Jul 072009
 

Zur strukturellen Ähnlichkeit von Absolutismus und Sozialismus bei Peter Hacks

Auf den Absolutismus ist die Welt nicht gut zu sprechen. In ihrer Vorliebe für die open society scheinen Linke wie Rechte, Fortschrittler wie Rousseauisten, Marxisten wie Freunde der kapitalistischen Produktionsweise ihre Gemeinsamkeit zu haben. Alle lieben die Freiheit. Aber natürlich versteht jeder seine eigene darunter, und dennoch geben alle vor, ein und dieselbe zu meinen. Von Inhalten redet man heute einfach nicht mehr. Die ganze Welt, scheints, hat das Geschichtsbild des Herrn Karl Popper übernommen.

Peinlich indes bleibt der Umstand, daß diejeningen, die jedermann gern zum Zeugen nimmt, unsere Klassiker, nicht nur sämtlich aus dem Zeitalter des Absolutismus stammen, sondern oft genug in diesen Verhältnissen mehr als nur bloße Überlebtheit, die es endlich abzuschaffen gelte, erblickten. Die verschiedenen Weisen, mit dieser Peinlichkeit umzugehen, nehmen sich wie Fallbeispiele eines anthropologischen Handbuchs aus: Die Scharfsinnigeren weisen darauf hin, daß die politische Haltung der Klassiker nichts an ihrer Hauptleistung in der Wissenschaft oder Dichtung ändere. Die Herzensguten ziehen es vor, ihre Haltung zu ignorieren und sie zu behandeln, als hätten auch sie nie ein anderes Ideal verfolgt als die Demokratisierung der Gesellschaft. Die Dummköpfe schließlich bescheiden sich darin, die Klassiker von ihrem Sockel zu zerren und an ihre Stelle Zwerge ihrer Wahl zu setzen, klein an Wuchs, doch reinster Gesinnung. So stellt man sich denn auch unter den Verehrern unseres nächsten Klassikers verwundert die Frage, was dieser Hacks denn nur immer mit seinen Königen hatte. Es habe das möglicherweise etwas mit der Lust des Dramatikers an mächtigen Personen zu tun, vielleicht komme darin auch sein poetisches Gemüt zum Ausdruck, oder ist es nicht überhaupt eine Kaprice, über die man bei einem so großen Mann wohl hinwegsehen müsse? Schiller schrieb einmal seinem Freunde Körner über Wielands Vorliebe, sich in der Nähe von Fürsten aufzuhalten, und fügte an: „Reinhold und seine Tochter versichern mir, daß sie vorzüglich der Pracht der Möblierung zuzuschreiben sei, die er in ihren Zimmern finde.“ Wir lernen hieraus zweierlei: Erstens, der Absolutismus wurde auch schon zur Zeit seiner Existenz gehörig mißbegriffen; zweitens, Peter Hacks ist nicht der einzige Dichter, über dessen Gründe man eher die ulkigsten Vermutungen anstellte, als sie bei ihm selbst nachzulesen. Solche Art Mißverständnisse pflegen sich natürlich zumeist dort zu ereignen, wo Anstößiges im Spiel ist. Links, wo man sich gern mit Hacksens Bekenntnissen zum Marxismus schmückt, scheint das Anstößige an seinem Absolutismusbild nicht das zu sein, daß Hacks diese Epoche als eine relativ fortschrittliche beurteilt. Das haben Marx und Engels auch getan. Was den Linken wirklich an ein Tabu geht, ist der Umstand, daß Hacks den Absolutismus als eine „dem Sozialismus in struktureller Hinsicht ähnelnd(e)“ Gesellschaft bezeichnet. Hierin mag der Grund liegen, daß bis heute nicht ein Marxist sich die Mühe gemacht hat, die Hacksschen Überlegungen zum Absolutismus einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen.

