Jul 132009
 

Es gibt gute Gründe, Berlin zu verabscheuen. Zum Beispiel die Menschen, die dort leben. Es gibt aber auch gute Gründe, Berlin zu mögen. Zum Beispiel die Menschen, die dort leben. Ich weiß das genau, denn ich muß unter ihnen leben und habe so ihre merkwürdige Weise, diese Läppischkeit und Lebensgröße in einem, frei Haus. Berlin ist wohl der Ort in Deutschland, der das Provinzielle am gründlichsten aus sich ausgeschlossen hat, wobei das nicht heißt, daß er es vollständig verbannt hätte. Mein Lob ist, wie angedeutet, ein relatives Lob. Aber im Vergleich wird man glücklich. Man freut sich, daß man nur im kleinen Elend lebt und das größere an einem vorbeigegangen ist.

Es gibt hierfür unzählige Beispiele, und eines davon ist die Pro-Reli-Kampagne und die trockene Absage, die Berlin diesem anmaßenden Begehren erteilt hat. Bereits die Ausgangslage, das also, wogegen diese Kampagne zu Felde zog, macht den Unterschied zwischen Berlin und den meisten anderen Orten Deutschlands deutlich. In Berlin hat der Religionsunterricht nicht wie in vielen anderen Bundesländern den Rang eines regulären Pflichtfachs, von dem man sich dann – dies Prozedere ist je nach Bundesland schwerer oder leichter – erst eigens abmelden muß, wenn man die Nichtteilnahme für besser hält. In Berlin muß man sich, wenn man am Religionsunterricht teilnehmen will, anmelden, und die Teilnahme ist eine Zusatzbelastung, d.h. der Religionsunterricht hat den Status eines Wahlfachs. Ich finde das gerecht. Wer einen Glauben hat, soll auch dafür leiden. Christus hat sich ans Kreuz schlagen lassen; da werden die Christen von heute die zwei Stunden mehr in der Woche, die sie durch ihre Wahl des Religionsunterrichts abfassen, schon wegstecken können.

In der Frankfurter Rundschau las ich kurz nach dem Scheitern der Kampagne folgende Äußerung, die so ziemlich auf den Punkt bringt, was an der ganzen Sache eigentlich schiefgelegen hat:

Es ist überstanden. Gott sei Dank. Die Berliner haben entschieden und sie haben richtig entschieden: Nach monatelanger, ziemlich unsympathischer Kampagne der Kirchen bleibt in Berliner Schulen alles beim Alten. Jedenfalls was die inzwischen reichlich leidige Frage nach der Religion angeht: Berliner Muslime, Juden, Christen, Buddhisten und Nichtgläubige machen sich gemeinsam im Pflichtfach Ethik Gedanken über die Werte, die für unsere Gesellschaft wichtig sind. Dazu gehören auch die Glaubenssysteme der Religionen. Ein vorbildlich integrativer Ansatz in einer multikulturellen Gesellschaft. Wer zusätzliche Unterweisung wünscht, kann Religionsunterricht dazu wählen. Wo ist das Problem?

Unterweisung ist hier das entscheidende Wort. Was die Kampagne wollte, war eben nicht, wie sie populistisch formulierte, die freie Wahl. Diese Freiheit bestand längst. Kein Christ wurde und wird daran gehindert, am Religionsunterricht teilzunehmen. Was die Kampagne wollte, war die Entscheidung zwischen Religion und Ethik, das Entweder-Oder, und Hintergrund war natürlich die Hoffnung, daß die meisten Schüler, vor diese Wahl gestellt, den Religionsunterrichten wählen werden. Die Schüler (oder vielmehr: ihre Eltern) sollten also in der Schule vor die Entscheidung gestellt werden, entweder am Ethik-Unterricht, worin unterschiedlichen Glaubensformen mit Toleranz begegnet wird, teilzunehmen, oder aber am Religionsunterricht, worin eine Religion gelehrt wird und alle anderen Modelle des Weltverständnisses ausgeschlossen sind.

