul 042009
 

Der Professor Lesch betont immer, daß wir nur Innenarchitektur des Universums betreiben können. Wir können, soll das heißen, weder wissen, was zeitlich vor der Entstehung desselben passiert ist, noch können wir wissen, was räumlich außerhalb desselben ist. Denn bezogen auf das Universum gibt es ein Vor und ein Außerhalb in unserem zeitlich-räumlichen Sinne nicht. Das Universum, will das wohl sagen, ist nicht unendlich.

Wenn Philosophen allerdings von Unendlichkeit sprechen, meinen sie etwas anderes als die Physiker. Physiker wissen viel über die Natur; von der Welt verstehen sie wenig. Der höchste Begriff vom Sein fordert Totalität, d.h.: die Welt als solche läßt sich nur als Einheit denken. Totalität, wenn sie auf das Sein bezogen ist, besitzt aber einen unendlichen Charakter, denn wo ein Ende wäre, müßte auch ein Übergang sein. Ein Übergang in Was-auch-immer. Es existierte dort etwas, das nicht in das Sein mit einbegriffen wäre. Das Sein aber soll das sein, was alles in sich einbegreift: was war, was ist, was sein wird, was gewesen sein könnte, was sein könnte, was sein wird können usw. (sofern ein usw. hier noch denkbar ist). Wenn also der Physiker darauf besteht, daß das Universum einen zeitlichen Anfang und räumliches Ende hat und damit also begrenzt ist, dann wird ihm niemand widersprechen, solange er nicht versucht, das Universum mit dem Sein gleichzusetzen.

Ob aus der Begrenztheit des Universums indes folgt, daß man nur seine Innenarchitektur verstehen könne, ist eine Frage, bei deren Beantwortung der Philosoph offensichtlich vorsichtiger verfährt als der Physiker. Dieser weist darauf hin, daß die Physik (wie wir sie kennen) erst durch den Urknall entstanden ist. Alles, was wir mittels der physikalischen Wissenschaft ermitteln können, so folgert er daraus, bezieht sich also auf den durch Raum und Zeit des Universums begrenzten Rahmen. So richtig die Prämisse ist, die Schlußfolgerung geht fehl. Es ist nichts anderes als die Bestimmung einer absoluten Grenze unserer Erkenntnis. Ich meinesteils konzediere gern, daß eine solche Grenze existiert, aber ich frage mich, woher die Physiker so genau wissen, wo diese Grenze liegt.

Ganz abgesehen davon, daß ich mich natürlich frage, wie sich z.B. die Hypothese von der Planckwelt, die gerade ein Versuch ist, den Zustand der Welt jenseits von Raum und Zeit zu beschreiben, zu jenem Theorem von der durch Raum und Zeit begrenzten Erkenntnis verhält, meine ich, daß auch der Physiker die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt als eine erkenntnistheoretische stellen muß, anstatt sie physikalisch zu beantworten.

Wo eine solche Grenze zu verorten wäre, ist eine Frage, die nur durch die Erkenntnisarbeit selbst bestimmt werden kann, also in der steten Praxis der Wissenschaft. Was erkannt wurde, markiert zugleich die Grenze, und schon morgen könnten wir darüber hinaus sein (wohlgemerkt: könnten, nicht werden). Ein absolute Grenze der Erkenntnis zu bestimmen, stetzte ein Wissen voraus, das wir der Bestimmung einer solchen Grenze zufolge nicht haben dürften, denn daß es sich um eine absoulute Grenze handelt, ließe sich nur von einem Standpunkt erkennen, der jenseits dieser Grenze liegt, durch den also die Grenze bereits überschritten wäre.

Ein anderer Sinn, in dem sich das Unendliche verstehen läßt, ist der, daß die Dinge auch etwas wie eine Unendlichkeit im Endlichen besitzen. Es ist aber, wie sogleich festgehalten sei, eher eine praktische Unendlichkeit denn eine theoretische.