Den Beginn seiner Beschäftigung mit dem Absolutismus markiert Hacks mit dem Aufsatz „Versuch über das Theaterstück von morgen“ (1960). Gelesen werden muß dieser Text mit besonderer Rücksicht auf den damaligen Zeitgeist. Um 1960 herum wußte man in der DDR folgendes: Der Sozialismus ist das Gute-Schöne-Wahre, das Proletariat hat die Tugend gepachtet und die revolutionäre Haltung ist die fruchtbarste und erkenntnisträchtigste überhaupt. Man ermesse also, welchen Eindruck es in den Augen der Zeitgenossen hinterlassen mußte, wenn Hacks schrieb: Es gibt „Zeiten … in denen es nicht reaktionär ist, nicht revolutionär zu sein … Zeiten, die gebilligt werden können … Der Absolutismus Elizabeths war während einer sehr kurzen Dauer für alle Klassen akzeptierbar“. Die strukturelle Ähnlichkeit mit dem Sozialismus wird hier noch nicht deutlich ausgesprochen, aber zum mindesten wird gesagt, daß die Klassiker ein Recht darauf hatten, den absolutistischen Zustand als die Rose im Kreuz ihrer Gegenwart zu erkennen. Damit aber war eine Tür aufgestoßen, durch die fröhlich zu schreiten für das nächste Jahrzehnt Hacksens gedankliche Hauptarbeit wurde. Der Absolutismus als Erscheinung der Vergangenheit war nun nicht mehr allein nach den Maßstäben der Gegenwart des Beobachters zu beurteilen, sondern zunächst und vor allem im Spiegel seiner eigenen Umstände. Wir sind, sollte Hacks gute 30 Jahre später schreiben, gewohnt, „die Hoffnung auf die Aufklärbarkeit des Absolutismus im nachhinein als … eine Illusion hinzustellen. Aber die gesamte europäische Zivilisation … Michelangelo, Newton, Adam Smith, Goethe und Hegel ereigneten sich unter den Bedingungen dieser Illusion.“ Und er führt gegen ein allein auf den Begriff der Revolution zurückgreifendes Bild von Geschichtsentfaltung den Begriff der Evolution an, worunter zu verstehen sei „die Arbeit, die in einer Weltetappe eingewickelten Möglichkeiten auszuwickeln“, für die „eine Menge Wirklichkeitskenntnis und Phantasie“ erforderlich sei. An die Stelle eines Werturteils über den Absolutismus trat demnach die Frage, wie ein Mensch von An- und Verstand sich unter den damaligen Bedingungen verhalten haben mußte. Genauer ging es um die Frage, ob die bürgerliche Revolution wirklich der einzige Weg des gesellschaftlichen Fortschritts war, oder ob in der konservativen Haltung der Klassiker nicht doch ein tieferer Sinn lag. Ließ sich diese Frage bejahen, war, eine strukturelle Ähnlichkeit von Sozialismus und Absolutismus vorausgesetzt, jene Haltung vielleicht auch in der sozialistischen Gegenwart anwendbar.

Daß dem Absolutismus das Nebeneinander zweier verschiedener Systeme der Produktion, des kapitalistischen und des feudalen, zugrunde liegt und sich daraus ein Konkurrenzkampf der beiden innerhalb ihres Systems herrschenden Klassen, Bourgeoisie und Adel, um die Vorherrschaft in der gesamten Gesellschaft ergibt, ist allgemein bekannt. Ebenfalls bekannt ist, daß der Kampf, von dem mit der Zeit immer deutlicher erkennbar wurde, daß er mit dem Sieg der Bourgeoisie enden mußte, für einen längeren Zeitraum unentschieden war und sich kraft dieser Unentschiedenheit eine dritte Macht, die Krone, etablieren konnte, die in einer relativen Selbstständigkeit gegenüber jenen beiden Klassen die Gesellschaft als ganze unter ihre Kontrolle nehmen, verwalten und entwickeln konnte. Hacks spricht vom „Miteinandersichabfinden“ der beiden Klassen. Die Frage nach der Beschaffenheit der Staatseinrichtung war demnach keine Nebenfrage, es ging um „Verwaltbarkeit aller Länder zum Nutzen des Bürgertums“, das „Verschwinden der Gesellschaft im Staat“ sei kein „weltfremdes Kathederparadox“, sondern „das Programm der lebendigsten Emanzipationsarbeit“, während berücksichtigt werden sollte, „ein wie grauenvolles und beengendes Zusammenwirken von Zwängen das Verschwinden des Staates in der Gesellschaft bedeuten würde“. Und also versteht man „von jenen Zeitläuften nichts, wenn man nicht verstanden hat, daß alle geistigen und politischen Kämpfe Abwandlungen eines Kampfes waren: des Kampfs für oder gegen den Staat“. Demnach war der Absolutismus eine Übergangsgesellschaft, in der eine alte Lebensweise sich mit einer neuen konfrontiert sieht, von der sie allmählich verdrängt wird, die Staatsmacht aber beschleunigt diesen Übergang nicht, sondern konserviert ihn. Warum tut sie das?