Ich habe überhaupt nichts gegen die Religion, auch nicht gegen ihre organisierte Form, die Kirche. Aber sie ist, was sie sein soll: Privatsache. Wer sie braucht, kann sie erwerben. Wer es braucht, kann das auch mit anderen gemeinsam tun. Doch in einer säkularisierten Gesellschaft sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, daß keine Religion bevorzugt behandelt wird, auch nicht die, der die Mehrheit der Menschen dieser Gesellschaft angehören. Dennoch wird an beinahe jeder Schule in Deutschland christlicher Religionsunterricht angeboten, dennoch treibt der Staat die Kirchensteuern ein, dennoch haben die christlichen Kirchen feste Sendeplätze in den Anstalten des öffentlich-rechtlichen Hör- und Fernsehfunks, worin sie ihre Andachten und Sonntagsworte verbreiten können. Es gibt für solche Verhältnisse ein Wort: Vorrechte. Und es gehört zu der Chuzpe des seit Jahrtausenden an seine Vorrechte Gewöhnten, daß er die Herstellung der Gleichberechtigung eine Benachteiligung nennt.

Ich leugne im übrigen auch nicht den Gehalt der Religion. Die Theologie ist, wenn man den äußeren Unrat von ihr abzieht, nichts als selbst eine Philosophie, und als solche ist sie wert, zur Kenntnis genommen zu werden. Aber genau darin ja liegt auch wieder dieselbe Unterscheidung, die oben bereits getroffen wurde: Was der wahre Geist einer Religion ist, was diese also zur Geistesgeschichte beizutragen hat, lernt man eben nicht, indem man sich ihr auf religiöse Weise nähert, sondern nur, indem man sie auf rationale Weise packt. Die Unterweisung des Religionsunterrichts geht da von Beginn an in eine andere Richtung.

Daß die Berliner also der anmaßenden Pro-Reli-Kampagne der Berliner Kirchen eine Absage erteilt haben, macht mich ebenso zufrieden, wie es mich nach wie vor unzufrieden macht, daß Religion überhaupt an staatlichen Einrichtungen wie z.B. Schulen gelehrt wird. Warum ich allerdings auch gegen den Ethik-Unterricht an Schulen bin, darüber werde ich morgen schreiben.

Es ist, wie es oft ist. Die Wirklichkeit mit ihrem Hang zu traurigen Angeboten stellt uns vor Alternativen, deren Abgeschmacktheit auch davon nicht verdeckt wird, daß in der Regel die eine der beiden Möglichkeiten etwas wählbarer ist als die andere. Die Religion, habe ich gesagt, kann nur begriffen werden, wenn sie nicht gelehrt wird. Dasselbe gilt nun auch von der Ethik. Daß der Religionsunterricht heute allmählich durch den Ethikunterricht ersetzt wird und dieser Prozeß – hört es, Freunde in Bayern, und zittert – nicht aufzuhalten ist, mag vom Standpunkt der Gesittung ein Fortschritt sein; vom Standpunkt der Bildung ist es gehuppt wie gesprungen.

Das Thema der Ethik ist das menschliche Verhalten. Menschliches Verhalten kommt aus Gewohnheit. Gewohnheit kommt aus Praxis. Handlungen also sind es, die zu Haltungen führen. Wer anhaltend auf eine bestimmte Weise handelt, wird endlich ein auf diese Weise Beschaffener sein. Wer anhaltend fleißig ist, wird ein Fleißiger (indem Sinne, daß er den Fleiß als Haltung ausbildet und so von selbst fleißig ist). Dispositionen sind weder angeboren (wie Affekte) noch absolut (wie objektive Gegebenheiten). Was gut, schlecht, nützlich oder sinnlos ist, das lernt man nicht auf der Schulbank, sondern in der praktischen Erprobung der Ziele und Wege. Und der beste Ort, um das Leben zu proben, ist einmal das Leben.