Unendlichkeit im Endlichen, das bedeutet: ein endliches Ding teilt sich genau genommen nicht in Definition und Akzidens, also in sein Wesentliches und Unwesentliches. Streng genommen gibt es an ihm nichts Unwesentliches. Alles, was an ihm ist, trägt zu seinem besonderen Charakter bei. Hierzu zählen neben seinen immanenten Eigenheiten auch die Beziehungen, die das Ding zu anderen Dingen eingeht. Hierzu zählen sogar die unzähligen nicht erfaßbaren Möglichkeiten, die an ihm unrealisiert blieben; denn alle Möglichkeiten eines Dings beruhen schließlich auf seinen grundlegend vorhandenen Eigenschaften. Hierzu zählt ferner, daß all das seiner Natur nach dynamisch ist, während der menschliche Verstand in Bildern, Zuständen usf., in festen Bestimmtheiten also denkt.

Diese natürliche Schwelle des Denkens, die nicht wirklich überschritten werden kann, dennoch zu überschreiten macht die Schwierigkeit des unseres Denkens aus. Der menschliche Geist, weil er endlicher Natur ist, kann das Unendliche des Seins nicht anders erfassen als so, daß dem Sein etwas Widersprüchliches anhaftet. Der Widerspruch ist, was sich im Geist abbildet, wenn dieser sich in Konfrontation setzt mit dem eigentlichen Charakter der Außenwelt, von dem wahrscheinlich ist, daß er sich nicht eins zu eins im Geist abbilden kann. Die Auseinandersetzung mit dem Absoluten, der Gedanke an Grenzwerte, an das Unendliche, provoziert Widersprüchlichkeit im Denken (als eines für viele Beispiele sei hier auf die Kantschen Antinomien verwiesen, als welche diesen Beweis mit makelloser Logik führen). Nicht die Welt selbst ist also widersprüchlich, sondern das Denken, indem es, wenn es das Unendliche zu begreifen sucht, zwangsläufig auf Widersprüche stößt. Der Widerspruch ist eine Kategorie, die dem Denken hilft, über sich hinauszugehen.

Auch das Hegelsche Spekulationskonzept – gemeinhin, und nicht ganz korrekt, als Hegelsche Dialektik bezeichnet – ändert an der naturgemäßen Endlichkeit des menschlichen Verstandes nichts, aber es bemüht sich, den Verstand so auszurichten, daß er das Unendliche mit den Mitteln der Endlichkeit begreifen kann. Hierbei ist sein Wert vor allem allgemeiner Natur: Das klar ausgesprochen zu haben, daß die Wahrheit konkret ist, weil sie im Ganzen liegt, ist eines der hauptsächlichen Verdienste der Hegelschen Philosophie. Doch den naturgemäßen Mangel des menschlichen Geistes behebt auch sie nicht. Dieser kann das Unendliche ebensowenig begreifen, wie er die tatsächliche Mannigfaltigkeit endlicher Dinge zu erfassen in der Lage ist. Jede Bestimmung, die der menschliche Geist vornimmt, ist eine Abstraktion, eine Vereinseitigung, eine Begrenzung eines in Wahrheit reicheren, konkreteren Seinszusammenhangs. Er ist unendlich nicht an und für sich, sondern unendlich in seiner Beziehung auf den menschlichen Geist, unendlich für uns.

  15 Responses to “Über das Unendliche”

  1. Bester Bartels,
    ich machen Ihnen einen Vorschlag zur Güte. Sie setzen die Physik in unfruchtbarer Weise gegen die Philosophie; nicht nur werden Sie unter Physikern durchaus tüchtige Philosophen antreffen können, auch die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Arten der Weltbetrachtung fassen Sie von einer unnötig mürrischen Seite.