Eine folgenreiche Eigenschaft des absolutistischen Zeitalters war, daß sich zwischen dem Fortschritt der Produktivkräfte und dem Fortschritt der Gesittung ein Widerspruch abzeichnete. Die Form, in der der wissenschaftliche, technische und ökonomische Fortschritt in die Welt kam, war die des Kapitalismus. Dieser aber brachte, in seiner Art, jegliche gesellschaftliche Bewegung seiner Botmäßigkeit zu unterwerfen, einen Rückschritt der Sitten mit sich, an dem er noch heute kenntlich ist. Hacks schreibt: „Die freche Dummheit, mit der das Geld in seiner Kapitalform alle menschlichen Werte ausfror, und die Erbarmungslosigkeit, mit welcher es die Rechte und Tugenden der alten Ausbeuter, aber auch die der alten Ausgebeuteten, mißachtete, stellten den Hauptvorzug der Fabrikanten, die Verhundertfachung aller Erzeugung, in ein einigermaßen unheimliches Licht“. Die Frage, vor der der verantwortliche Mensch des 19. Jh. stand, war, welchem der beiden Fortschritte der Vorzug zu geben sei. Die Klassiker haben nie den Fortschritt der Produktivkräfte abgelehnt, sie wollten ihn nur nicht schnellstmöglich, also zum Preis der Barbarei. Hierin liegt denn auch der Grund, aus dem Leute wie Goethe, Hegel und Wieland kaum zögerten, einem Napoleon Bonaparte zu folgen, als dieser vermittels seiner Armee in Europa eine Staatsform ausbreitete, die Anlaß zur Hoffnung gab, daß in ihr sich beide Formen des Fortschritts vereinigen ließen. Doch solange diese Möglichkeit sich nicht bot, scheint es das Kennzeichen politischer Klugheit gewesen zu sein, sich auf seiten der Fürsten zu halten. Das Bestreben, den absolutistischen Zustand zu konservieren, ergibt sich demnach nicht allein aus der zunehmenden Schwächung des Adels und der vorläufigen Unreife des Bürgertums, sondern auch daraus, daß die große Alternative einer rein bürgerlichen Gesellschaft nur dann als erstrebenswert angesehen werden konnte, wenn man in Kauf zu nehmen bereit war, ein kräftig Maß von Errungenschaften wieder zu verlieren.

Der Widerspruch zwischen Fortschritt der Produktivkräfte und Fortschritt der Gesittung wird auch in der sozialistischen Gesellschaft bedeutsam bleiben. Er scheint sogar der eigentliche Grund zu sein, aus dem Hacks die Goethezeit immer wieder als Maskenspiel der Kämpfe seiner eigenen Zeit benutzen konnte. So, sagt Hacks, wie der Absolutismus konkurriert habe mit der bürgerlichen Revolution, die sowohl zu Cromwells als auch zu Robespierres Zeit eine „Übereilung und eine unkluge Vorwegnahme“ war, habe Ulbrichts Absolutismus mit einem „übereilten und vorweggenommenen Kommunismus“ konkurriert. Sozialismus und Absolutismus besitzen demnach ähnliche Formen der Entwicklung, und diese lassen sich, Hacks zufolge, auf Gemeinsamkeiten in ihrer gesellschaftlichen Struktur zurückführen. „Wir meinen beide“, schreibt André Müller 1971, „den Absolutismus erst über Shakespeare und konkret über Ulbricht begriffen zu haben.“ Und in der Tat wirkt das Modell, das Hacks zur Beschreibung der Klassenverhältnisse des Sozialismus benutzt, wie ein Abguß jenes den Absolutismus konstituierenden Verhältnisses zwischen Adel, Bourgeoisie und Krone: „Wenn der alte Absolutismus dadurch gekennzeichnet war, daß der Fürst die ausgleichende und regelnde Macht über den … Klassen Adel und Bürgertum bildete … so bildete Ulbrichts sozialistischer Absolutismus die ausgleichende und regelnde Macht über der … Klasse der Intelligenz (Forscher, Planer, Leiter) und der … Klasse des Parteiapparats.“