Was ein Ethikunterricht im besten Fall bieten könnte, das wäre ein allgemeiner theoretischer Hintergrund,  ein Wissen über die verschiedenen historischen Formen der Ethik. Der Schüler könnte hierbei Bekanntschaft mit anderen Lebensentwürfen machen als nur denen, die ihm durch sein Elternhaus bzw. durch das Land, in dem er aufwächst, vorgelebt werden. Er könnte z.B. lernen, daß es neben der dem Christentum am nähesten stehenden Verhaltensethik kantscher Prägung auch andere Modell gegeben hat; etwa die antike Tugendethik oder den Utilitarismus. Er könnte sich z.B. die Frage stellen, ob nicht bereits Aristoteles, indem er sich eher für die Haltung der Menschen als für ihre einzelnen Handlungen interessiert hat, die Ethik in eine Lage gebracht hat, über die hinaus sie bis heute nicht gekommen ist. Und er könnte auch schätzen lernen, daß einer größten Vorzüge dieses Philosophen ist, daß er die Menschen mit Verhaltensregeln und Imperativen in Ruhe gelassen, sondern vielmehr die Frage gestellt hat, wie die Bedinungen beschaffen sein müssen, damit die Menschen des größtmöglichen Glücks teilhaftig werden.

Das und vieles mehr ließe sich behandeln, wenn man die Ethik als Fach vom Kontext dieser Gesellschaft löste und ihr die Pflicht nähme, heutige Wertvorstellungen als gültig zu vermitteln. Wenn man die Ethik als Teilgebiet der Philosophie auffaßt und nicht politischen Interessen unterordnet, wenn man sie mit einem Wort nicht lehrt, sondern untersucht.

Aber so, wie es heute gemacht wird, hätte die Ethik ihren standesgemäßen Ort auf dem Zeugnis eigentlich bei den Kopfnoten: Betragen, Ordnung, Mitarbeit, Fleiß, Ethik. – Was für ein Zeugniskopf! Der Schüler Ulf erwies sich nicht nur im Umgang mit seinen Mitschülern, sondern auch in seinen Beiträgen zum Ethikunterricht als vorbildlicher Bürger der Bundesrepublik. Ein Antrag auf Mitgliedschaft der Schulgruppe FDP wurde nur deswegen abgelehnt, weil er mit 9 Jahren das erforderliche Mindestalter noch nicht erreicht hat. – Was für eine Beurteilung!

Aber das so zu handhaben, dazu sind sie dann doch wieder zu feige. Es gehört zu den Absurditäten unserer Gesellschaft, daß sie von den Gängelleien, die sie ausübt, nichts wissen will. Sie spricht von Toleranz und Diskussion, von Offenheit und Freiheit, statt von Dogmen, medialer Meinungsformung und Unterweisung, aber in Wahrheit geht es in Fächern wie Ethik und Religion nie um etwas anderes als darum, die Schüler auf Linie zu bringen, ihnen den ganzen Wertekanon einzutrichtern, der gegenwärtig gültig ist und von dem seine Lehrer, wie Lehrer das immer tun, behaupten, er sei allgemeingültig. Der Förderalismus ist dann die Methode, den Schwachsinn allgemein umzusetzen, ohne daß einer als allgemein Verantwortlicher ausgemacht werden könnte. Jeder der fünfzehn Pfalzgrafen kann die Hände heben und beteuern, daß er für die Belange der anderen 14 Kleinstaaten nicht zuständig ist.

Ich räume ein, daß ein politischer Erziehungsunterricht, der nicht schwachsinnig wäre, undenkbar ist. Man muß immer berücksichtigen, wer da wen unterrichtet, und der Gedanke, es könne dabei um Geist oder Erkenntnis gehen, erledigt sich dann von selbst. Zur Verdummung gehören immer zwei: der verdummt und der sich verdummen läßt, und nur um Mißverständnissen vorzubeugen – ich bin keineswegs entschieden in der Frage, wer eigentlich der dümmere von beiden ist. Man kann kaum sein Leben lang Unsinn lehren, ohne nicht selbst auch etwas daran zu glauben.