    Sicher ist es eine lächerliche Überhebung der Physiker, wenn Sie sich einbilden, die Philosophie Stück für Stück arbeitslos zu machen. Ich habe an anderer Stelle schon einmal den Vorschlag gemacht, dass Philosophie jede Art nachgeordneter Betracht ist (woher unzweifelhaft auch das Wort „nachdenken“ rührt). M.a.W. die Einzelwissenschaften liefern stets neues und detaillierteres Material für die Philosophie. Wenn e.g. Physiker interpretieren, verallgemeinern und ihre Ergebnisse mit Alltagskonzepten abgleichen, dann überschreiten sie unwillkürlich die Grenze zur Philosophie.

    Umgekehrt verhält es sich nicht anders. Über den Urknall können Sie nur reden, weil die Physiker ihn aus der Flucht der Materie abgeleitet haben. Desgleichen über irgendeine „Planckwelt“ (von der ich allerdings nicht genau weiss, was sie meint). Überhaupt kommt das meiste, das ein heutiger Philosoph über die innere Beschaffenheit des Universums weiss aus den Einzelwissenschaften.

    Tatsächlich schneiden die Einzelwissenschaften den Begriffen ihre Füsse ab. Sie müssen das tun, weil sie dem Zwang unterliegen, sich auf genaue Bedeutungen zu einigen und i.d.R. den Gesetzen der klassischen Logik folge leisten müssen („Die Natur ist in der Sprache der Mathematik abgefasst“ etc.). Erst im Nachbetracht werden die gewonnen Begriffe wieder soweit mit Bedeutung aufgeladen, dass sie in fruchtbare, d.i. dialektische und praktisch anwendbare Konzepte verwandelt werden. Das leisten die Philosophen (was immer deren Hauptberuf sein möge).

    Und so ist die Frage nach der Unendlichkeit weder eine rein physikalische Frage, noch eine rein erkenntnistheoretische, die lediglich durch scharfes Hindenken gelöst werden kann. Ein halbwegs wackeres Hirn kann gar nicht anders, als in dieser Verschränktheit beider Pole zu denken. Er wird stets trachten, was er verallgemeinert mit der modernen Physik abzugleichen und umgekehrt, was er beobachtet in philosophischen Konzepten zu verallgemeinern.

  2. Ungemeiner Piet, Sie rennen bei mir, wenn ich so sagen darf, offene Eulen nach Athen. Ich leide an keinerlei Unbehagen gegenüber der Physik oder den Physikern. Ich habe volles Vertrauen in das Personal und die Methode dieser Wissenschaft und käme im Traum nicht auf die Idee, diesen Spezialisten in ihr Geschäft zu funken. Ich frage mich nur, warum die nicht bei ihrem Geschäft bleiben. Das Verhältnis von Einzelwissenschaft und Philosophie haben Sie ganz richtig bestimmt; ich folge Ihnen da ganz. Aber aus eben dieser Bestimmung folgt, wie ich meine, mit Notwendigkeit, was ich über das Unvermögen der Physiker zur Philosophie sage.

  3. Aber wenn Sie mir, eulentragend und rennend, so sehr folgten, das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft betreffend, meine ich, dann hätten Sie auch verstehen müssen, dass ein Physiker geradezu zur Philosophie gezwungen ist, unvermögend oder nicht.

    Denn sobald er vom speziellen und einzelwissenschaftlichen wieder ins allgemeine und alltägliche emporsteigt, philosophiert er schon. Sobald er beispielsweise aus dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik den Wärmetod des Weltalls postuliert, philosophiert er. Sobald, mit anderen Worten, die Konzepte, die er aus seiner einzelwissenschaftlichen Tätigkeit ableitet, fruchtbar für die Philosophie werden, philosophiert er schon selbst. Kann sein, er tut es auf ungelenke Weise, aber indem er ordnend denkt und sein einzelwissenschaftliches Wissen in den Kontext seiner sonstigen Erfahrungen und Begriffe bringt, indem er Kohärenz schafft also zwischen dem Allgemeinem und dem Speziellen, indem er dieses tut, philosophiert er.