Diese Darlegung hat viele marxistisch geschulte Köpfe schütteln gemacht. Weniger aber, weil ein „sozialistischer Absolutismus“ die Restauration einer bereits überwundenen Geschichtslage zu beinhalten scheint, sondern mehr, weil Hacksens Gebrauch des Klassenbegriffs augenscheinlich von dem Marxens abweicht. Eine Klasse ist, bei Marx in der Sache, bei Lenin ausdrücklich, eine größere Gruppe von Menschen, die in einem geschichtlich determinierten System der gesellschaftlichen Produktion eine spezifische Stellung innehat. Betrachten wir die Gruppen, die Hacks im Absolutismus als Elemente des konstituierenden Widerspruchs auffaßt, so fallen sie eindeutig unter den Klassenbegriff. Die entsprechenden Gruppen der sozialistischen Gesellschaft hingegen, Parteiapparat also und Spezialisten, fallen nicht darunter. Im echten Sinne des Begriffs gab es im Sozialismus der DDR nur drei Klassen: Arbeiter, genossenschaftlich organisierte Produzenten und Privatproduzenten. Der Parteiapparat war unstreitig eine gesellschaftliche Größe, die wirkte und Anteil hatte an der gesellschaftlichen Bewegung, aber er läßt sich als Klasse nicht beschreiben, da seine Bestimmtheit in der Sphäre der Politik gewonnen wird. Die Parteileute besaßen weder eine einheitlich Stellung im Produktionsprozeß noch eine uneinheitliche, sondern gar keine. Die Spezialisten wiederum fallen augenscheinlich in die Sphäre der Ökonomie, nur sind auch sie als Klasse nicht begreifbar, da ihre Besonderheit nicht darin liegt, daß sie eine bestimmte Stellung im Produktionsprozeß einnahmen. Klasse sein, das heißt, sich von anderen Gruppen in seinem Verhältnis zu den Produktionsmitteln, im Anteil am erzeugten Reichtum sowie in der Art seiner Erlangung zu unterscheiden. Die Wirtschaftsleiter und Fachleute unterschieden sich darin nicht von den einfachen Arbeitern. Wie diese gaben sie ihre Arbeitskraft drein in ein größeres Unternehmen, an dem sie keinen anderen Gewinnanteil hatten als die anderen Arbeiter. Ebensowenig konnten sie Produktionsmittel ihr Eigen nennen, d.h. frei darüber entscheiden, wie und wofür sie eingesetzt werden sollen. Was „Forscher, Planer, Leiter“ – das ist heute nicht anders als damals – einzig von den anderen Arbeitern unterscheidet, ist die Art ihrer Tätigkeit, ihre Funktion innerhalb der Arbeitsteilung. Sie verrichten komplizierte, intelligentere Arbeiten, solche also, die besondere Begabung und Ausbildung erfordern. Sie sind unerläßlich für den Produktionsprozeß und in gewissem Sinne sogar die „Hauptproduzenten“ (Hacks), aber als Klasse sind sie nicht beschreibbar.

Es ist immer ein Fehler, einen Begriff, der von aller Welt für eine ganz bestimmte Sorte von Sachverhalten verwendet wird, für eine andere Sorte zu verwenden. Hacks hätte vielleicht besser daran getan, seine „Klassen“ unter einem anderen Begriff zu fassen. Insofern trifft die Kritik, die z.B. Kurt Gossweiler am Klassenbegriff von Hacks geäußert hat. Aber er und andere Kritiker haben den Fehler gemacht, den Fall damit als erledigt zu betrachten. Jede Theorie hat ihre Wahrheit in ihrem Inhalt, nicht an ihrer sprachlichen Oberfläche. Wenn die Gruppen, deren Kampf Hacks als konstituierend für die Bewegung des Sozialismus beschreibt, keine Klassen sind, dann heißt das nicht, daß sie nicht konstituierend für die Bewegung sein können, sondern eben nur, daß sie keine Klassen sind. Die Frage ist, ob der Hackssche Klassenbegriff einen Gehalt besitzt, der auf die eine oder andere Weise Wirklichkeit bezeichnet.