Und ich räume auch ein, daß eine Gesellschaft, die darauf verzichtete, ihre Mitglieder politisch – und zwar in ihrem Sinne – zu erziehen, ebenfalls undenkbar ist. Sobald man den Bereich des Politischen betritt, ist Volkserziehung einfach nur ein anderes Wort für Verdummung. In der Politik steht viel zu viel auf den Spiel, als daß auch nur irgendein Gemeinwesen darauf verzichten könnte, um diesen Komplex ein Geflecht aus Nebel und Dornen zu legen.

Aber gut, entgegne ich mir selbst, für diesen notwendigen Unsinn gibt es bereits ein Fach: Sozialkunde, Politische Weltkunde, Staatsbürgerkunde – wie immer man es nennt. Nichts, was in Ethik und Religion besprochen wird, was nicht auch in Sozialkunde besprochen werden könnte.

Wollte man hingegen überlegen, wie die Ethik als Unterrichtsinhalt zu retten wäre, so sehe ich nur eine Möglichkeit. Die Ethik, als Teil der praktischen Philosophie, sollte auch entsprechend eingeordnet werden. Sinnvoll wäre eine bundesweite Abschaffung der Pflichtfächer Religion und Ethik, bis zur sechsten Klasse ersatzlos, und ab der siebten Klasse ersetzt durch ein Pflichtfach Philosophie. In diesem Fach könnte dann neben Einführungen in Bereiche wie Logik, Erkenntnistheorie, Ontologie und Sprachphilosophie auch Bekanntschaft mit den politischen Ideen der Geschichte und ihren verschiedenen ethischen Konzeptionen gemacht werden. Denkbar wären sicher auch Abschnitte wie Religionsphilosophie, Wissenschaftstheorie oder Philosophie der Natur. Und all das dann selbstverständlich nicht als Lehre, sondern als Vermittlung von Wissen, als Einführung in die Belange der Welt und als Möglichkeit, sich über diese ein Urteil innerhalb fundierter Kenntnisse zu bilden.

Auch wenn ich natürlich weiß, daß die meisten Bereiche der Philosophie ein Denken erfordern, das auf Lebenserfahrung beruht, und daß also junge Menschen im Grunde mit solchen Aufgaben überfordert sind, hielte ich – wenn man schon den Bereich, in dem Ethik und Religion siedeln, durch ein Fach abgedeckt haben will – die Ersetzung von Ethik und Religion durch die Philosophie für den bestmöglichen Weg. Bekanntschaft mit den Ideen der Welt hat noch keinem geschadet und semper aliquid haeret.

  2 Responses to “Unterweisung in das Unlehrbare”

  1. Berlin ist immer groß, wenn es besetzt ist. Das französische Berlin, das amerikanische und das russische Berlin, das waren kennenswerte Orte. Dazwischen taugt der Laden nichts.

    Bismarck immerhin ist aus dem Kaff geflohen, wann immer er konnte.

    Wenn die Berliner auf sich gestellt sind, wissen sie sich nicht zu ernähren. Sie wissen den Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht mehr, die denken, dass Neukölln anheimelnder wird, wenn man es zum Vorort von Istanbul umwidmet, und sie stimmen dann für jeden und alles, was ihnen eine Wurst verspricht.

  2. Die Franzosen hatten den Weltgeist. Die Russen das Theater. Die Amerikaner hatten Lucky Strike.

    Übrigens hatten die Berliner den Weltgeist schon vor den Franzosen und das Theater vor den Russen. Nur Lucky Strike hatten sie nicht, bevor die Amerikaner kamen.

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