    Die DDR übrigens, wenn Sie auch sonst eine schwache Philosophie hatte, war in diesem Punkt immer stark. Ihre Philosophen waren stets auf der Höhe der Einzelwissenschaften. Leider haben sie dann den Begriffen die Füsse anderweitig abgeschnitten.

  4. Ich will den Physikern nicht verbieten, sich in anderen Bereichen umzutun. Natürlich ist es wichtig, daß der Physiker mit den Ergebnissen der Philosophie vertraut ist. Das betrifft vor allem die Interpretation seiner eigenen Arbeit. So glaube ich z.B. nicht, daß Bohr und Heisenberg ihre Interpretation der Unschärfe (was immer man von der hält) hätten anstellen können, ohne sich mit dem Möglichkeitsbegriff von Aristoteles beschäftigt zu haben.

    Philosophie betreiben ist bei den Physikern rezeptiv, nicht produktiv. Wenn sie versuchen produktiv zu werden, betreten sie einen Bereich, in dem sie beinahe unvermeidlich scheitern werden. Und die natürliche und ganz verständliche Reaktion der Philosophie ist, sie dann in ihre Schranken zu weisen.

  5. Sehen Sie, lieber Bartels, das meine ich. Dieses gegenseitige in-die-Schranken-weisen ist reizlos. Ich verstehe die Philosophen, sie sind sauer. Es gibt ja genügend Einzelwissenschaftler, die behaupten, dass es keine genuin philosophischen Probleme gäbe und ergo die Philosophie überflüssig sei. Momentan, weil sie so viele praktische Erfolge feiern, weil sie, mit Marx zu reden, eine Produktivkraft sind, sitzen sie am längeren Hebel. Die Philosophen müssen sich ständig mit deren blödsinniger und masslos ignoranter Übergriffigkeit herumschlagen. Natürlich wird die Philosophie dadurch schlecht, wodurch sich ihr Rechtfertigungsproblem noch verstärkt.

    Ich mag die Philosophen. Sie sollen stark und gut philosophieren. Sie mögen den ergiebigsten Denkstoff und die höchsten Handlungsgründe herstellen. Sie mögen es jedoch unterlassen, die Unart ihrer einzelwissenschaftlichen Kollegen nachzuäffen, einander Fachgrenzen zuzuweisen. Das ist keine Philosophie, sondern ein eifersüchtiges Wachen über seine Hoheitsgebiete und ein wirklich unerspriessliches Claim-Abstecken.

    Es gibt die Möglichkeit, Argumente in der Sache auszutauschen. Wenn ein Mathematiker wie e.g. Cantor einen Unendlichkeitsbegriff schafft, der sich produktiv anwenden lässt, dann sollte die Philosophie versuchen, ihn zu verstehen und in Bezug zu den eigenen Untersuchungen zu setzen. Und umgekehrt war es Cantor natürlich gestattet, seine Begriffsbildungen unter Hilfenahme der vorhandenen philosophischen Konzepte vorzunehmen. Usw.

    Es ist das Los der Philosophie, keine Schranken zu haben. Schliesslich ergreift sie auch schlichtweg alles. Umgekehrt stösst jeder Denker, egal womit er konkret befasst ist, bisweilen in ihre ureigenen Gefilde vor. Nicht immer ist das fruchtbar oder wünschenswert, aber die Philosophie hörte auf sich zu entwickeln und also zu bestehen, wenn es diese Offenheit der Grenzen nicht gäbe.

    Kennen Sie übrigens den eigentlichen Unterschied zwischen einem Philosophen und einem Einzelwissenschaftler? Der Philosoph weiss immer weniger über immer mehr, bis er schliesslich nichts über alles weiss. Der Einzelwissenschaftler wiederum weiss immer mehr über immer weniger, bis er schliesslich alles über nichts weiss.