Man sieht mit ziemlicher Deutlichkeit, wofür Hacks sich bei seinem Klassenmodell interessiert: Als Klasse faßt er solche Gruppen, die auf die Bewegung der Gesellschaft eine Auswirkung haben; sein Begriff ist demnach eigentlich politisch. Der des Marxismus ist hingegen, wenn auch nicht ohne politische Implikationen, ökonomischer Natur. Marxisten, wenn sie nach den Klassen einer Gesellschaft forschen, untersuchen den Produktionsprozeß derselben und ermitteln darin die Gruppen von unterschiedlicher Stellung. Aus den hierbei gewonnenen Kenntnissen versuchen sie, da es zu ihren grundlegenden Überzeugungen gehört, daß jede geschichtliche Bewegung sich auf Kämpfe von Klassen zurückführen läßt, sodann die Bewegungen der Gesellschaft zu erklären. Hacks verfährt umgekehrt. Er beobachtet die Bewegung der Gesellschaft, ermittelt, von welchen gesellschaftlichen Gruppen sie verursacht wird, und diejenigen, die er bei diesen Umständen in flagranti ertappt, faßt er sodann als die Klassen dieser Gesellschaft auf. Was immer man diesem Verfahren vorwerfen kann, die Anklage, daß es nichts mit der untersuchten Wirklichkeit zu tun habe, zählt nicht dazu. Mehr noch ist dieses Verfahren im Fall des Sozialismus, dessen begriffliche Erfassung auch heute noch weitgehend unerledigt ist, gegenüber dem marxistischen von einigem Vorteil. Erklärt denn das Modell der wirklichen Klassen des Sozialismus die Bewegung dieser Gesellschaft auch nur annähernd so gut wie der Widerspruch von Partei und Wirtschaftsleitung?