  6. Kennen Sie übrigens den eigentlichen Unterschied zwischen einem Philosophen und einem Einzelwissenschaftler? Der Philosoph weiss immer weniger über immer mehr, bis er schliesslich nichts über alles weiss. Der Einzelwissenschaftler wiederum weiss immer mehr über immer weniger, bis er schliesslich alles über nichts weiss.

    Ich versichere Sie: die ersten dreißig Mal, da ich diesen Witz hören durfte, habe ich sehr gelacht.

    Was das Problem angeht, gebe ich Ihnen recht, die Lösung sehe ich aber anders. Genau in dem Gegeneinander und in dem In-die-Schranken-Weisen liegt etwas Richtiges. Wenn ich den Ergebnissen einer Einzelwissenschaft vertrauen will, muß ich mich darauf verlassen, daß die Einzelwissenschaftler Eingriffe von Unzuständigen zumindest soweit abwehren, wie diese Eingriffe unsinnig sind und Schaden anrichten. Ich vertraue z.B. darauf, daß die Physiker auf ihren Bereich aufpassen und keine Schwätzer und Dünnbrettbohrer dort gewähren lassen. Und dasselbe gilt nun auch für die Philsophie, wenngleich die Sache sich dort ungleich problematischer gestaltet.

    Das Problem mit der Philsophie ist, daß jeder meint, in ihr mitreden zu können, ganz gleich, wieviel er von ihr versteht. Vielleicht liegt das an ihrem allgemeingültigen Charakter. Die Philosophie ist die Wissenschaft vom Allgemeinen. Aber auch für das Allgemeine gibt es – wenngleich das widersprüchlich klingt – Spezialisten.

  7. Genau in dem Gegeneinander und in dem In-die-Schranken-Weisen liegt etwas Richtiges.

    Und genau dafür haben Sie keine Argumente.

    Denn was Sie danach beschreiben – dass Wissenschaftler untereinander über die Qualität ihrer Arbeit wachen – ist wohl wahr, aber es betrifft diese Sache nicht. Darauf sagen ebenfalls richtig, dass Philosophie die Wissenschaft vom Allgemeinen sei. Da wir überdies beide wissen, dass das Allgemeine ohne das Spezielle nicht denkbar und das Spezielle ohne das Allgemeine nicht schaubar wäre, ist das wechselseitige Einmischen von Einzelwissenschaft und Philosophie nicht nur wünschenswert, sondern sogar überhaupt nicht anders möglich. Deshalb plädiere ich – plädiert die Vernunft – für ein wohlwollendes gegenseitiges Prüfen und eine immerwährende Neugier auf die andere Seite.

    Was Sie hingegen als „etwas Richtiges“ darstellen, das ist ein Dogma, das natürlich auf Scheelsucht und Überhebung (oder Minderwertigkeitsgefühl, was das selbe ist) schliessen lässt. Sie sehen wohl, dass der Einzelwissenschaftler ebenso dem Philosophen verwehrt, über Quantenmechanik oder den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik etc. zu reden, weil der ja davon nichts verstünde. Solche Kompetenzrangeleien geschehen täglich und sind der sinnloseste Verschleiss. Mag sein, die Leute, die sich in derlei Kämpfen ergehen sind ansonsten impotent. Mag sein, sie können nichts anderes, als beständig auf Zäune und Türen hinweisen. Mag also sein, dass sich das nicht ändern lässt. Gut oder „Richtig“ ist es deswegen noch lange nicht.

    Gut wäre, wenn der Quantenmechaniker dem dilettierenden Philosophen erklärte, was wesentlich er von der Quantenmechanik falsch begriffen hätte. Umgekehrt, der Philosoph dem philosophierenden Quantenmechaniker, wo er seine Begriffe in Widersprüche verwickelt oder übermässig dehnt. Denn dass sie einander Begriffe und Konzepte leihen müssen, darüber sind wir ja einig. Sie leihen das einander und erhalten es bereichert zurück.

  8. Halten wir fest:

    Ich sage: Einzelwissenschaftler und Philosophen müssen, aufeinander einwirkend, sich gegenseitig in die Schranken weisen.

    Sie sagen: Einzelwissenschaftler und Philosophen müssen, aufeinander einwirkend, voneinander lernen.

    Man kann natürlich denselben Sachverhalt auf verschiedene Weise ausdrücken. Voneinander lernen, aufeinander einwirken, einen wechselseitigen Bezug zwischen den Wissensgebieten herstellen – das funktioniert nie nur positiv, sondern beinhaltet immer auch Negation und Zurückweisung.

    Ganz praktisch: Wenn der hochintelligente Professor Lesch brillant über die Physik redet und dabei aber philosophisches Dünnbier serviert, dann ist es überhaupt nicht verwerflich, daß einer herkommt und das entsprechend aufzeigt. Die Sache hat dann also eine doppelten Charakter, nämlich: der Nichtphysiker lernt dabei etwas über die Physik, aber der Professor Lesch – einmal gesetzt, er läse das hier – lernt auch etwas über die Philosophie.

    In jedem Fall bleibt es notwendig, daß Fehler korrigiert werden müssen. Und lesen Sie’s oben nach: Ich habe keinem Physiker generell die Betätigung in der Philosophie untersagt. Ich würde auch keinem Laien untersagen, daß er sich in der Diskussion physikalischer Fragen versucht. – Wer wäre ich, sowas zu tun? Ich habe lediglich einen Fall aufgegriffen, um eine exemplarische Fehlleistung zu demonstrieren. Die Ableitung, die Lesch aus seinem richtigen Wissen gezogen hat, ist einfach falsch, und es war sehr leicht, das zu beweisen. Und das nun hätte ich laut Ihnen nicht tun dürfen? Es kann doch nun unmöglich Ihre Forderung sein, daß alle Philosophen zu jedwedem in der Philosophie dilettierenden Physiker zu schweigen haben, selbst dann, wenn dieser den größten Unrat daherredet.

    Da das unmöglich das ist, worauf Sie hinauswollen können, landen wir wieder dort, wo diese Replik ihren Anfang genommen hat: Sie drücken denselben Sachverhalt aus wie ich, nur auf andere Weise.

  9. Fein. Dann haben wir das. Natürlich darf, soll!, ein Philosoph schimpfen, wenn einer philosophisches Dünnbier als Starkbier ausschenkt. Er soll ihn massregeln, dass ihm die Wissenschaftlerseele violett anläuft, dass er ächzend zusammenfällt und er sich drei Wochen nicht mehr unter Leute traut.

    Ich glaube, was uns beide ärgert, ist, dass diese Sorte dann trotzdem bescholten unter Leute geht. Weniger die Anmassung stört, als die nachfolgende Ignoranz. Zugegeben, sowas nervt bodenlos. Diese Tendenz zum Monolog. Ich gäbe was drum, sie durch eine Neigung zum Dialog zu ersetzen.

  10. Zwei Dinge wollte ich noch postscribieren:

    Erstens, aus der Sicht der Arbeitsteilung haben Sie natürlich Recht. Und, boy!, bin ich ein Freund der Arbeitsteilung! Damit eine eine Schranke offen sein kann, muss sie natürlich erst existieren. Und obgleich sie ihrer durchlassbeschränkenden Bestimmung nicht nachkommt, markiert sie etwas; sagen wir, eine Schwelle des Anstands und der intellektuellen Redlichkeit. Etwas wie ein fremdes Reich, dessen Benimm man sich zueigen machen sollte, wenn man es betritt.

    Zweitens, die Physiker sind für die Philosophie vergleichsweise harmlos. Wenn Sie Lust haben zu schelten, dann gegen jene aufgeblasenen Idioten, die da Bilder des Hirns herstellen und vermeinen, dem Menschen beim Denken und Fühlen zusehen zu können. Sozusagen Daguerreographie der Seele betreiben.
    Weil er ihnen noch nicht auf der Platte vorkam, haben sie kurzerhand den freien Willen für nicht-existent erklärt. Wenn das kein handfester Übergriff ist!