Der Sozialismus hat, wie Hacks richtig bestimmt, mit dem Absolutismus gemein, daß er nicht spontan entsteht, sondern gemacht werden muß. Dieser wie jener halten gegenläufige Kräfte im Gleichgewicht und vermitteln sie so zu einer gesellschaftlichen Bewegung, die den Fortschritt bei geringstmöglichem Schaden für das zivilisierte Leben durchsetzt. (Wir sprechen, wohlgemerkt, von der Regel, nicht von den Abweichungen.) Worin aber der Sozialismus sich vom Absolutismus unterscheidet, ist, daß sich seine Macht nicht aus einem bereits vorhandenen Gleichgewicht der Kräfte ergibt, sondern dieses Gleichgewicht erst das Resultat seiner Macht ist. Im Anfang des Sozialismus besaß der Parteiapparat im großen und ganzen die vollständige Macht über die Gesellschaft (anders war die Revolution ja auch nicht zu haben gewesen), aber mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft wurden Staatsorgane, in der DDR der Staatsrat, geschaffen, denen die Macht verliehen war, über die Entwicklung der Gesellschaft zu bestimmen. Nur diesen Organen war es gegeben, den Einfluß der Partei auf die wirtschaftliche Entwicklung in gewissen Grenzen zu halten und mehr oder weniger eine Rechtsgleichheit zwischen Parteileuten und Wirtschaftleitern herzustellen. Die Grundüberzeugung der Periode des Neuen Ökonomischen Systems, das als die am weitesten entfaltete Form der sozialistischen Gesellschaft gelten darf, bestand darin, daß der Sozialismus sich nur dann im Kampf der Systeme wird behaupten können, wenn er seine Produktivkräfte hinreichend entwickelt, und daß aber hierzu ein Fachpersonal notwendig sei, das man natürlicherweise selten in den Reihen des Parteiapparats finde und dessen Tätigkeit in dem Maße effizienter sein werde, in dem es von den Einflüssen des Parteiapparats befreit sei. Diese Freiheit aber mußte durchgesetzt werden und konnte es freilich nicht, wenn die Staatsmacht gegenüber dem Parteiapparat nicht eine relative Selbstständigkeit besaß. So wie also das Königtum sich von seiner Wurzel, dem Adel, emanzipierte und seine Macht über ihn stellte, mußte die Staatsmacht des Sozialismus sich aus dem Einfluß der Partei herausbringen. Auf der anderen Seite enthielt die Befreiung der Produktion die Gefahr des Mißbrauchs. Die Wirtschaftsleute verstanden viel von Naturwissenschaft, Maschinen, Rechnungsführung und Organisation. Aber wie sollte man ihnen beibringen, daß es nicht im Interesse der Bevölkerung liegen konnte, alles dem Prinzip der Rentabilität unterzuordnen? So wichtig ihr Können für die Leistung der Wirtschaft war, so wenig konnte man von ihnen erwarten, daß sie über diese Frage hinaus an das Wohl der Gesellschaft dachten. Es war daher ebenso unmöglich, den Einfluß der Partei gänzlich zu tilgen, wie es notwendig war, ihn in Grenzen zu halten. Die Partei war das notwendige Gegengewicht zu den Wirtschaftsleuten, und der Widerspruch zwischen Apparat und Spezialisten war der Gesellschaftsform daher insofern wesentlich, als ein einseitiges Abhandenkommen seines Gleichgewichts früher oder später ihren Untergang bedeuten mußte. Er war im wahrsten Sinne konstituierend für die Politik des Sozialismus und von einer solch durchgreifenden Bedeutung, daß ihn jeder, der am Produktionsprozeß beteiligt war, auch dann aus unzähligen einzelnen Begebenheiten kannte, wenn er ihn als solchen begrifflich nicht erfaßt hatte.

Die Ähnlichkeit von Sozialismus und Absolutismus liegt, um es zusammenzufassen, in der Ähnlichkeit der Konfiguration ihrer gesellschaftlich wirkenden Kräfte. Daß diese Kräfte nicht denselben begrifflichen und historisch-konkreten Inhalt haben, ist eine Binse, die niemand bezweifelt. Sozialismus, sagt Hacks, „ist die Vergesellschaftung der Erzeugung bei zwei Bedingungen: Staatsmacht und Produktivität“. Wir haben darin die nämliche Dreiheit, von der wir oben sprachen: Für die Vergesellschaftung steht die Partei, für die Produktivität stehen die Wirtschaftsleute und zwischen beide tritt die Staatsmacht. Es ist sinnlos, den Sozialismus zu definieren, indem man ihn auf eines dieser drei Elemente beschränkt. Sie alle waren notwendig für sein Fortbestehen, und die Gründe seiner Niederlage müssen jedenfalls in der Vernachlässigung des einen oder anderen dieser Elemente gesucht werden. Da aber das sozialistische Machtgefüge künstlich von der Staatsmacht aufrecht erhalten wird, lassen sich alle Fehler und Niederlagen letztlich auf den falschen Gebrauch, wenn nicht sogar die Rücknahme der Staatsmacht zurückführen. Hacksens Theorie der strukturellen Ähnlichkeit von Absolutismus und Sozialismus führt also auf nichts Geringeres als auf das Lebensproblem der sozialistischen Gesellschaft. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, daß alle Überlegungen, die Hacks zur Politik und Geschichte unternimmt, sich auf dieses Problem zurückführen lassen. Zugleich aber weisen sie darüber hinaus, in den Bereich der Verallgemeinerungen und Ideale, und sind so auch stets Bestimmungen des Verhältnisses von Notwendigkeit und Freiheit. Freiheit, wie sie sich als absolut setzt, bedeutete Peter Hacks nichts. Sie war, um eines seiner Worte über Goethe auf ihn selbst anzuwenden, ihm „immer nur als ein Mittel zur Ausdehnung des Menschlichen im Menschen, nie als ein Zweck ihrer selbst, wichtig gewesen.“

zuerst in: junge Welt v. 21. Juni 2008.

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