  11. Älteste Regel der Philosophiegeschichte: Wer Prügel verdient hat, bekommt sie auch. Früher oder später.

    Zweitälteste Regel: Prügel bekommen auch alle diejenigen, die sich nicht verdient haben. Vorzugsweise von denen, die sie verdient haben.

  12. Nicht die Welt selbst ist also widersprüchlich, sondern das Denken, indem es, wenn es das Unendliche zu begreifen sucht, zwangsläufig auf Widersprüche stößt.

    Meinen Sie? Ich finde das verblüffend, denn ich bin genau der umgekehrten Ansicht. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Welt so ist: Vielbestimmt, unendlichsinnig, aber widerspruchsfrei? Was, wenn sie, was ich nämlich glaube, grundsätzlich unbestimmt und gar nicht notwendig widerspruchsfrei ist?

    Wahrscheinlich können wir das nicht entscheiden. Denn wir haben keinen anderen Zugang zur Welt als unser Wissen. Also ist es ziemlich schwierig, festzustellen, wo die Widersprüche ontologisch verortet sind, im menschlichen Geist, oder in der Welt selbst. Ich finde jedoch den Gedanken nachvollziehbarer, dass der Widerspruch eher dem Geist Probleme bereitet, als der Welt.

    Dass der Mensch, indem er Unterscheidungen trifft, indem er Formen erkennt, immer abstrahiert und vereinseitigt, das ist unbestreitbar; dass dadurch sofort Brüche entstehen, die das Ganze in unvollkommene Teile zerlegen, aus denen das Ganze nie rekonstruiert werden kann, ist ebenfalls klar. Dass aber das Ganze vordem in sich widerspruchsfrei gewesen sein soll, das halte ich für eine metaphysische und nicht rechtfertigbare Behauptung,

    Denn was können wir über das Ganze weiter sagen, ausser, dass es Anlass zu unserer Zerlegung gewesen ist – nein, auch das ist unpräzise: Ausser dass in der wechselseitigen Verschränkung von Bewusstsein und Sein relativ stabile Formen entstehen können? Die Wirklichkeit – Welt, wie sie sagen – rast vor sich hin. Wir wissen nicht wie. Was ein Bewusstsein ist, lässt sich immerhin damit sagen: Etwas, an dem das Sein Gestalt gewinnt.

    Vorher, ohne Bewusstsein, – vollkommen gestaltlos – kann das Sein nicht gedacht werden und also lässt sich von ihm weder sagen, ob es vielbestimmt, noch ob es widerspruchsfrei ist.

  13. Wahrscheinlich können wir das nicht entscheiden. Denn wir haben keinen anderen Zugang zur Welt als unser Wissen. Also ist es ziemlich schwierig, festzustellen, wo die Widersprüche ontologisch verortet sind, im menschlichen Geist, oder in der Welt selbst. Ich finde jedoch den Gedanken nachvollziehbarer, dass der Widerspruch eher dem Geist Probleme bereitet, als der Welt.

    Die Frage ist nicht, ob Widersprüche im menschlichen Geist oder in der Welt zu verorten sind, sondern ob die Widersprüche auch in der Welt gegeben sind, denn daß sie im menschlichen Geist sind und erfahren werden, ist ja eine unstrittige Tatsache. Ich kann ja nun unmöglich annehmen, daß der Widerspruch zwar Eigenschaft der Welt, nicht aber Eigenschaft des Denkens sei, wenn er doch im Denken allenthalben vorkommt.

    Sie sagen es selbst: Unser Denken ist der einzige Zugang, den wir zur Welt haben. Das also ist die Lage, von der man allein ausgehen kann. Ich habe nun den Widerspruch als Denkerfahrung, sobald ich theoretischen Umgang mit der Welt bekomme. Und da bleiben mir nun zwei Möglichkeiten: Entweder ich denke, das liegt an mir, oder ich denke, es liegt ab der Welt.

    Ich finde die erste Annahme vernünftiger, weil sie bestehen kann, ohne daß eine weitere Prämisse hinzugezogen werden müßte. Um nämlich anzunehmen, daß der Widerspruch, den ich im Denken erfahre, auch in der Wirklichkeit, also objektiv gegeben ist, müßte ich annehmen, daß Denken und Sein dieselben Eigenschaften besitzen, daß also materialitäre Gegebenheit und ideelle Abbildung dasselbe sind. Aber für diese Annahme gibt es nicht nur keinen Beweis, sie ist auch nicht recht wahrscheinlich, weil sie den Erfahrungen, die wir der Welt machen, doch ein wenig zu widerspechen scheint.

    Ich nehme also an, daß die Welt von einer objektiven Beschaffenheit ist, die der menschliche Geist nur bedingt erfassen kann, und daß diejenigen Stellen, an denen der Geist bei der Erklärung der Welt in Widersprüche oder Aporien gerät, nicht tatsächlich von ebendieser (widersprüchlichen und aporetischen) Beschaffenheit sind, wie sie dem Geist in diesem Moment erscheinen, sondern von einer Beschaffenheit, die der Geist aufgrund seiner andersartigen Natur nicht begreifen kann und die sich bei ihm dann auf eine Weise abbildet, die ihm gemäß ist.

    Kurzum: Ich stimme Ihnen zu, daß sich diese Frage nicht mit Sicherheit entscheiden läßt, halte jedoch für möglich, vernunftgemäße Entscheidungen zu treffen, z.B. nach dem Kriterien der Wahrscheinlichkeit, der Evidenz oder der möglichsten großen Vorsicht bei unsicherer Beweislage.

  14. Das Sein aber soll das sein, was alles in sich einbegreift: was war, was ist, was sein wird, was gewesen sein könnte, was sein könnte, was sein wird können usw.

    Unübertroffener Bartels,

    Ihnen ist aber bekannt, dass derartige All-Begriffe, die unangenehme Eigenart aufweisen, überzuschwappen? Denn dieses alles-in-sich-einbegreifen muss natürlich auch das Sein betreffen, sonst stünde es ja ausserhalb seiner selbst, und das wieder erweiterte das Sein um eine Stufe des Einbegreifens usf. ad inf.

    Herr Cantor, der ja ebenfalls ein Faible fürs Unendliche hatte hat, meint auch einen Beweis für das Nicht-Vorhandensein einer All-Menge gegeben zu haben; das Ding ist unter dem Namen zweite Catorsche Antinomie bekannt geworden.

    Das Angeben, wollte ich sagen, was das Sein genau sei oder umgreife, ist verdammt hirnerweichend.

  15. Das Angeben, wollte ich sagen, was das Sein genau sei oder umgreife, ist verdammt hirnerweichend.

    Ja, das ist es. Weil eben das Durchdenken von Bestimmungen, die ihrer Natur nach unendlich oder absolut sind, den menschlichen Verstand an seine Grenzen führen.

    Ich würde aber ungern vom „Überschwappen“ sprechen, weil das die vielleicht doch etwas bekloppte Vorstellung provoziert, daß das Sein, indem es bestimmt wird, sich tatsächlich vermehrt. Ich zöge es vor, mit Spinoza darauf verweisen, daß alle Bestimmung nur Kraft des Ausschlusses, also durch Negation erfolgt. Beim Bestimmen des Seins (i.e. des Alles) ergibt sich dann aber das Problem, daß es nicht bestimmt werden kann, weil hierzu etwas ausgeschlossen werden müßte, welcher Vorgang jedoch dem begrifflichen Inhalt des Seins (das es nämlich alles einschließen soll) widerspräche.

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